Wie Istanbul seine Künstler an den Rand drängt
Zensur, Schikane, Geldprobleme: Zusehends verschwinden Orte zeitgenössischer Kunst aus dem Stadtbild Istanbuls. Performances im öffentlichen Raum sind so gut wie unmöglich geworden. Viele Galerien sind geschlossen oder wandern in die Peripherie ab.
Streit vor dem Depo im Istanbuler Bezirk Tophane. Der Gemüsehändler von nebenan hat wieder einmal seinen Wagen direkt vor dem Eingang der Galerie geparkt.
"We ask them not to. But than it becomes an issue."
"Und dann macht der immer gleich ein Fass auf", seufzt die Kuratorin Asena Gunal. Seit den Protesten im Gezi-Park ist das Verhältnis zwischen der Galerie und den fromm-islamischen Nachbarn schwieriger geworden:
"Die sagen dann sofort: Na klar: Ihr seid gegen Erdoğan! Und schon stehen sich die zwei Pole der Gesellschaft gegenüber."
Auf der einen Seite: Die Parteigänger Erdoğans, die sich als die wahren Erben Istanbuls betrachten, auch wenn sie, wie hier in Tophane, im alten europäischen Teil der Millionenstadt, erst in den 1960er-Jahren nach der massenhaften Ausweisung griechischer Istanbuler in deren Häuser gezogen sind.
Auf der anderen Seite: Künstler und Galeristinnen wie Asena mit ihrem Verständnis von Kunst als Gegenentwurf zu Gesellschaft und Geschichte:
"Hier im Depo haben wir Ausstellungen gemacht, die die traumatischen Ereignisse türkischer Geschichte thematisieren, darüber, was mit Nicht-Muslimen passiert ist: Den Armeniern, politischen Gegnern, religiösen Minderheiten wie den Alewiten oder den Roma."
Tödliche Shopping-Malls
Dazu zählt auch die jüngste Vergangenheit. Für die aktuelle Ausstellung ließen sich deutsche und türkische Künstler von Walter Benjamins Text "Vom Wesen der Geschichte" inspirieren.
Die Istanbulerin Neriman Polat hat eine Wand mit Hochglanz-Fotos der neuen Shopping Malls, die überall in der Stadt aus dem Boden schießen, tapeziert. Daneben hängen lange Listen: Die Namen der Arbeiter, die auf den Baustellen tödlich verunglückten.
Die Ausstellung davor trug den Titel: "Enkel – neue Geographien der Zugehörigkeit" und präsentierte 100 Jahre nach dem Völkermord armenisch-stämmige Künstler aus der Türkei, Armenien und den USA:
"Weil wir daran glauben, dass eine Gesellschaft, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, toleranter, offener und pluralistischer wird."
Zur "pluralistischen" Topografie der Stadt zählen die vielen Kirchen und Schulen der Christen. Eine von ihnen ist die griechische Schule in Karaköy, fünf Minuten von Depo entfernt. Jahrelang stand sie leer, bis die griechisch-armenische Künstlerin Hera Büyükasciyan die alten Klassenräume für zeitgenössische Kunst öffnete:
"Wir haben nicht nur ein schlafendes Gebäude wieder erweckt, sondern auch all die damit verbundenen Erinnerungen wieder ans Licht geholt."
Zur letzten Istanbul-Biennale im vorigen Herbst zeigte Büyükasciyan 668 Schulhefte:
"Die genaue Anzahl der Schüler in den 60ern. Alle waren leer bis auf den Namen eines griechischen Schülers, der deportiert wurde."
Verwaltung sperrt sich gegen Kunst
Neben der alten griechischen Schule sollte zur Biennale Kunst eigentlich noch an vielen anderen öffentlichen Orten ausgestellt werden. Aber die Stadtverwaltung sperrte sich.
Zusehends verschwinden Orte zeitgenössischer Kunst aus dem Stadtbild. Jüngstes Beispiel: die große Videoleinwand auf dem Dach eines Hotelhochhauses in Beyoglu. Jahrelang lief hier zeitgenössische Kunst, bis Ende April die Lichter ausgingen. Der angebliche Grund: Verletzung religiöser Gefühle durch einen Zeichentrick-Spot der preisgekrönten Künstlerin Işıl Eğrikavuk, auf der Eva einen Apfel isst.
Die Zensur macht auch vor Jugendlichen nicht halt. Eine vom Bezirk Beyoglu geplante Kinder-Biennale fiel quasi aus, als Beamte Bilder von kurdischen Teenagern konfiszierte und die Kuratoren daraufhin geschlossen zurücktraten.
Und Performances im öffentlichen Raum sind so gut wie unmöglich geworden. Aktionen, wie sie auch das Künstler-Kollektiv Hazavuzu in der Vergangenheit auf der Istiklal Cadessi, der Hauptstraße im europäischen Viertel Beyoglu, aufführte:
"Das waren so eine Art Flash-Mobs. Einfach auf der Stelle stehen bleiben und für ein paar Minuten eine Menschenkette bilden: Das könnten wir jetzt nicht mehr machen."
Viele Galerien wurden geschlossen
Für Günes Terkol, bildende Künstlerin und Hazavuzu-Mitglied, sind die Zeiten schwieriger geworden:
"Eine Galerie habe ich nicht mehr. Viele Galerien haben zugemacht, nach Gezi und wegen der Krise, aber ich fühle mich freier."
Narrenfreiheit? Oder Vogelfreiheit? Wie ein Kommentar lautet der Titel einer Ausstellung, mit der vor ein paar Wochen nach langer Zeit ein neuer Kunstraum seine Türen öffnete, zwar nicht im Zentrum, sondern im Norden in einer alten Brauerei in Bonmonti:
"Geh durch das Fenster, wenn Du nicht durch die Tür gehen kannst".