Zündeln im Mittelmeer
28:39 Minuten
Der Streit um Bodenschätze im östlichen Mittelmeer zwischen den Nachbarländern Türkei und Griechenland ist wieder voll entbrannt. Beobachter befürchten am Ende eine Katastrophe zwischen beiden Nato-Partnern. Und Ankara drohen EU-Sanktionen.
"Die Türkei wird sich im Mittelmeer, im Ägäischen Meer und im Schwarzen Meer nehmen, worauf sie ein Recht hat. Wir stellen keinerlei Ansprüche auf das Territorium, die Hoheitsgebiete oder die Interessen anderer Länder. Wir sind aber zu keinerlei Zugeständnissen bereit, wenn es um das geht, was uns gehört."
Der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan will nicht nachgeben. Die Türkei habe die längste Küstenlinie im östlichen Mittelmeer. Deshalb stehe ihr auch ein entsprechend großes Seegebiet zu, samt den Rohstoffen unter dem Meeresgrund.
"Eine Politik der Kanonenboote"
"Die Türkei agiert, als wäre sie im 19. Jahrhundert - mit einer Politik der Kanonenboote", klagt Griechenlands Außenminister Níkos Déndias.
Griechenland beruft sich auf das internationale Seerecht und beansprucht rund um seine vielen Inseln im Mittelmeer dieselben Seegebiete, die auch die Türkei als ihre Wirtschaftszone ansieht.
Seitdem unter dem Boden des östlichen Mittelmeers Öl- und Gasvorkommen vermutet werden, rücken im Streit um Rohstoffe Kriegsschiffe aus. Im August kreuzte das türkische Forschungsschiff "Oruc Reis" weit südlich der griechischen Inseln Rhodos und Kastelórizo, begleitet von Schiffen der türkischen Marine.
Sofort alarmiert, nahmen griechische Fregatten Kurs auf die vermeintlichen Eindringlinge – ein griechisches Kriegsschiff kollidierte mit einem türkischen Kriegsschiff.
"Ein Spiel mit dem Feuer"
"Die aktuelle Lage im östlichen Mittelmeer ist auf jeden Fall mittlerweile ein Spiel mit dem Feuer und jeder noch so kleine Zündfunke kann zu einer Katastrophe führen. Daran kann niemand ein Interesse haben." Bundesaußenminister Heiko Maas versuchte zu vermitteln – bislang ohne Erfolg.
Einer der Orte, an dem ein solcher Zündfunke einen militärischen Schlagabtausch auslösen könnte, sind die Gewässer zwischen der griechischen Insel Kastelórizo und dem türkischen Küstenort Kas. Hier liegen zwischen den beiden Ländern nicht einmal zwei Kilometer.
Seit Monaten schon läuft dort keine Fähre mehr aus – wegen Corona ist die Grenze dicht, auch die Seegrenze.
Auf dem oberen Deck des türkischen Tauchschiffs "Natura Blue" haben die Ersten ihr Handtuch ausgebreitet. Sie liegen entspannt in der Sonne, genießen Urlaubsfeeling am Mittelmeer. Yusuf Sulekoglu steuert mit seinem Boot den Tauchpunkt an. Der liegt ganz in der Nähe der griechischen Grenze.
Er zeigt Richtung Meis, wie Kastelórizo auf Türkisch heißt: "Schauen Sie, bis zur Grenze sind es so 300 bis 400 Meter. Wir haben sogar eine Stelle, wo wir tauchen, die liegt nur 100 Meter von der Grenze weg. Manchmal, wenn Sturm ist, der Wind von Westen kommt, suchen wir Schutz bei Meis. Das war bis jetzt nie ein Problem. Aber ich fürchte, mit der Toleranz ist es jetzt vorbei."
Wenn man beim Schwimmen ein Kriegsschiff sieht
Der Wind spielt mit seinen grauen Haaren. Er ist nachdenklich. Von Deck aus kann man ein türkisches Kriegsschiff in der Bucht von Kas sehen. Früher kam es nur ab und zu mal vorbei. Jetzt ist es schon seit mehreren Monaten konstant da. Gamze und ihr Mann Akhun aus Istanbul machen seit Jahren Tauchurlaub hier.
Klar haben sie mitgekriegt, dass es gerade Streit zwischen Griechenland und der Türkei gibt, meint die 28-Jährige: "Das fühlt sich wirklich ein bisschen komisch an, wenn man beim Schwimmen ein Kriegsschiff sieht. Da wird einem schon mulmig. Aber sonst ist alles gleichgeblieben."
Die angespannte Stimmung ist allerdings durchaus zu spüren und zu beobachten. Auch auf griechischer Seite patrouilliert seit einiger Zeit ein Kriegsschiff. Und manchmal begegnen sich zwei der Marineschiffe. Dann stehen sie sich sozusagen Nase an Nase mit ihrem Bug gegenüber – eine Weile, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Es wirkt wie eine Kraftprobe. Yusuf Sulekoglu hat auch schon Hubschrauber und Kampfflugzeuge in der Luft gesehen, erzählt er.
Plötzlich wird er von einem Funkspruch der griechischen Küstenwache unterbrochen: "Verlassen Sie griechisches Gebiet – sofort!" Schallt es aus dem Funkgerät. Die Warnung gilt nicht seinem Tauchschiff, sondern der türkischen Küstenwache, erklärt Sulekoglu.
Er schüttelt ratlos den Kopf: "Früher haben die EU, die Türkei und Griechenland wegen der illegalen Migration vom Festland nach Meis zusammengearbeitet. Die Küstenwachen haben ganz normal miteinander geredet. Das ist jetzt vorbei."
Türkisches Forschungsschiff verschärft die Lage
Vom Tauchschiff aus kann man sogar die kleinen Häuser am Hafen von Kastelórizo erkennen. Manch einer vermutet, dass die Grenze wegen des angespannten türkisch-griechischen Verhältnisses immer noch dicht ist. Vor allem wegen der "Oruc Reis" verschärft sich die Lage in den letzten Wochen noch mehr.
Das türkische Forschungsschiff untersuchte bis Mitte September den Meeresboden in Sachen Erdgas - in einem Gebiet, das sowohl Athen als auch Ankara für sich beanspruchen. Vom Tauchschiff aus konnte man das allerdings nicht sehen. Es ist zu weit weg.
"Ich unterstütze Erdogans Politik in weiten Teilen nicht. Aber in dieser Sache denke ich, hat er nicht ganz unrecht. Ich denke, wir dürfen nicht schweigen, wenn es drum geht, was uns zusteht und was nicht."
Gamze und ihr Mann Akhun sind vom Tauchgang aus dem türkisblauen Wasser zurück. Sie sitzen in ein Handtuch gehüllt in Bikini und Badehose im Schatten und hören Yusuf Sulekoglu zu.
Akhun ärgert sich. Dass die kleine Insel Kastelórizo, die knapp 600 Kilometer weit weg vom griechischen Festland liegt, aber direkt vor der türkischen Küste, so eine große Wirtschaftszone beansprucht.
Das geht gar nicht, meint er: "Griechenland weiß das eigentlich. Aber man vermarktet sich besser als die Türkei. Es sieht also erst mal so aus, als hätte Griechenland gute, plausible Argumente. Aber das ist nicht so. Und trotzdem: Es gelingt ihnen wunderbar, ihre Argumente zu verkaufen. Natürlich auch mit der Europäischen Union im Rücken."
"Wir haben eine schlechte Regierung"
Deutschland versucht im Konflikt zu vermitteln. Akhun glaubt, Kanzlerin Merkel würde sich gerne auf die Seite der Türkei stellen und ihr recht geben. Aber sie könne nicht, weil Griechenland EU-Mitglied ist.
"Unser größter Schwachpunkt ist: Wir haben eine schlechte Regierung, der keiner recht geben will, selbst wenn sie recht hat. Ehrlich gesagt, wir leiden darunter."
Nach der Sommersaison hat Tauchlehrer Yusuf normalerweise Zeit, sich auf Kastelórizo in die Taverne zu setzten. Aber es sieht nicht so aus, als würden die Grenzen, die wegen Corona seit März dicht sind, dieses Jahr rechtzeitig wieder aufgemacht.
Dabei würde er gerne bei einem Ouzo von seinen griechischen Bekannten hören, wie sie den ganzen Erdgasstreit sehen – ob sie nachvollziehen können, dass Türken es unfair finden, dass Griechenland für die winzige Insel Kastelórizo, die gerade mal neun Quadratkilometern misst, 40.000 Quadratkilometer Seefläche beansprucht - ein Gebiet so groß wie die ganze Schweiz.
Die Türkei weiß, dass Kastelórizo das schwächste Glied in den Rechtsansprüchen der Griechen ist, sagt Konstantinos Filis vom Institut für Internationale Beziehungen der Pantion-Universität Athen.
Aus griechischer Sicht gehört das offene Meer südlich der Insel Kastelórizo zur sogenannten "Ausschließlichen Wirtschaftszone" Griechenlands.
Ist das Wasser um die Insel griechisch oder türkisch?
Die Türkei aber spricht der Mini-Insel dieses Recht ab und definiert das Meeresgebiet südlich der Insel als türkisch. So sieht sich die Türkei im Recht, südlich von Kastelórizo nach Erdgasvorkommen zu forschen.
Genau das aber ist illegal, sagt Konstantinos Filis von der Pantion-Universität Athen: "Warum ist das illegal? Weil kein Staat ein Seegebiet für seismische oder irgendwelche anderen Forschungen nutzen darf, wenn das betreffende Gebiet noch nicht abgegrenzt ist, wenn die Seegrenzen dort noch nicht definiert sind. Das könnte entweder durch ein bilaterales Abkommen der Nachbarstaaten geregelt werden oder durch ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs."
Im östlichen Mittelmeer haben sich die Nachbarstaaten Griechenland und Türkei bislang aber nicht auf Seegrenzen geeinigt, weder durch bilaterale Abkommen noch durch Urteile des Gerichtshofs. Die Seegrenzen sind umstritten. Und in umstrittenen Gebieten dürfe nicht geforscht werden.
"Was die Türkei also getan hat, ist illegal nach dem Seerecht", so Konstantinos Filis. Nach internationalem Seerecht haben auch Inseln einen eigenen Festlandsockel und können vor ihrer Küste eine "Ausschließliche Wirtschaftszone" von 200 Seemeilen beanspruchen, es sei denn, innerhalb dieser 200 Seemeilen finden sich Ansprüche von einem anderen Land. Dann müssen sich die Nachbarn einigen.
Inseln mit Festlandsockel – ja oder nein?
Die Türkei aber hat das internationale Seerechtsabkommen nicht unterzeichnet, fühlt sich also auch nicht an Bestimmungen dieses Abkommens gebunden.
Aus Sicht der Türkei haben die griechischen Inseln im östlichen Mittelmeer gar keinen Festlandsockel und somit nicht das Recht auf eine Wirtschaftszone im Meer, also auch nicht auf die Rohstoffe unter dem Meeresboden. Nein, aus türkischer Sicht liegen die meisten griechischen Inseln auf dem türkischen Festlandsockel. Somit sei das Meer rund um diese Inseln türkisch.
Konstantinos Filis: "Die Türkei spricht sogar der Insel Kreta das Recht auf einen eigenen Festlandsockel und auf eine Ausschließliche Wirtschaftszone ab. Kreta ist die fünftgrößte Insel im Mittelmeer. Die Türkei gesteht Kreta nur sechs Seemeilen Hoheitsgewässer rund um die Insel zu."
Nicht nur zur See kommen sich die Türkei und Griechenland ins Gehege. Auch in der Luft gibt es Ärger. Hier die Funksprüche zwischen den Piloten zweier griechischer Militärjets, die einen türkischen Kampfjet aus dem griechischen Luftraum verjagen wollen: "Pass auf, hinter dir!" – "Ich werde den Bastard zerreißen!", so die Funksprüche der griechischen Piloten, veröffentlicht von einem Fernsehsender in Athen.
Immer wieder verletzen türkische Kampfjets den griechischen Luftraum, überfliegen griechische Inseln, so beschwert sich die Regierung in Athen – und protestiert Tag für Tag dagegen. Die griechische Regierung fürchtet, die Türkei wolle mit diesen Überflügen zeigen, dass sie nicht nur Ansprüche auf Seegebiete stellt, sondern den Griechen auch manche Insel in der Ägäis streitig macht.
"Die Provokationen beenden, die Gespräche beginnen"
In der Tat betont der türkische Präsident Erdogan immer wieder, dass die Türkei im Friedensvertrag von Lausanne im Jahr 1923 zu kurz gekommen sei. Damit stellt Erdogan die seit 97 Jahren geltende Grenze zwischen der Türkei und Griechenland infrage. Gleichzeitig betont die Türkei, sie sei zu einem Dialog mit Griechenland über die strittigen Fragen bereit.
Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis reagiert darauf mit, wie er sagte, sechs Worten: "Die Provokationen beenden, die Gespräche beginnen." Das bedeutet: Griechenland ist ebenfalls zum Dialog bereit. Vorher müsse die Türkei aber die Provokationen beenden – also weder Schiffe in umstrittene Seegebiete schicken noch den griechischen Luftraum verletzen oder die bestehenden Staatsgrenzen infrage stellen.
Die griechische Regierung kauft neue Kampfjets und Waffen
Weil Griechenland aber dem Frieden mit der Türkei nicht traut, kauft die Regierung neue Kampfjets und Waffen.
Ministerpräsident Mitsotakis am 12. September: "Die Stunde ist gekommen, dass wir zur Sicherung unseres Landes die Streitkräfte stärken müssen. Die ist die höchste Verpflichtung für alle Griechen, die die Kosten dafür tragen müssen. Es ist der Preis für unsere Position auf der Landkarte."
Was genau Mitsotakis damit meint, sagte er vor gut einem halben Jahr bei einer Diskussionsveranstaltung in Berlin, als er gefragt wurde, warum Griechenland so viel Geld in seine Armee stecke? "Weil leider unser Nachbar die Türkei ist und nicht Dänemark", so Mitsotakis.
Neben der Aufrüstung setzt die griechische Regierung auf Unterstützung durch die EU-Partner. Die Regierung in Athen hofft, dass sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Brüssel auf eine klare Strategie, einen klaren Plan gegenüber der Türkei einigen.
"In diesem Plan brauchen wir Zuckerbrot und Peitsche", sagt Konstantinos Filis von der Pantion-Universität Athen. Die EU müsse mit scharfen Sanktionen drohen, falls die Türkei ihre Provokationen fortsetze.
Sollte die Türkei jedoch zusagen, keine Schiffe mehr in umstrittene Gewässer zu schicken, dann könnte die EU mit dem Zuckerbrot kommen: "Bessere Zusammenarbeit und mehr Geldmittel für die Türkei in der Flüchtlingsfrage, Stärkung der Zoll-Union zwischen der Türkei und der EU, die sowieso überarbeitet und erneuert werden muss."
Auch Zypern sieht sich von der Türkei angegriffen
Wirtschaftlich sei die Türkei abhängig von der EU. Mit diesen Angeboten könnte die EU starken Druck auf die Türkei ausüben, so Konstantinos Filis. Die Republik Zypern, EU-Mitglied und mitten im östlichen Mittelmeer gelegen, fordert schon seit Monaten harte Sanktionen gegen die Türkei.
Denn auch vor der Küste Zyperns sind türkische Schiffe im Einsatz. Sie forschen nicht nur nach Erdgasvorkommen, sie bohren sogar im Meeresboden, und zwar in Gebieten, die die Republik Zypern als ihre Ausschließliche Wirtschaftszone definiert hat. Die Türkei argumentiert, sie vertrete die Interessen der türkischen Zyprer, die im Norden der Insel leben.
Aber Kyriakos Koushos, Regierungssprecher der Republik Zypern, schüttelt den Kopf. "Das sind Ausreden", sagt er. Die Türkei verstoße gegen internationales Recht. Darauf müsse die EU nun endlich deutlich reagieren: "Wir brauchen härtere Sanktionen, wir brauchen härtere Maßnahmen, um die Türkei davon abzuhalten, Mitgliedsstaaten der Europäischen Union anzugreifen."
Ja, Zypern sieht sich von der Türkei angegriffen – und von der EU weitgehend im Stich gelassen: "Um ehrlich zu sein, bis jetzt haben wir nicht gesehen, dass die Europäische Union wirklich ihre Grenze verteidigt. Diese Grenze wird von Zypern und Griechenland gebildet - und wir sind Mitgliedsstaaten. Wir sind die Grenzen."
Und wenn die Türkei diese Grenze nicht respektiere, so fordert Regierungssprecher Koushos, müsse die EU harte Sanktionen verhängen.
"Ich erwarte EU-Sanktionen"
Cem Gürdeniz sitzt in einem Istanbuler Ausflugslokal hoch über dem Bosporus. Von hier oben sieht es so aus, als würden sich die riesigen Handelsschiffe aus aller Welt in Zeitlupe ihren Weg durch die weltberühmte Meerenge bahnen. Der ehemalige türkische Admiral interessiert sich wenig für den Ausblick.
Für ihn hat das Geschehen auf dem Wasser mit Blick auf mögliche EU-Sanktionen eine Bedeutung:
"Ich bin mir sicher, die türkische Regierung wird nicht zurückstecken, nicht kapitulieren. Ich erwarte EU-Sanktionen. Aber das hat keinen Einfluss auf den Gesamtkurs der Türkei. Natürlich wird die Türkei nach dem Prinzip handeln: wie du mir, so ich dir. Zum Beispiel, wenn sie türkischen Handelsschiffen nicht mehr erlauben, europäische Häfen anzulaufen, dann bin ich mir sicher, wird die Türkei entsprechend reagieren, was die Nutzung von türkischen Meerengen angeht, vor allem durch griechische und zyprische Tanker."
Cem Gürdeniz ist der Vater von "Mavi Vatan", der "Blauen Heimat", wie er seinen Plan schon vor 14 Jahren nennt. Sein Ziel ist, die Türkei soll Seemacht werden. Damals interessiert sich keiner dafür – heute umso mehr.
Er hat Karten mitgebracht, die zeigen, welche Seegebiete die Türkei beansprucht. Sie ragen weit in die rein, die Griechenland für sich reklamiert: "Es geht hier um reine Verteidigung gegen den Druck der EU und der Vereinigten Staaten auf die Türkei, sie sozusagen in Anatolien einzusperren."
Ist es fair, was Athen für sich beansprucht?
Auch der türkische Präsident Erdogan spricht immer davon, dass sein Land in der Bucht von Antalya eingesperrt wird. Tatsächlich: Wenn man das Seerechtsabkommen von 1982 so wie Griechenland auslegt, steht der Türkei nur ein verhältnismäßig schmaler Streifen an Außerordentlicher Wirtschaftszone zu, in der sie Bodenschätze wie Erdgas ausbeuten darf.
Gamze, die junge Tauchtouristin im Küstenort Kas, hat mit Erdogans Politik normalerweise wenig am Hut. Diesmal gibt sie ihm aber recht. Es ist nicht fair, was Athen da für sich beansprucht, findet sie: "Wenn, sagen wir mal fünf Meter, zwischen beiden Seiten liegen, dann sollte die Grenze in der Mitte verlaufen, sollte jeder jeweils 2,5 Meter bekommen. Das ist doch das Sinnvollste."
Nicht unbedingt, sagt Nele Matz-Lück. Sie ist Seerechtsexpertin und lehrt an der Universität Kiel. Eine faire Lösung könnte anders aussehen:
"Die eben vielleicht mit der Mittellinie beginnt und dann aber Faktoren berücksichtigt, die davon abweichen. Das können traditionelle Fischereirechte sein. Das können schon bestehende Öl- oder Gasausbeutungen sein. Das kann aber eben die Länge der Küstenlinie sein, die Frage, ob kleine Inseln des anderen Staates irgendwie einen verzerrenden Effekt haben, und schlussendlich auch eine grundsätzlich betrachtete Verhältnismäßigkeit: Wer hat jetzt eigentlich wie viel bekommen und ist das gerecht?"
Sie sieht hier einen guten Punkt für die Türkei.
Es geht nicht nur um Erdgas, es geht um Machtpolitik
Cem Gürdeniz, der ehemalige Admiral, kann sich Angela Merkel sehr gut als Vermittlerin in dem Konflikt vorstellen:
"Frau Merkel ist sehr nüchtern, klar, aufgeschlossen, objektiv und rational", sagt er. "Und ich bewundere Deutschland für diese wundervolle Kanzlerin. Und ich bin sicher, sie kann Griechenland auch das Kastelórizo-Thema erklären und ihnen den ganzen Seerechtskomplex rund um die Inselketten beibringen. Uns muss man nicht überzeugen, aber Griechenland. Das sollte endlich seine Fantasiewelt verlassen."
Da klingt schon durch, was auch die Seerechtsexpertin ahnt. Es geht beim Mittelmeerstreit nicht nur um Erdgas.
"Ich bin neulich darauf angesprochen worden", erzählt sie. "Warum sind die Griechen überhaupt noch an Öl und Gas dort interessiert, wenn doch die EU nach dem Klimapakt völlig frei werden will von fossilen Brennstoffen? Die Frage kann man sich ja stellen. Der Konflikt lässt sich gar nicht betrachten ohne die historischen Hintergründe. Ohne Verletzungen aus dem historischen Verhältnis der beiden Staaten zueinander und deswegen glaube ich, wird die Lösung auch so schwer sein, weil es eben nicht nur um rechtliche Fragen geht, sondern es geht auch um geostrategische Erwägungen, es geht um eine Machtpolitik."
"Für jede Nation kommt mal ihre Zeit"
Für Erdogan gibt es noch einen entscheidenden innenpolitischen Effekt: Die sonst so gespaltene Türkei steht fast geschlossen hinter ihm. Allein deshalb wird er das Thema wohl noch eine Weile weiter am Köcheln halten. Cem Gürdeniz nennt sich selbst Kemalist. Es stört ihn aber auch nicht, dass Erdogan sich seines Plans bedient. Für ihn zählt vor allem eines:
"Für jede Nation kommt mal ihre Zeit. Und ich denke, jetzt ist die Zeit der Türkei gekommen, eine Seemacht zu werden."
Viele Griechen trauen Erdogan zu, wegen der Rohstoffe im Mittelmeer einen Krieg anzuzetteln. "Soweit darf es nicht kommen", sagt Konstantinos Filis von der Athener Pantion-Universität:
"Wir sprechen über die Notwendigkeit, dass zwei zivilisierte Länder sich hinsetzen und miteinander diskutieren müssen. Das ist der einzige Weg. Sie können Probleme nicht lösen, wenn Sie in den Krieg ziehen. Das ist keine Lösung."
Gibt es eine Lösung am Verhandlungstisch?
Wie könnte eine Lösung am Verhandlungstisch aussehen? Wie könnten sich die Türkei und Griechenland auf eine gemeinsame Seegrenze einigen, zum Beispiel rund um die Insel Kastelórizo, die nur zwei Kilometer vor der türkischen Küste liegt. Wie viel Meer hinter der Insel gehört Griechenland? Wie viel der Türkei?
"Mein Vorschlag ist, wir beginnen einen Dialog mit Sondierungsgesprächen", sagt Konstantinos Filis. Vorher müsste die Türkei allerdings zusichern, keine Schiffe mehr in umstrittene Seegebiete zu schicken.
Beide Seiten müssten aufeinander zukommen, beide Seiten müssen sich austauschen, welche Absichten die jeweils andere Seite hat. "Dann können wir in Verhandlungen eintreten", so Konstantinos Filis. Die müssten aber nicht unbedingt direkt zu einem Ergebnis führen.
Eine Lösung wäre auch: "Der nächste Schritt wäre, wir verständigen uns darauf, dass wir uns nicht einigen können. Dass wir aber ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs akzeptieren würden", so das Fazit von Konstantinos Filis. Das also wäre der Weg zu einer Einigung auf eine gemeinsame Seegrenze.
Maximalforderungen auf beiden Seiten
Aber Griechenland und die Türkei sind noch weit von einer solchen Einigung entfernt. Noch kommen beide Seiten nicht von ihren Maximalforderungen herunter: Griechenland reklamiert für die kleine Insel Kastelórizo nach wie vor ein Seegebiet von der Größe der Schweiz. Die Türkei spricht der Insel jedes Recht auf eine Ausschließliche Wirtschaftszone ab – ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs würde sicherlich keiner Seite recht geben, sondern eine Kompromisslösung finden.
Die Taverne des Ehepaars Hurigul und Kykkos Mayafis auf Kastelórizo: Ein paar Urlauber sitzen an den Tischen unter Sonnenschirmen – direkt am türkisblauen Meer mit Blick aufs zwei Kilometer entfernte Städtchen Kas am gegenüberliegenden, türkischen Ufer.
Von dort stammt Hurigul Mayafi – ihr Mann Kykkos wurde auf Kastelórizo geboren. Vor acht Jahren haben die beiden geheiratet. So eine türkisch-griechische Verbindung war auch damals schon ungewöhnlich, aber nie gab es solche Probleme wie jetzt, sagen Hurigul und Kykkos:
"Als wir heirateten, hat es gar keine Rolle gespielt, dass der eine Grieche und die andere Türkin ist. Wir in Kas und Katselórizo sind alle seit Jahren Freunde, wir haben uns als Freunde gesehen, nicht als Türken und Griechen."
"Am Anfang war das schon ein bisschen ungewöhnlich – es war ja die erste Hochzeit zwischen einem aus Kastelórizo und einer aus Kas gewesen. Nach und nach aber wurde alles normal. Als ich nach der Hochzeit zum ersten Mal nach Kas kam, war alles okay. Ich kannte ja die Leute schon."
Nach diesen Zeiten sehnt sich das Ehepaar Hurigul und Kykkos Mayafis zurück. Derzeit aber liegt die nahe türkische Küste unerreichbar vor ihren Augen, weil die Fähre wegen Corona nicht fahren darf. Dabei dauert die Überfahrt nur 20 Minuten.
30 Euro nimmt Hakan Öztürk für den Hin- und Rückweg. Er ist Chef von Meis Express, einem der beiden Fährunternehmen am Stadthafen von Kas. 30.000 Besucher bringen die Fähren in einem normalen Jahr rüber nach Kastelórizo und wieder zurück. Dieses Jahr macht der 34-Jährige mit der tiefschwarzen Sonnenbrille und dem hippen Vollbart damit kein Geschäft.
Nur Ausflugsschiffe, die innerhalb der türkischen Gewässer herumtuckern, legen im Moment ab. Auch die frühere türkische Journalistin Meral Senerdi ist am Stadthafen - in einem Café. Sie erzählt, dass sie auf der Halbinsel von Kas wohnt. Von da sind es nur zwei Kilometer rüber nach Kastelórizo.
Neulich will sie zum ersten Mal Schießübungen dort gehört haben: "Ich lebe seit 15 Jahren hier. Und in der Zeit habe ich nie solche Geräusche gehört. Das ist gegen alle Vereinbarungen. Das weiß ich sicher."
Eigentlich darf auf Kastelórizo kein Militär stationiert sein. Griechenland beruft sich aber auf sein Recht auf Selbstverteidigung. Auch Senerdi setzt auf Deutschland als Vermittler. Von Frankreich ist die engagierte Türkin, die sich auch für Umweltthemen einsetzt, dagegen enttäuscht. Präsident Macron unterstützt Griechenland militärisch.
"Ich bin geschockt von Frankreich", sagt sie. "Denken Sie doch mal an das Klimaabkommen von Paris. Ich habe Frankreich für eines der führenden Länder beim Umwelt- und Klimaschutz gehalten. Und jetzt führt es die Kampagne an, am Grund des Mittelmeers zu bohren. Was ist denn wichtig: Fisch oder Öl?"
Im Küstenort will keiner Krieg
Der Umweltaspekt ist das eine. Es geht aber auch um die wirtschaftliche Situation auf beiden Seiten, die schon durch Corona extrem angespannt ist. Kastelórizo ist vom griechischen Festland knapp 600 Kilometer weit weg. Die Menschen dort kaufen normalerweise im türkischen Küstenort ein, frisches Gemüse zum Beispiel, oder Haushaltswaren.
Daran verdient Kas, sagt Fährunternehmer Öztürk: "Wenn wir von hier Besucher rüberfahren, dann verdienen die. Für die ist Kasch das eigentliche Gas, der eigentliche Bodenschatz."
Angst vor Krieg hat im türkischen Küstenort kaum einer. Und es will auch keiner Krieg, auch Meral Senerdi nicht: Das Motto ihres Landes sei Frieden in der Welt und Frieden zu Hause.