Währungsverfall in der Türkei

Die Lira stürzt, Erdogan auch?

22:57 Minuten
Die türkische Polizei hat protestierende Studenten eingekesselt, sie stehen eng beieinander und sehen verzweifelt aus. Istanbul, 14. Januar 2022.
Die türkische Lira hat einen Werteverfall von 44 Prozent seit 2021, viele Studierende können sich die Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten und gehen auf die Strasse. © Getty Images / Chris McGrath
Von Uwe Lueb und Mehmet Uksul · 21.02.2022
Audio herunterladen
Die Türkei im Krisenmodus: eine offizielle Inflation von 50 Prozent, die Lira im Absturz und ein Präsident Erdogan, der mehr Problem als Lösung ist. Leidtragende sind die Türk:innen, die Essen und Miete bald nicht mehr bezahlen können.
"O wäre ich nur reich! Was würde ich dir nicht alles kaufen", sang Tanju Okan vor 50 Jahren. Den Menschen in der Türkei dürfte das Lied in diesen Tagen besonders häufig in den Kopf kommen. Ihr Geld, die türkische Lira, verliert seit vielen Monaten an Wert.

Kein Vertrauen mehr in die Regierung

Das Vertrauen in die Regierung ist erschüttert, auch bei Anhängerinnen und Anhängern von Präsident Recep Tayyip Erdogan:
"Wir haben die Regierungspartei doch gewählt, damit sie Dinge verbessert, nicht verschlechtert. Warum stoppt sie diese Preisanstiege nicht? Alles ist so unfassbar teuer. Ich wohne zur Miete. Die Mieten sind enorm angestiegen. Ich bin unzufrieden."
Die Unzufriedenheit bricht sich Bahn. Im Spätherbst kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen die Regierung.
"Die Zeiten werden sich ändern. Die AKP wird dem Volk Rechenschaft abgeben!“, rufen sie in Istanbul. Doch die AKP ist unbeeindruckt, mobilisiert eigene Anhänger. Es gibt auch Demonstrationen für den Präsidenten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede in Istanbul, 15.01. 2021.
Beharrt auf niedrigen Zinsen, die mitverantwortlich sind für die steigenden Preise - Präsident Erdogans Popularität in der türkischen Bevölkerung fällt mit der abstürzenden Landeswährung Lira.© picture alliance / AP
Recep Tayyip Erdogan führt nach eigenen Worten einen Krieg, einen Wirtschaftskrieg, so der Präsident im November:
"So, wie es uns gelungen ist, unser Land immer wieder zu schützen und vor so viel Unglück zu bewahren, so werden wir mit Gottes Hilfe und dem Beistand unserer Bürger auch aus diesem 'wirtschaftlichen Freiheitskrieg' als Sieger hervorgehen.“
Erdogans Modell klingt logisch: niedrige Zinsen fördern Investitionen und die bringen mehr Arbeitsplätze. Wenn überhaupt, dann allerdings eher schlecht bezahlte.

Politik der niedrigen Zinsen ist falsch

Bis dahin zahlen den Preis für diese Politik, so sehen es viele, ohnehin die normalen Bürgerinnen und Bürger. Denn die Politik niedrigerer Zinsen, sagen Fachleute, facht die Inflation weiter an. Die Menschen verarmen. So empfindet es auch eine Frau, die enttäuscht aus einem Supermarkt kommt:
"Von den Lebensmitteln bis zu den Heizkosten, Stromrechnungen und was die Kinder brauchen, Schule, Kleidung – alles wird teurer. Ich habe gerade ganze 30 Lira bezahlt für das bisschen hier. Für ein Brot, ein paar Eier und Kartoffeln."
30 türkische  Lira sind rund zwei Euro. Das ist nicht wenig bei einem Mindestlohn von unter 300 Euro im Monat.
Eine Strassenverkäuferin in Alsancak, Izmir. Sie hat auf einer Pappkiste Plastikwasserflaschen und Taschentuchpackungen vor sich liegen.Türkei, 13. Februar 2022.
Menschen verkaufen ihren Bedarf des täglichen Lebens auf der Strasse, weil sie sich wegen der hohen Inflation nichts mehr leisten können.© imago / Cover-Images / Adil Toffolo
Dennoch werden die  Proteste der Menschen nicht zu einer großen Welle. Sie lassen sich auch davon abschrecken, wie der Staat mitunter mit Kritikern umgeht: nicht zimperlich. In Ankara  etwa werden im Spätherbst Busse gestoppt, die Demonstranten zu einer Protestveranstaltung von vor allem Studierenden bringen wollen.

Die Angst vor Repressionen

Ihre Bewegung heißt "Barinamiyoruz" – „Wir können uns nicht schützen“. Sie verlangen mehr Wohnheimplätze und vor allem bezahlbare. Aber auch ihre Proteste verebben nach wenigen Wochen. Denn so groß das Verständnis bei den meisten ist, so groß ist auch die Sorge vor Repression, vor negativen Folgen, wenn man mitdemonstriert, sagt etwa der Istanbuler Kellner Sedat.
"Warum nicht? Das Volk muss sich ja mal ausdrücken. Es ist ja schließlich nichts Verwerfliches, zu protestieren. Aber selber teilnehmen ... schwierig. Ich habe Frau und Kinder zu Hause. Lieber nicht."
"Lieber nicht", sagt sogar die Opposition. Man wolle an der Wahlurne 2023 gewinnen und bis dahin den Regierenden keinen Anlass geben, Demonstrationen gewaltsam aufzulösen.
Doch immer mehr leiden unter der neuen Not, für die sie die Inflation verantwortlich machen. Sie greift tief in das Leben der Menschen. Wie in das von Osman aus Gaziantep im mittleren Süden nahe der syrischen Grenze. Er habe zwar Arbeit, aber die Inflation mache ihn arm, obwohl der Mindestlohn kräftig angehoben wurde:
"Ich hatte meiner Frau einen Ring geschenkt, den haben wir verkauft, genauso wie die goldenen Armreife, die ihr zur Hochzeit geschenkt wurden. Aber auch dieses Geld ist alle. Wir sind jeden Monat 200 bis 300 Lira im Minus.
Als der Mindestlohn noch 2800 Lira betrug, kamen wir kaum über die Runden. Und jetzt, wo der Mindestlohn 4250 Lira beträgt, kommen wir wieder nicht über die Runden, denn die Preise steigen weiter. Für uns hat sich also nichts verändert."
Eine Frau mit langem Rock und Kopftuch steht in der Ecke an einer Spüle in einem kleinen Raum mit Steinwänden.
Kein Geld für Küchenschränke oder Küchentisch - die 34-jährige Güler Evelek aus Dyarbakir bereitet das Essen auf dem Boden zu.© Uwe Lueb, ARD-Studio Istanbul
Diyarbakir. Irgendwo in der Altstadt der fast 1,8 Millionen Einwohner-Stadt im Osten des Landes. Die Gassen sind eng, schmucklos, fast trist. Hier wohnt Familie Evelek. Mutter Güler ist 34, ihr Mann Irfan 40. Sie haben vier Kinder.

Geheizt wird nur das Wohnzimmer

Die Familie lebt in zwei übereinander liegenden Zimmern: ein Schlafzimmer für alle, ein Wohnzimmer. Im Winter ist es hier im Osten zwar oft bitterkalt. Aber geheizt wird nur das Wohnzimmer, sagt Güler:
 "Hier, sieh doch, es ist sonst überall im Haus eisig kalt. Ich koche unten im Erdgeschoss und trage auf einem Tablett das Essen hoch ins warme Zimmer. Rauf und runter, rauf und runter. So ist das. Tja."
Gülers Mann Irfan klickt nervös auf einem Kugelschreiber. Er fordert am Telefon jemanden auf, ihm endlich Geld zu zahlen für eine Gelegenheitsarbeit, die er vor Monaten erledigt hat. Einfache Bauarbeiten sind das meistens, wenn überhaupt. Früher hat er mit Küken gehandelt, aber das Geschäft geht nicht mehr gut wegen der Inflation.
"Letztes Jahr habe ich die Küken für sechs Lira pro Stück gekauft und in den Dörfern für acht Lira wieder verkauft. Heute kostet ein Küken neun Lira und wir verkaufen es für zehn, wenn überhaupt noch, weil der Liter Benzin inzwischen 14 Lira kostet und sich deswegen das Geschäft nicht mehr lohnt.
Oder Futter: ein Sack kostete letztes Jahr noch 125 Lira, heute sind es schon 350 Lira. Ich verkaufe einen Sack dann weiter für 370 Lira, wenn überhaupt. Denn die Dorfbewohner können sich das nicht mehr leisten."

Fleisch essen ist Luxus geworden

Auch er und seine Frau können sich kaum mehr etwas leisten. Zu essen gibt es meistens nur das Nötigste. Fleisch ist seltener Luxus geworden:
"Zuletzt habe ich... wie lange ist das jetzt her...? Ach ja, zwanzig Tage ungefähr, da habe ich drei Kilo gekauft. Den ganzen Winter über essen wir alle zusammen höchstens zehn Kilo, nicht mehr. Und ich spreche von Hühnerfleisch, nicht von Rindfleisch oder so, denn das können wir uns erst recht nicht leisten."
Daher gibt es oft das gleiche Essen. Das, was gerade eben noch bezahlbar ist:
"Was ich heute Abend kochen werde? Eine Suppe für die Kinder. Und eben Nudeln. Mehr geht nicht. So ist das."
Aufwendig kochen kann Güler in ihrer Küche sowieso nicht. Es ist ein kleiner Raum, umgeben von groben Steinmauern, wie man sie aus alten Kellern kennt. Herd, Kühlschrank und ein kleines Plastikregal stehen auf dem nackten Betonboden. 
"Du siehst ja meine Wohnung. Seit zwei, drei Jahren schon will ich Küchenschränke haben, aber das können wir uns nicht leisten. Ich habe auch keinen Küchentisch. Den Abwasch mach ich auf dem Boden und bereite dort auch das Essen zu. So ist das."

"Mama, bekomme ich jetzt einen Schreibtisch?"

Was sie besonders schmerzt, ist die dunkle Ahnung, dass es ihre Kinder auch nicht besser haben werden, obwohl sie es sich so sehr wünscht. Und ihre Kinder es könnten.  
"Meine Tochter hat ein sehr gutes Schulzeugnis. Sie sagte: ‚Mama, bekomme ich jetzt einen Schreibtisch für die Hausaufgaben?‘ Aber das kann ich mir nicht leisten. Stell Dir das vor: Ich kann meiner Tochter keinen Schreibtisch kaufen zur Belohnung.
Was soll ich sagen? Mir fehlen die Worte. Es ist nicht einfach mit vier Kindern. Echt. Ich habe auch nach Küchenmöbeln geschaut. Die billigsten kosten 6000 Lira. Das geht jetzt schon seit zwei Jahren so."
6000 Lira sind knapp vierhundert Euro. Wenn ihr Mann Irfan wenigstens eine richtige Arbeit hätte, sagt sie. Vieles wäre dann leichter, auch für Irfan selbst. 
"Ich hocke zuhause und warte ab. Was bleibt mir übrig? Was kann ich auch arbeiten, anderswo? Ich war mehrfach auf dem Arbeitsamt und habe mich beworben, aber es gibt nichts für mich. Ich bekomme keine Arbeit. 
Im Fernsehen sagen die Politiker, wir meckern ständig, laufen aber mit 4000 bis 5000 Lira teuren Handys herum. Aber was hat das denn damit zu tun? Verschafft mir mein Handy einen Job? Ich würde alles machen, Hauptsache Arbeit, ich bin nicht wählerisch."
Ein Mann hantiert hinter einem blauen Tisch mit mit Käsestücken gefüllten Plastikbehältern, die den ganzen Raum ausfüllen.
"Mein Umsatz ging um 90 Prozent zurück" - der Käsemacher Basri Yeniş aus Diyarbakir an seinem Verkaufsstand.© Uwe Lueb, ARD-Studio Istanbul
Es gibt viele wie Güler und Irfan. Und weil sie sich nichts mehr leisten können, leiden wiederum andere. Die Wirtschaft stockt. Davon erzählt Basri Yeniş. Er ist Käsemacher in Diyarbakir. Zwar bezieht er schon eine kleine Rente, aber die ist zu gering. 
"Die Preise entwickeln sich rasant. Ich arbeite, aber ich bekomme nichts dafür, denn das Leben ist so unheimlich teuer geworden. Früher habe ich wirklich gut verdient. In den vergangenen Monaten kamen aber immer weniger Kunden.
Mein Umsatz ging um 90 Prozent zurück. Manche meiner Kollegen schließen abends die Rolläden, ohne irgendetwas verkauft zu haben. Denn die Leute können sich wirklich nichts mehr leisten."
Ortswechsel. Edirne. Die 170.000-Einwohnerstadt ist die westlichste Großstadt der Türkei im Dreiländereck mit Griechenland und Bulgarien. In der Fußgängerzone spielt ein Straßenmusiker.  In einem der Läden hinter ihm steht Yusuf Bay. Er ist Herrenausstatter und einer der Gewinner der Inflation.

Bulgar:innen shoppen günstig in Edirne

Denn durch die Grenznähe ist Edirne zu einem Paradies für Einkaufstouristen geworden, die mit Euro oder bulgarischen Lew kommen. Deren Wert hat im Vergleich zur türkischen Lira stark zugelegt:
"Ich habe jetzt 50 bis 60 Prozent mehr Kunden als früher. Im Vergleich mit Istanbul sogar 100 Prozent mehr im Konfektionsgewerbe. Nicht nur wir, alle Gewerbetreibenden machen mehr Umsatz als zuvor.
Okay, die Lira hat sich gegenüber dem Euro und dem Dollar etwas stabilisiert, aber ganz so viel macht das nicht aus für die ausländischen Einkäufer. Denn für eine bulgarische Lew bekommen Sie immer noch fast acht  Lira.“
Ein Sazspieler sitzt neben einem Baum auf dem Boden in der Fußgängerzone von Edirne.
In der Grenzstadt Edirne tummeln sich die Gewinner der Inflation - die Straßenmusiker gehören nicht dazu.© Uwe Lueb, ARD-Studio Istanbul
Durch die Einkaufsstraßen von Edirne schlendern vor allem Bulgaren.  Für sie ist es ein kleines Paradies. Sie kommen nicht nur aus der Nähe, sondern etwa auch aus Sofia, fahren hunderte Kilometer und mieten sich zum ausgiebigeren Shoppen für ein, zwei Nächte im Hotel ein. Es lohnt sich einfach, rechnet die Bulgarin Maja Petrowa vor:  
"Zum Beispiel jetzt haben wir ungefähr zweihundert Lew ausgegeben. Und dafür haben wir Lebensmittel gekauft für mindestens drei Wochen, fast einen Monat. In Bulgarien muss eine normale Familie so viel Geld für eine Woche ausgeben. Tja, das ist der Unterschied.“

Das kann schon neidisch machen

Ein Unterschied, der manche ein bisschen neidisch macht im Inflationsland Türkei. Die Preise steigen schneller als die meisten Einkommen. Cemre ist 18, Verkäuferin in einem weiteren Bekleidungsgeschäft. Sie kann es nicht ganz begreifen, was sie derzeit täglich erlebt: 
"Manche kaufen sich drei oder vier Sweatshirts, andere sogar bis zu zehn oder noch mehr Hosen auf einen Schlag. Für die ist hier alles viel billiger. Ich wünschte, es wäre auch bei uns so. Es fühlt sich nicht gut an, nicht die gleichen Möglichkeiten zu haben.

Ich würde mir auch gern ganz viel kaufen können für 100 Lira. Ich bin nicht neidisch. Aber ich würde in meinem eigenen Land auch gerne mehr Geld ausgeben können."

"Ist doch logo, dass uns Türken das kränkt"

Viele Einheimische blicken kritisch auf die Einkaufstouristen. In der Fußgängerzone redet sich ein Ehepaar schnell in Rage. Arrogant seien die, kämen mit ihren bulgarischen Lew und wegen des für sie guten Wechselkurses führten sie sich auf wie Neureiche.
Ins Mikrofon wollen sie das aber nicht sagen. Anders Alatin. Er ist 55, sitzt auf einer Bank im Stadtzentrum in der Sonne  und nimmt kein Blatt vor den Mund:
"Wir haben nichts gegen normale Touristen, sondern gegen die bulgarischen Tagesausflügler, die hier mit ihrem Geld angeben, weil das wertvoller ist als unseres. Ist doch logo, dass uns Türken das kränkt. Es ist kein Neid, es tut einfach nur weh, den Angestellten, den Rentnern.
Ich selbst habe so lange gearbeitet, bin in Rente gegangen, und? Wir vergleichen uns mit Europa ... und? Wo ist Europa? In 20 Kilometern  Entfernung und ich kann da nicht hin zum Gucken und Einkaufen. Ich arbeite, seit dem ich 13 Jahre alt  bin. Es tut mir weh, so viel gearbeitet zu haben und dann einen so schlechten Lebensstandard zu haben."

Den Zorn der Menschen verstehen

Einer, der sich mit der Wirtschaft in seiner Region gut auskennt, ist Recep Zipkinkurt von der Industrie- und Handelskammer Edirne. Er empfängt in seinem großen Büro, bietet Tee an. Den Zorn der Menschen versteht er:
"Ich denke, unsere Waren und Dienstleistungen, und letztlich auch die Menschen werden unter Wert verkauft. Unsere eigenen Bürger können sich kaum noch Fleisch leisten zum Beispiel.
Die Einkaufstouristen decken sich aber kiloweise mit Fleisch ein. Ein Türke kann sich vielleicht zwei Hemden pro Jahr leisten, die Einkaufstouristen eines pro Monat. Das ist nicht akzeptabel."

Erdogans Konjunktursorgen: Die türkische Zentralbank senkt ungeachtet der hohen Inflation seit Monaten die Zinsen – die nationale Währung Lira hat massiv an Wert verloren. Kurzzeitig hat sich dieser Trend zwar umgekehrt. Doch bleibt unklar, wie nachhaltig diese Entwicklung ist. Was steckt hinter Erdogans Wirtschaftspolitik?

Doch in Zipkinkurts Brust schlägt auch das Herz des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer. Und der freut sich über die Kunden aus dem benachbarten Ausland:
"Die bulgarischen Einkaufstouristen leisten zur Wirtschaft von Edirne einen beachtlichen Beitrag. Wir sprechen von ernstzunehmenden Zahlen. Es sind Tausende pro Tag. Zurzeit noch 6.000, an Wochenenden waren es zuletzt bis zu 20.000.
Es wird massiv eingekauft in Edirne für den alltäglichen Bedarf, aber auch Baumaterial und anderes Export-Material, das hiesige Unternehmen herstellen. Das wird in größeren Mengen eingekauft, palettenweise oder ganze LKW-Ladungen."

Nur wenige verfügen über Devisen

Aus Edirne kommen landwirtschaftliche Produkte und Textilien. Aber es werden auch Maschinen gebaut, Kompressoren etwa. Alle Unternehmen haben wegen der Inflation höhere Energiekosten, weil Gas für die Stromerzeugung importiert werden muss.
Das Glück für viele Firmen in Edirne ist es, dass sie exportieren und Euro oder Dollar bekommen.
"Ich bin immer wieder im Gespräch mit diesen Unternehmern: Sie schnappen nicht über vor Freude, aber sie verdienen in Devisen und kommen gut über die Runden."
Die überwiegende Zahl der Menschen im Land verfügt aber nicht über Devisen, über Euro oder US-Dollar. Sie leiden unter der Inflation.

Verfehlte Politik ist schuld an Inflation

Istanbul. Hier hat Baris Soydan sein Büro. Er ist Autor, Journalist und Wirtschaftsexperte. Anders als Präsident Erdogan sieht er die Ursachen für die Inflation in einer verfehlten Politik. Mit dem Wirtschaftsmodell von Erdogan geht er hart ins Gericht:
„Präsident Erdogan ist mit der altbewährten Wirtschaftspolitik nicht einverstanden. Sein Finanzminister nennt sie orthodox . Erdogan sagt:  Ihr liegt falsch, dagegen ist unsere Strategie die Richtige!'  'Hoher Zins senkt die Inflation nicht, sondern hoher Zins ist der Grund für hohe Inflation!'
Wir müssen also hier von einer Wirtschafts- und Währungspolitik sprechen, die  als Erdogan-Modell bezeichnet werden kann. Man nennt es mittlerweile auch ‚Erdonomie‘. Ein weltweit einmaliges, Türkei-spezifisches Modell."

Regierung will überleben bis zur Wahl 2023

Dieses Modell kann nicht funktionieren, meint Soydan. Wie es etwa Exporte fördern solle, wenn Firmen gezwungen würden, ein Viertel ihrer Devisen-Erlöse und ebenso einen Teil von Krediten in Devisen in türkische Lira umzutauschen, fragt er.
Dabei möchte die Regierung der Türkei nicht nur mehr Exporte sehen, sondern mit ihrer Politik der niedrigeren Zinsen zusätzlich neue Investoren aus dem Ausland anlocken. Solide Wirtschaftspolitik sieht für Soydan anders aus. Er ist überzeugt, dass die Regierung mit ihrem neuen Wirtschaftsmodell vor allem ein Ziel verfolgt, nämlich es irgendwie zu schaffen, wiedergewählt zu werden.
"Erstens haben sie dieses angebliche Modell eingeführt, nachdem die Krise ausgebrochen ist. Zweitens ist diese Regierungspartei seit 20 Jahren im Amt. Ist es ihr jetzt erst plötzlich eingefallen, dass das alte Modell nichts taugt? Drittens, sie sind auch nicht konsistent: Erst haben sie gesagt, es sei das China-Modell, jetzt behaupten sie, es sei ein der neuen Türkei eigenes Modell.
Außerdem ist die angewandte Wirtschaftspolitik überhaupt nicht im Einklang mit den Zielen dieses Modells: Sie sagen, sie wollen den Export fördern, aber das tun sie nicht. Nein, nichts. Das wahre Ziel hinter diesem Ganzen ist es, bis zu den Wahlen 2023 die Devisenkurse in Schach zu halten."

Mindestlohnanhebung zahlt sich nicht aus

Tatsächlich tut die Regierung aber schon jetzt etwas dafür, um die Folgen der Inflation für die Menschen erträglicher zu machen, etwa durch die Anhebung des Mindestlohns Anfang des Jahres um rund 50 Prozent. Politisch zahlt sich das für Erdogan und seine AKP allerdings noch nicht aus, sagt Politikberater Suat Özcelebi, der auch schon für die AKP Kampagnen gemacht hat. 
"Wir sehen, dass solche Maßnahmen die wirtschaftliche Lage der Menschen durchaus verbessern. Dennoch sind die rund zehn Prozent der Wähler, die sich von der AKP abgewandt haben, noch nicht wieder zu ihr zurückgekehrt."
Immerhin kann die AKP – trotz der Entwicklung der letzten Monate –nach Umfragen mit mindestens 30 Prozent rechnen. Um eine neue Regierungsmehrheit zustande zu bekommen, müsste sie allerdings wohl noch zulegen.

Wiederwahl Erdogans ist nicht sicher

Auch Recep Tayyip Erdogan, seit 2014 Präsident der Türkei,  kann sich seiner Sache keineswegs sicher sein. Auch wenn der Präsident separat gewählt wird.  Hat er Chancen auf eine weitere  Amtszeit? Für Politikberater Suat Özcelebi ist die Antwort klar:
"Ja, durchaus. Denn es fehlen ihm gegenwärtig zwar gut zehn Prozent für eine Wiederwahl mit absoluter Mehrheit, doch wir Politikbeobachter wissen, dass Erdogan diese zehn Prozentpunkte aufholen kann. Denn schwindendes Vertrauen für ihn führt nicht automatisch zu mehr Vertrauen in einen Kandidaten der Opposition."
„Die Opposition“ besteht aus einem Bündnis von Mitte-links bis rechts. Sie hat sich noch nicht auf einen Präsidentschaftskandidaten geeinigt.

Sich mit der Inflation erst mal arrangieren

Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass viele Menschen im Land meinen, die Opposition könne es auch nicht besser. Das sieht die Vorsitzende der konservativen so genannten „Guten Partei“, Meral Aksener, anders. Sie macht Erdogan und das unter ihm eingeführte Regierungssystem für die aktuelle Situation verantwortlich:
Die Türkei kann in dieser Instabilität nicht weiterleben. Diese vom Präsidialsystem verursachte Krise wird in die Geschichte als die 'Erdogan-Krise' eingehen.
Miserable Politik, schlechtes Wirtschaftsmanagement und der Strudel aus Wechselkurs und Inflation haben die Türkei heute leider zu dem Land mit der weltweit fünfthöchsten Inflationsrate gemacht. Allein in den vergangenen vier Monaten hat die türkische Lira die Hälfte ihres Wertes verloren.“  
Vorerst aber bleibt den meisten nichts anderes übrig, als sich mit der Inflation zu arrangieren. Der Traum vom  Wohlstand, wie ihn einst schon Tanju Orkan besang, dürfte erst mal nur ein Traum bleiben.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema