Cigdem Akyol, Generation Erdogan. Die Türkei – ein zerrissenes Land im 21.Jahrhundert
Verlag Kremayr Scheriau
22 Euro. (erscheint im Februar)
Wenig Interesse an neuem Sürücü-Prozess in Istanbul
Während der Prozess gegen zwei Brüder der ermordeten Deutsch-Türkin Hatun Sürücü in Deutschland große Aufmerksamkeit findet, ist das Interesse vor Ort gering, sagt die Autorin Cigdem Akyol. Gewalt gegen Frauen gehöre in der Türkei leider zum Alltag und gelte als "Familiensache".
"Hier in der Türkei findet der Fall in den Medien überhaupt nicht statt", sagte die Autorin Cigdem Akyol im Deutschlandradio Kultur. Die Türkei habe derzeit große innenpolitische Probleme. Schließlich sei der "Islamische Staat" (IS) im Land und im Südosten des Landes herrschten derzeit bürgerkriegsähnliche Verhältnisse.
"Tatsächlich werden die Nachrichten gerade dadurch bestimmt."
Außerdem seien solche Geschichten in der Türkei keine Aufreger mehr, sagte die Autorin, die in Herne aufgewachsen ist und heute in Istanbul lebt. Außerdem sei der Mord an Sürücü in Deutschland passiert. "Das heißt, die kulturelle Nähe, die ist nicht wirklich gegeben."
Frauen als Besitz des Mannes
Leider gehöre Gewalt gegen Frauen zum Alltag, sagte Akyol. "Das sieht man hier jeden Tag auch auf der Straße."
Die Frau werde immer noch als Besitz des Mannes angesehen und Gewalt gegen Frauen gelte als "Familiensache". Dagegen werde nur zögerlich oder gar nicht eingegriffen.
Die Autorin sprach von einem gesellschaftlichen Rückschritt unter dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seine Partei AKP habe zwar die Gleichberechtigung der Frau vorangetrieben und gesetzliche Verbesserungen möglich gemacht. Aber der Staatspräsident lebe ein sehr konservatives Frauenbild vor.
"Erdogan wird nicht müde zu betonen, dass Frauen mehr als drei Kinder bekommen sollen, dass Abtreibung Mord sei und das er selbst nichts von Gleichberechtigung hält."
Dadurch gebe es eine moralisch konservative Rückentwicklung in der Türkei.
Das Verfahren in Istanbul
Der Mord an Sürüsü entfachte schon vor elf Jahren eine Debatte über "Parallelgesellschaften" in Deutschland. Ihr jüngster Bruder hatte die 23-jährige Deutsch-Türkin Hatun Sürücü auf offener Straße in Berlin erschossen und wurde im Sommer 2014 nach verbüßter Haft nach Istanbul abgeschoben. Jetzt stehen zwei weitere Brüder in der Türkei vor Gericht. Den 35 und 36 Jahre alten Männern wird nach Angaben der türkischen Justiz das vorsätzliche Töten eines nahen Verwandten vorgeworfen.
Die beiden Angeklagten sollen demnach den jüngsten Bruder mit dem Mord beauftragt haben, um die Familienehre wieder herzustellen. Auch der Kauf und Besitz nicht zugelassener Schusswaffen sind Anklagepunkte.
Das Interview im Wortlaut:
Heute beginnt also dieser Prozess in Istanbul gegen die beiden Brüder, die sich in die Türkei abgesetzt hatten. Aus dem deutschen Fall ist ein türkischer geworden, und wir nehmen das zum Anlass, zu fragen, in was für einem Klima findet dieser Prozess statt, wie groß ist die Empörung in der Türkei, wenn Frauen zum Opfer dieser vermeintlichen Ehrentaten werden. Fragen an Cigdem Akyol, die Autorin ist in Herne in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, seit 2014 in Istanbul zu Hause, und dorthin grüße ich, guten Morgen, Frau Akyol!
Cigdem Akyol: Guten Morgen nach Berlin!
Frenzel: Die Empörung damals in Deutschland war groß, jetzt in Istanbul der Prozess. Ein Aufregerthema in der Türkei?
Akyol: Nein, ganz im Gegenteil: Hier in der Türkei findet der Fall in den Medien überhaupt nicht statt. Ich habe heute Morgen noch mal nachgeschaut, ob ich irgendwo was finde, und tatsächlich findet der Fall Sürücü in den Medien hier überhaupt nicht statt, der wird überhaupt gar nicht erwähnt.
Frenzel: Woran liegt das, was glauben Sie? Weil es auch ein Fall ist, der lange zurückliegt, der eben nicht so aufmischt oder weil auch die gesellschaftliche Stimmung in der Türkei das letztendlich als ein geringeres Problem betrachtet?
Akyol: Da muss man zum einen betrachten, dass die Türkei gerade sehr große innenpolitische Probleme hat, sprich wir haben den IS hier im Land, und wir haben bürgerkriegsähnliche Verhältnisse im Südosten. Tatsächlich werden die Nachrichten gerade dadurch bestimmt. Der zweite Punkt ist tatsächlich der, den Sie angerissen haben: Solche Geschichten sind hier keine Aufreger mehr, zumindest sehr selten, und drittens ist dieser Mord halt auch in Deutschland passiert. Das heißt, die kulturelle Nähe, die ist nicht wirklich gegeben, deswegen findet das Thema hier nicht statt, und deswegen ist der Aufreger eigentlich gar nicht mehr vorhanden.
Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei Familiensache
Frenzel: Wenn wir das mal verallgemeinern: Wie alltäglich ist denn Gewalt gegen Frauen in der Türkei?
Akyol: Da muss man leider sagen, dass Gewalt gegen Frauen wirklich täglich ist in der Türkei. Das sieht man hier jeden Tag auch auf der Straße, das sehe selbst ich in meiner Nachbarschaft, denn immer noch wird die Frau hier als Besitz eines Mannes angesehen, und immer noch ist Gewalt gegen Frauen hier eine Familiensache, sprich dagegen greift man nicht ein oder man greift nur recht zögerlich ein. Deswegen, es findet täglich statt, und es ist auch täglich in den Medien, in den Randspalten zu lesen, und darüber regt sich wirklich kaum jemand mehr auf in diesem Land.
Frenzel: Gilt das denn auch für Metropolen wie Istanbul, da wo Sie leben oder hat sich da nicht auch schon ein anderes Bild, ein anderes Rollenverständnis durchgesetzt?
Akyol: Istanbul ist natürlich nicht repräsentabel für die Türkei, aber das gilt tatsächlich auch für Istanbul. Auch hier in dem Viertel, in dem ich lebe – das ist sehr durchgentrifiziert, das ist vergleichbar mit dem Prenzlauer Berg in Berlin –, ist es tatsächlich gelegentlich auf der Straße zu beobachten, dass Männer ihre Partnerinnen angreifen und dass niemand eingreift. Das heißt, das findet auch hier immer noch statt – natürlich nicht so weit verbreitet wie etwa im Südosten des Landes, wo es wesentlich konservativer zugeht.
Kein Vertrauen in die Behörden
Frenzel: Wenn Sie sagen, dass niemand eingreift, gilt das für die Passanten auf der Straße oder muss man das auch übertragen – gilt das für Behörden, gilt das für die Polizei?
Akyol: Das meine ich in erster Linie erst mal für Passanten. Ich kann mich gut an einen Fall erinnern, als ich abends joggen gegangen bin hier in meinem Viertel, einen Fall beobachtet habe, wie ein Mann auf eine Frau zugegangen ist, sie verprügelt hat und dass ich erst mal wirklich die Männer um mich herum drauf ansprechen musste, endlich einzugreifen. Das heißt, auch Passanten schrecken zurück, weil man nicht weiß, ist da jemand bewaffnet, kann diese Gewalt auf mich zurückschlagen, und man hat halt auch kein Vertrauen in die Behörden hier. Das heißt, man weiß nicht, ob die Polizei wirklich etwas macht, wenn man sie ruft und ist deswegen noch mal doppelt so zurückhaltend.
Frenzel: Wir schauen seit ein paar Jahren immer wieder auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei, auf die Prägung einer Regierung, die bestimmt ist durch Recep Tayyip Erdogan. Sie haben sich mit dem Präsidenten in einem Buch schon ausführlich befasst, arbeiten gerade am nächsten in Bezug auf diese Frage. Erlebt die Türkei unter Erdogan auch hier Rückschritte in Richtung klassisches Rollenbild?
Akyol: Dem ist tatsächlich so. Interessanterweise besteht der Fall, dass die AKP, die Regierungspartei, die gesetzliche Gleichberechtigung der Frau vorangetrieben hat, aber die AKP-Spitzen und auch der Staatspräsident legen ja ein sehr konservatives Frauenbild vor, und Erdogan wird nicht müde zu betonen, dass Frauen mehr als drei Kinder bekommen sollen, dass Abtreibung Mord sei und dass er selbst nichts von Gleichberechtigung hält. Das sind Zitate, die ich von ihm wiederhole. Das heißt, wir haben tatsächlich eine moralisch konservative Rückentwicklung hier im Land.
Frenzel: Bei gleichzeitiger Verbesserung der gesetzlichen Situation, habe ich das richtig verstanden?
Akyol: Genau, dem ist so.
Starke Frauenverbände
Frenzel: Gibt es denn Widerstände gesellschaftlicher Art, Frauenbewegung, auch natürlich moderne Männer, die sagen, das kann so nicht sein, das kann so nicht weitergehen?
Akyol: Wir haben hier in der Türkei sehr starke Frauenverbände, die auch regelmäßig auf die Straße gehen, die sind leider recht klein, und wir haben natürlich tatsächlich auch hier Männer, die auf die Straße gehen und für Frauenrechte demonstrieren. Im Februar letzten Jahres hat der Mord an einer Studentin hier für einen landesweiten Aufschrei gesorgt, und damals sind Männer in Röcken auf die Straße gegangen, um für Gleichberechtigung zu demonstrieren. Leider hat das nichts gebracht.
Frenzel: Sagt die Autorin Cigdem Akyol an dem Tag, an dem den Brüdern Hatan Sürücüs der Prozess gemacht wird in Istanbul fast 11 Jahre nach dem Ehrenmord. Frau Akyol, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.