Stillstand im kurdischen Friedensprozess
Die Kommunalwahlen in der Türkei gelten als Volksabstimmung über die Zukunft Erdogans. Punkten wollte der Ministerpräsident mit Fortschritten im kurdischen Friedensprozess. Aber seit dem Waffenstillstand am 21. März 2013 ist wenig passiert.
Markt in Sur, dem historischen Kern der Kurdenmetropole Diyarbakir – im Südosten der Türkei. "Wir sind Kurden", sagt der Gemüsehändler Osman, der sich als Anhänger des PKK-Chefs Abdullah Öcalan zu erkennen gibt. Osmans Türkisch ist nicht perfekt. Seine Muttersprache ist der kurdische Dialekt Kurmanci. Mit den Fremden spricht er Türkisch:
"Wir werden frei sein. Abdullah Öcalan ist wichtig und gut, und wir werden frei sein."
Frei sein, Frieden, Selbstbestimmung, Arbeit – das ist es, was viele Menschen in Diyarbakir umtreibt. Der Kommunalwahlkampf spielt im Stadtbild und im Leben der Menschen keine große Rolle.
"In Diyarbakir hat die lokale Bevölkerung nicht die gleichen Prioritäten wie die türkische öffentliche Meinung. Die Priorität hier ist das wirtschaftliche Überleben" , stellt der Politikwissenschaftler Murat Bayraktar nüchtern fest.
"Nach dem Ende des bewaffneten Konflikts, sind die sozialen Fragen wie Armut und das Wohnungsproblem der vertriebenen Landbevölkerung an die Oberfläche gekommen. Diyarbakir durchlebt eine lang anhaltende wirtschaftliche und soziale Krise."
Seit März 2013 schweigen die Waffen
Seit dem 21. März 2013 schweigen die Waffen. Damals hat PKK-Chef Abdullah Öcalan seiner Bewegung aus dem Gefängnis heraus die Feuereinstellung verordnet. Die Waffenruhe hält. Noch. Aber der erhoffte Friedensprozess ist nicht wirklich in Gang gekommen.
Die positiven Veränderungen, erklärt der Menschenrechtler Raci Bilici, bestünden im Wesentlichen darin, dass es gegenwärtig keine Kriegshandlungen zwischen der türkischen Armee und den Untergrundkämpfern der PKK mit Toten und Verletzten gebe:
"Trotz des Waffenstillstands sind die Soldaten weiterhin in der Region, funktioniert das System der Dorfschützer noch. Beides ist für den Krieg geschaffen. Die Spezialkommandos sind auch noch hier. Neue Gendarmerie-Posten werden gebaut, Soldaten werden an die Grenze verlegt. Auf der anderen Seite haben die Guerillas ihren Rückzug in den Irak gestoppt und verharren in ihren Stellungen."
Frieden auf sehr wackeligen Beinen
Frieden in den Kurdengebieten – er steht noch auf sehr wackeligen Beinen. Der Ausgang der Kommunalwahlen wird den weiteren Friedensprozess erheblich beeinflussen. Drei Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle: Stellung und Haltung von Regierungschef Erdogan; dessen Auseinandersetzung mit der Cemaat genannten Gülen-Bewegung und das Abschneiden der kurdischen Kandidaten.
Seit 15 Jahren ist das Rathaus der Millionenstadt Diyarbakir in den Händen kurdischer Bürgermeister. Als die kurdische Bewegung 1999 erstmals das Rathaus übernommen habe, erinnert sich Fırat Anlı, habe es allenthalben geheißen, die Kurden könnten keine Stadt regieren:
"Aber in diesen 15 Jahren ist es trotz Krieg und Vertreibungen gelungen, Diyarbakir zu einer normalen Stadt zu machen, die eben nicht einer lateinamerikanischen oder nahöstlichen Stadt gleicht, sondern ein weitaus moderneres Erscheinungsbild hat."
In nicht einmal 100 Jahren ist die Einwohnerzahl Diyarbakirs um mehr als das 30-fache gestiegen. Es gibt Gecekondu genannte Armenviertel, in denen Arbeitslosigkeit und Kinderreichtum herrschen. Hunderttausende kurdische Landbewohner sind in den 90er-Jahren vom türkischen Militär und paramilitärischen Gruppen aus ihren Dörfern und Weilern vertrieben worden. Viele sind in der Hoffnung nach Diyarbakir gekommen, dort etwas Besseres zu finden als den Tod.
Mehr als 40.000 Tote
"Unser Projekt ist die demokratische Autonomie", erklärt Fırat Anlı. Er ist der männliche Bürgermeisterkandidat der kurdischen Barış ve Demokrasi Partisi – kurz BDP.
"Wir wollen weniger zentrale Entscheidungen und mehr Kompetenzen für die lokalen Verwaltungen. Die lokalen Parlamente müssen mit Entscheidungsgewalt ausgestattet werden."
Genau damit tut sich die Zentralregierung in Ankara schwer – nicht nur, aber vor allem in den Kurdengebieten. In den vergangenen 30 Jahren hat der Konflikt in den türkischen Kurdengebieten mehr als 40.000 Tote gefordert. Die Partiya Karkerên Kurdistan - kurz PKK - ist der militärische Arm des "Kurdische Bewegung" genannten Widerstands gegen die als Unterdrückung und Bevormundung empfundene Politik der Zentralregierung in Ankara.
Die Partei BDP ist deren politischer Arm auf nationaler und regionaler Ebene. Gegen beide Flügel dieser "Kurdischen Bewegung" ist der türkische Staat in der Vergangenheit massiv vorgegangen, erläutert der Politikwissenschaftler Murat Bayraktar:
"Das wichtigste Jahrzehnt waren die 90er-Jahre. Entsprechend den Statistiken waren die politischen Verbrechen, Massaker, die erzwungene Migration, die Instrumentalisierung der Justiz, Massenhinrichtungen und gewaltsame Entvölkerung von Dörfern weit schlimmer als das, was nach dem Militärputsch von 1980 gemacht worden war."
Parallelstrukturen im türkischen Staat
Verantwortlich dafür, so Murat Bayraktar, sei der so genannte Tiefe Staat. Dabei handle es sich um von nationalistischen und zunehmend auch islamischen Kräften geschaffene Parallelstrukturen im türkischen Staat jenseits parlamentarischer oder verfassungsrechtlicher Kontrolle. Wesentlicher Bestandteil des so genannten Tiefen Staates ist nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Bayraktar die Cemaat genannte Gülen-Bewegung.
"Meiner Meinung nach ist Cemaat eine esoterische paramilitärische Organisation innerhalb der herrschenden Elite. Es ist so etwas wie der harte Kern des Tiefen Staates. Für sie bedeutet die kurdische Frage zunächst einmal ein Sicherheitsthema und zweitens: sie, die Kurden, müssen türkifiziert werden. Sie haben ein Programm zur Türkifizierung der Kurden durch ein islamisches Instrumentarium."
"Die Politik der Cemaat basierte auf der physischen und politischen Zerstörung der politischen Kader der kurdischen Bewegungen. Die Cemaat erwartete von der (Regierungspartei) AKP, ein Eingreifen durch militärische und paramilitärische Kräfte. Dadurch sollte die politische Bewegung der Kurden zerstört werden."
Die herrschende AKP von Regierungschef Erdogan und die Gülen-Bewegung fechten derzeit einen knallharten Machtkampf aus. Täglich landen neue die AKP, den Ministerpräsidenten, dessen Regierung oder Familie diskreditierenden Ton- und Videoaufnahmen im Internet. Aus den einstigen Alliierten sind erbitterte Widersacher geworden. Gemeinsam haben die AKP und die Gülen-Bewegung als islamisch-konservative Strömungen den Einfluss säkularer und kemalistischer Kräfte zurückgedrängt.
Kampf gegen den so genannten Tiefen Staat
Den Höhepunkt ihrer Kooperation bildete der Rücktritt des gesamten Generalstabs im Juli 2011 und damit verbunden die faktische Unterordnung des über Jahrzehnte allmächtigen türkischen Militärs unter demokratische Kontrolle. Unter dem Stichwort Ergenokon führten die AKP und die Gülen-Bewegung einen Kampf gegen den so genannten Tiefen Staat. Dieser Tiefe Staat besteht nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Bayraktar noch immer. Aber in anderer Zusammensetzung.
"Der harte Kern des neu strukturierten Tiefen Staates war die Cemaat. Die AKP ist mit der paramilitärischen Struktur des Tiefen Staates nicht mehr einverstanden. Erdogans Ringen um Macht wird entschieden durch einen Sieg über die Cemaat. Gelingt das nicht, wird er ziemlich eindeutig verlieren."
Die erbitterte Auseinandersetzung der verfeindeten Brüder kann je nach Fortgang und Ausgang auch einen erheblichen Einfluss auf den Friedensprozess mit den Kurden haben, stellt Raci Bilici fest, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir:
"Die Anhänger von Fethullah Gülen wollen keine Lösung der Kurdenfrage. Wenn die Cemaat stark genug ist, wird sie alles unternehmen, um den Prozess zu torpedieren. Das macht sie hier in der Region schon seit Jahren."
Verhaftungswelle nach Kommunalwahlen 2009
Als Beispiel nennt Raci Bilici die massive Verhaftungswelle nach den Kommunalwahlen im Frühjahr 2009. Damals hatte die Cemaat genannte Gülen-Bewegung noch viele einflussreiche Posten im Justizapparat inne. Damals wurden auf ihr Betreiben hin Tausende kurdische Kommunalpolitiker inhaftiert, die Teil der von Ankara als illegal angesehenen Koma Civakên Kurdistan – kurz KCK – waren. Die Folgen dieser massiven Verhaftungswelle sind noch nicht überwunden. Deshalb, warnt Gültan Kışanak, die weibliche BDP-Spitzenkandidatin für Diyarbakir, dürfe sich niemand von der gegenwärtigen Waffenruhe täuschen lassen:
"Auch die Kommunalwahlen von 2009 fanden in einer Phase statt, als die Waffen ruhten. In Oslo wurden damals Verhandlungen geführt. Dennoch kam es gleich nach den Wahlen unter dem Namen KCK-Operation zu einer Verhaftungswelle gegen unsere lokalen Politiker. Die Friedensinitiative ist wichtig und muss geschützt werden. Aber wir können sie nur mit der Kraft des Volkes schützen. Wir haben gelernt, dass wir der Regierung nicht trauen können."
Gültan Kışanak, 52 Jahre ist sie alt, sie hat Kommunikationswissenschaften studiert und als Journalistin gearbeitet. Sie ist alevitische Kurdin. Gemeinsam mit Salahettin Demirtaş ist sie die Vorsitzende der kurdischen Partei BDP und außerdem deren weibliche Spitzenkandidatin für das Bürgermeisteramt in Diyarbakir.
Die Chancen für Gültan Kışınak sind gut
Konsequent besetzt die BDP Spitzenämter mit jeweils einem Mann und einer Frau. In den wertkonservativen und patriarchal geprägten Kurdengebieten ist das eine mutige politische Botschaft. Die Chancen für Gültan Kışınak sind gut, zur Rathauschefin in der Kurdenmetropole gewählt zu werden. Was sagt das Volk dazu? Stimmen aus Diyarbakir:
"Sie ist eine Frau, die dem Volk schon gedient hat. Sie ist progressiv eingestellt und hat viele gute Sachen gemacht. Ich finde es gut, dass sie Spitzenkandidatin ist und sich hier einbringen kann."
"Als Frau finde ich das super. Wir sind aber auch mit der derzeitigen Verwaltung sehr zufrieden."
"Hauptsache BDP. Es ist macht keinen Unterschied, ob Mann oder Frau. Selbst wenn sie einen Tisch als Kandidaten aufstellten, der würde gewählt."
"Es wäre sehr schön, eine Bürgermeisterin zu haben. Das ist eine gute Idee. Ich würde mich freuen."
"Die Wahlen sind wichtig auf der lokalen Ebene und auch für die gesamte Türkei. Es ist unsre Aufgabe, wählen zu gehen. Gerade jetzt mit dieser ganzen Korruption und dem Parallelstaat ist es wichtig, darauf eine entsprechende Antwort zu geben."
Genau darauf setzt und hofft auch ein neuer politischer Akteur: die Hür Dava Partisi – kurz Hüda Par. Vergangenes Jahr ist die neue kurdische Islamistenpartei gegründet worden. In 48 von 81 türkischen Provinzen ist sie bereits vertreten, in 13 Provinzen im Osten tritt sie zur Wahl an.
Gegen die falsche Umsetzung des Laizismus
Wir sind gegen die falsche Umsetzung des Laizismus, deklariert der Spitzenkandidat für die Provinz Batman, Aydın Gök:
"Die Republik Türkei wurde auf zwei Säulen gegründet: Laizismus und Nationalismus. Unter dem Laizismus haben die gläubigen Türken gelitten und die gläubigen Kurden haben sowohl unter dem Laizismus als auch unter dem Nationalismus gelitten."
In der 400.000 Einwohner zählenden Retortenstadt Batman beschallt die Hüda Par ganze Straßenzüge mit hymnischen Gesängen auf den Propheten Mohammed. Niemand in der von frommen Sunniten geprägten neuen Partei wirbt offen für die Einführung der Scharia – des Islamischen Rechts. Doch offen wird die seit Gründung der Republik geltende laizistische Staatsdoktrin abgelehnt.
Muslime brauchen keinen Laizismus, sagt Hüda Par-Spitzenkandidat Aydın Gök unmissverständlich:
"Für uns ist der Islam ein Lebensmodell. Für uns sind Religion und Staat nicht zu trennen. Sie sind als ein Lebensmodell anzusehen."
"Die PKK sorgt noch für ein gewisses Gleichgewicht"
Männer mit vollen Bärten und Gebetsketten umgeben den graubärtigen Aydın Gök bei seinem Wahlkampf in Batman. Dreieinhalb Jahre war der Bürgermeisterkandidat im Knast. "Wegen seiner islamischen Weltanschauung", verkündet seine Homepage. Wegen Mitgliedschaft in der kurdisch-sunnitischen Hizbullah, hieß es damals vor Gericht.
In den blutigen 90er-Jahren hatte der Staat die extremistische Untergrundgruppierung Hizbullah zur Bekämpfung der von Ankara als Terrororganisation angesehen PKK gefördert. Als die Macht der islamistischen Hizbullah jedoch stark anwuchs, wurde sie vom Staat verboten und bekämpft. Die Wunden von damals seien nicht vergessen, resümiert Fırat Anlı. Radikal-islamische Gruppen, mahnt der gemäßigte BDP-Mann, würden in der Region immer stärker - Al-Kaida, Al-Nusra und auch andere Gruppierungen.
"Wenn die PKK ihre Stellungen in den irakischen Kandil-Bergen nicht halten würde, dann würde die ganze Gegend unter den Einfluss radikal-islamischer Gruppen geraten. Die PKK sorgt noch für ein gewisses Gleichgewicht."
Aydın Gök von der islamistischen Hüda Par sieht das naturgemäß anders. Für ihn und seine Mitstreiter ist die säkulare BDP eine von marxistisch-leninistischer Ideologie durchwirkte gottlose Organisation. Batman und der kurdische Osten sollen nur das Sprungbrett für eine Bewegung sein, die in der islamisch-konservativen AKP einen korruptionsverseuchten Ableger des laizistischen Systems sieht.
"Laizismus wurde in der Türkei als Kampf gegen Religion verstanden, als Kampf gegen religiöse Werte und die Verbreitung von Gottlosigkeit. Dagegen wenden wir uns."
Zum Referendum über seine Regierungspolitik erklärt
Recep Tayyip Erdogan hat die Kommunalwahlen zum Referendum über seine Regierungspolitik erklärt. Mindestens 38,5 Prozent, so hat er wissen lassen, möchte der 60-Jährige landesweit einfahren. In den vergangenen zwölf Jahren hat Erdogan seine Ergebnisse von Wahl zu Wahl steigern können. Bei der Parlamentswahl im Juni 2011 kam die AKP auf fast 50 Prozent. Aber niemals zuvor sahen sich die selbsternannten Saubermänner der AKP derart heftigen Vorwürfen von Korruption, Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit ausgesetzt.
Erdogans politische Zukunft, analysiert Murat Byraktar, hänge nicht entscheidend vom Ausgang der Kommunalwahlen ab. Wichtiger noch sei, wie der Machtkampf mit der Cemaat genannten Gülen-Bewegung ausgehe .Nach den Kommunalwahlen werde die AKP-Elite wahrscheinlich eine neue Runde in ihrem Kampf mit der Cemaat einleiten, erwartet der Politikwissenschaftler:
"Sie werden sie auf massive Weise kriminalisieren. Sie werden die gleichen Methoden anwenden wie immer. Ich nenne das die Überinstrumentalisierung der Justizgewalt."
Wie nach den Kommunalwahlen von 2009 könnte es zu einer massiven Verhaftungswelle kommen. Dieses Mal aber würde sie sich wohl gegen die Anhänger der Gülen-Bewegung richten und damit jene treffen, die vor fünf Jahren noch Schlüsselpositionen in der türkischen Justiz inne hatten und gegen kurdischen Politiker zu Felde zogen.