Türken und Kurden sind Brüder
Im vergangenen Monat sagte der türikische Regierungschef Tayip Erdogan vor dem türkischen Parlament: "Die Türkei wird von jetzt an offen über alles sprechen und diskutieren", und er meinte damit den jahrzehntelang totgeschwiegenen, gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen Türken und Kurden in seinem Land.
Mit seiner "Demokratischen Initiative", die bis Jahresende das Parlament passiert haben und in großen Teilen dann auch schon umgesetzt sein soll, will Erdogan sich "dem Problem stellen, koste es was es wolle". So wird zurzeit die kurdische Sprache zur Lehre an den Universitäten neu zugelassen. Doch Wut und Angst sitzen tief in den Köpfen der türkischen Gesellschaft. Und in denen von Tausenden Kurden, die seit Jahrzehnten diskriminiert, vertrieben und bedroht wurden – von der kurdischen Untergrundorganisation PKK genauso wie vom türkischen Militär.
Wäsche baumelt zwischen bunt angepinselten Häusern über der staubigen Straße. Ein barfüßiger Junge wühlt in einem Müllhaufen, pickt sich leere Plastikflaschen heraus. Es ist Mittagszeit in Istanbuls zentralem Stadtteil Tarlabasi - heimlich "Klein-Kurdistan" genannt. Vor einem heruntergekommenen Teehaus stehen Männer in billigen Lederjacken, rauchen, trinken Tee aus kleinen bauchigen Gläsern - wie jeden Tag.
Salim: "Er sagte, geh! Er sagte, verlass dein Dorf! Er sagte, wenn ihr nicht geht, brennen wir euch und das ganze Dorf nieder … Wir konnten nicht mal eine Nadel mitnehmen, wir hatten nur noch Zeit davonzurennen."
Der 53-jährige Salim fuchtelt mit dem Finger in der Luft herum, erzählt von den türkischen Soldaten, die ihn und seine Familie vor 12 Jahren aus ihrer Heimat im Südosten des Landes vertrieben. Salims Türkisch ist schlecht – in Tarlabasi spricht man Kurdisch.
Salim: "Ich wollte arbeiten, aber als Kurde konnte ich keine Arbeit finden. Ich hatte noch nicht mal Geld, um die Miete zu bezahlen. Ich wurde ständig festgenommen und gefoltert, so ist es vielen gegangen. Hunderte unserer Verwandten wurden getötet oder gefoltert. Fragen sie hier, ist hier irgendjemand, der nicht gefoltert wurde?"
Inzwischen haben sich zehn oder zwölf Männer um Salim versammelt, es riecht nach Tabak, Rasierwasser, Schweiß. Ein alter Mann lehnt sich auf seinen Stock, nickt zustimmend während Salim spricht. Andere kneifen misstrauisch die Augen zusammen, stehen abseits. – Es kommt selten vor, dass jemand die Kurden in Tarlabasi nach ihrem Leben fragt. "Wenn wir könnten, würden wir alle hier abhauen", sagt Abdurahman, guckt durch zentimeterdicke Brillengläser. Bei einer Explosion vor 5 Jahren verlor er 90 Prozent seiner Sehkraft. Sein Gesicht ist übersäht mit kleinen Narben.
Abdurahman: "Hier gibt es zu viele Drogen, Haschisch und Heroin. Es gibt viel Dreck in Tarlabasi. Und unsere Kinder werden zu dem, was sie um sich herum sehen. Es ist unmöglich, seine Kinder hier großzuziehen."
Die Männer kommen in Fahrt. Sie sind hoffnungslos, traumatisiert, wütend. Auf wen, das wissen viele inzwischen selbst nicht mehr genau. Auf die Türken, die ihnen keine Arbeit geben, auf die Drogendealer in Tarlabasi, auf das Militär, das ihre Dörfer überfallen und zerstört, auf die kurdische Untergrundorganisation PKK, die ihnen nicht geholfen hat. Vor allem aber sind sie wütend auf die türkische Regierung, die seit Jahrzehnten nichts an ihrer Situation ändert.
Als "Opfersyndrom" bezeichnet Psychologe Prof. Dr. Yanik das, was das Leben der meisten Kurden in der Türkei bestimmt. Weit weg vom dreckigen Tarlabasi sitzt er in einem blitzblanken Hochhaus – dem Verwaltungsgebäude der "Istanbul City Universität". Yanik untersucht die Spirale der Gewalt im Kurdenkonflikt – aus Psychologensicht.
Dr. Yanik: "Gewalt führt zu neuer Gewalt und die führt wieder zu Gewalt - so entsteht ein Teufelskreis. Jemand, der zum Beispiel als Kind Gewalt in der Familie erfahren hat, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit später Gewalt in seiner eigenen Familie anwenden. Wenn wir uns den Kurdenkonflikt ansehen, sehen wir genau diesen Teufelskreis."
Während er spricht, kritzelt Yanik einen Kreis auf einen Zettel, umrundet ihn immer und immer wieder mit dem Kuli. Ein Teufelskreis, in dem in den letzten 25 Jahren mehr als 40.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Kurdische PKK-Kämpfer, türkische Soldaten, Zivilisten.
Dr. Yanik: "Wenn wir nach Diyarbakir, in den Südosten der Türkei blicken, sehen wir auch einen Anstieg der Gewalt im täglichen Leben. Das passiert nicht nur in Diyarbakir sondern zum Beispiel auch im Irak. Die Gegenwart des militärischen Konflikts verstärkt jede Art von Alltagsproblemen: Gewalt in der Familie, Anstieg der Selbstmordrate, Drogenmissbrauch, Prostitution, Diebstahl usw. Gewalt in all ihren Formen wird wie eine Mode, ein Lebensstil."
Yanik betrachtet seine Zeichnung, schweigt einen Moment. Die Gewalt zwischen PKK und türkischem Militär hat ganze Generationen in der Türkei geprägt, unzählige Familien auf beiden Seiten zerstört. Sie hat den Südosten des Landes zum unterentwickelten, vom Terror gezeichneten Hinterland gemacht, hat Parallelgesellschaften und radikalen Nationalismus gestärkt. Die Lösung, meint Yanik, kann nur einer bringen:
Dr. Yanik: "In dieser Situation muss ein cleverer Staat derjenige sein, der den Schlusspunkt setzt. Denn derjenige, der in der Lage ist aus dem Kreis auszubrechen, kann die Situation kontrollieren. Einer muss von außen auf das Geschehen gucken und eine neue Politik, neue Spielregeln kreieren. Es gibt keinen anderen Weg. Natürlich kann auch die PKK aufhören zu kämpfen. Aber am Ende ist der Staat die dominierende Macht. Niemand anders. Für die Zukunft dieses Landes muss der Staat zuerst und aus dem Teufelskreis ausbrechen."
Der türkische Staat muss den Anfang machen, nicht die PKK! Das war bis vor kurzem noch die Meinung einer linken Minderheit in der Türkei. In nur wenigen Wochen wurde sie salonfähig. Im August leiteten Premier Erdoğan und seine gemäßigt islamische Regierung die so genannte "Demokratische Initiative" ein. Schon zu Beginn des Jahres ging der erste kurdischsprachige TV-Sender auf Sendung. Seit einem Monat ist nun Kurdisch an Universitäten erlaubt – im Südosten des Landes sollen endlich zwei Fakultäten für kurdische Sprache und Kultur entstehen. Türkisierte Ortsnamen sollen wieder ihre ursprünglich kurdischen Namen erhalten, Familien das Recht, ihren Kindern kurdische Namen zu geben. Erdoğans wiederholte Selbstkritik an der bisherigen türkischen Minderheitenpolitik, seine Frage "Was haben wir angerichtet?" glich einer kleinen Revolution im türkischen Parlament.
Erdoğan: "Wir hätten das Problem weiterhin ignorieren können und kein Risiko eingehen müssen. Doch dann hätten wir voller Scham vor unserer Geschichte und unserer Nation gestanden. Die Türkei wird von jetzt an offen über alles sprechen und diskutieren!"
Doch nicht alle in der Türkei haben ein Interesse an so viel Offenheit. Prompt wittert die nationalistische Opposition die Gefährdung der nationalen Einheit. Ein Argument, das seit Republikgründer Atatürks Zeiten die Minderheitenrechte in der Türkei beschneidet. Devlet Bahceli, der Vorsitzende der nationalistischen Oppositionspartei MHP, weigert sich auch nur mit Erdoğan zu sprechen. Die "Demokratische Initiative" bezeichnete er gleich nach ihrer Ankündigung im August auf einem Parteitag als einen "Verrat an der Republik." Einen "historischen Fehler, der "ethnischen Terrorismus" bestärke.
Und auch von links kommt Kritik. Die pro-kurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft, DTP, unterstützt Erdoğans Initiative – doch sie geht ihr nicht weit genug. Ihre Abgeordneten fordern eine Verfassungsänderung und die offizielle Anerkennung der Kurden als Minderheit. Vor allem aber die Einbeziehung von Abdullah Öcalan. Der PKK-Führer verbüßt seit 1999 eine lebenslängliche Einzelhaftstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali. Sein Einfluss ist trotz Isolation groß, meint Politikwissenschaftlerin Zeynep Gambetti von der Boğaziçi-Universität in Istanbul.
Gambetti: "Öcalan spielt immer noch eine große Rolle – trotz Hoffnungen, dass es anders wäre. Er ist eine symbolische Figur für die Kurden, die in der Türkei leben. Und er hat immer noch Macht. Das sehen wir an der Art, wie aktuelle kurdische Akteure seine Worte aufnehmen und aufheizen. Er spielt also immer noch eine führende Rolle."
Eine Rolle, die Erdoğans "Demokratische Initiative" leicht zu Fall bringen - ihm zumindest die Unterstützung wichtiger Gruppen versagen könnte: Opposition, PKK, Militär, Medien. Öcalans Einbeziehung ist für die Einen Vorrausetzung, für die Anderen Ausschlusskriterium. Schon im Sommer hatte "der Führer", wie ihn seine Anhänger nennen, einen eigenen Fahrplan zum Kurdenkonflikt angekündigt. Darin fordert er weitgehende Autonomie für die Kurden im Land. Der Plan wurde noch vor seiner Veröffentlichung von der Regierung beschlagnahmt.
Gambetti: "Ich glaube nicht, dass die Umstände in der Türkei gegeben sind, Öcalans Friedensfahrplan einzubeziehen. Das würde bedeuten, mehr als die Hälfte der Gesellschaft zu verlieren. Weil die ganz großen Veränderungen so viel ideologischen Streit, so viel Feindschaft provozieren, dass es unmöglich würde, noch voranzukommen. Es sind kleine Veränderungen, die wir im Moment brauchen. Institutionen, an denen man kurdische Kultur und Sprache studieren kann oder die Erlaubnis, dass kurdische Kinder ein oder zwei Stunden in der Woche Kurdischunterricht bekommen dürfen. Das wären sehr kleine Schritte, die in Zukunft vielleicht den Weg für größere frei machen würden."
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Auch Militärsprecher und PKK-Kreise haben zwar inzwischen ihre Unterstützung für eine demokratische Lösung des Konflikts zugesagt. Dennoch ziehen längst nicht alle Mächtigen in der Türkei an einem Strang, meint Gambetti.
"Etwas, was uns die Kurdenfrage auf jeden Fall gezeigt hat, ist, dass autoritäre Strukturen ein Interesse an bestehenden Konflikten haben. Also, das könnte die türkische Armee sein, aber auch politische Führer. Solange es Konflikte in der Gesellschaft gibt, können sie den Weg kontrollieren, in dem die Menschen denken und reagieren."
Die Diskussionen um die "Demokratische Initiative" in der Türkei halten seit Monaten an – nicht nur im Parlament, sondern längst auch in den Straßen und Teehäusern von Istanbul bis nach Diyarbakir. Dort, im kurdischen Südosten, ist die Popularität Erdoğans und seiner AK-Partei gestiegen. Und auch von der EU gab es Lob für die Initiative. Also alles nur Wahlkampftaktik?
Gambetti: "Als die Initiative zum ersten Mal angekündigt wurde, sah das Ganze wirklich aus wie eine Art Wahlspiel. Weil die AKP gerade in den Kommunalwahlen Stimmen verloren hatte, gerade in den kurdischen Gebieten. Aber jetzt glaube ich nicht mehr, dass es um Wahlkampftaktik geht. Sie haben Diskussionen in Gang gesetzt, die sie nicht mehr von A-Z kontrollieren können. Schon die Akzeptanz, dass diese so genannte kurdische Frage keine militärische Frage, sondern eine zivile Frage ist. Eine Frage der Gesellschaft, von Menschen, die lernen müssen miteinander zu leben. Es ist das erste Mal, dass bestimmte Gruppen überhaupt zusammen kommen um über dieses Thema zu sprechen."
So viel Zuversicht zum jahrzehntealten Kurdenkonflikt ist ungewöhnlich für die Türkei. Und doch hält der vorsichtige Optimismus seit Monaten an.
Nur einen Katzensprung vom Kurdenviertel Tarlabasi entfernt liegt Istanbuls Partyviertel Beyoglu. Auf der Istiklal-Straße schieben sich junge und alte Türken an den Filialen internationaler Modeketten, an hippen Cafés und überteuerten Antiquariaten vorbei. Der 29-jährige Verkäufer Tarik sitzt in einer kleinen Seitengasse, Mittagspause.
Tarik: "Ich bin mit diesem Konflikt aufgewachsen, er war immer da. Aber es war immer ein Tabu ihn auch nur anzusprechen. Es gab keinen Kurdenkonflikt, wenn überhaupt, dann gab es nur ein Problem mit der PKK - und das waren Terroristen. Aber diesmal ist wirklich etwas anders. Wenn ich die Zeitung aufschlage oder mich mit meinen Freunden unterhalte, dann merke ich das. Ich wundere mich wirklich, was in meinem Land plötzlich los ist! Ich hoffe, dass diesmal wirklich alles anders wird, aber wir müssen abwarten."
Abwarten, das wollen auch Salim, Abdurrahman und die anderen Männer in Tarlabasi. Denn noch Ist Erdogans "Demokratische Initiative" nur ein Plan. Noch warten Mitglieder der pro-kurdischen DTP auf ihre Prozesse weil sie den Terrorismus unterstützt haben sollen. Die Partei soll geschlossen werden – wie schon mehrere andere kurdische Parteien vor ihr. Noch werden sogar kurdische Kinder angeklagt, die anderen heimlich Kurdischunterricht geben. Noch werden kurdischsprachige Zeitungen überwacht und geschlossen. Und so bleibt der 53-jährige Salim vorsichtig.
Salim: "Wir glauben der Regierung nicht, weil sie uns immer nur betrogen hat. Wir werden erst dann etwas glauben, wenn wir es sehen. Aber von jetzt an wird nichts mehr verheimlicht. Wir sind Kurden und wir wollen unsere Rechte!"
Inzwischen dämmert es, die ersten Männer machen sich auf den Weg nachhause, zum Abendessen. Morgen werden sie wieder hier sitzen, Tee trinken und darauf hoffen, dass ihre Kinder eines Tages ein besseres Leben als Kurden in der Türkei führen werden.
Wäsche baumelt zwischen bunt angepinselten Häusern über der staubigen Straße. Ein barfüßiger Junge wühlt in einem Müllhaufen, pickt sich leere Plastikflaschen heraus. Es ist Mittagszeit in Istanbuls zentralem Stadtteil Tarlabasi - heimlich "Klein-Kurdistan" genannt. Vor einem heruntergekommenen Teehaus stehen Männer in billigen Lederjacken, rauchen, trinken Tee aus kleinen bauchigen Gläsern - wie jeden Tag.
Salim: "Er sagte, geh! Er sagte, verlass dein Dorf! Er sagte, wenn ihr nicht geht, brennen wir euch und das ganze Dorf nieder … Wir konnten nicht mal eine Nadel mitnehmen, wir hatten nur noch Zeit davonzurennen."
Der 53-jährige Salim fuchtelt mit dem Finger in der Luft herum, erzählt von den türkischen Soldaten, die ihn und seine Familie vor 12 Jahren aus ihrer Heimat im Südosten des Landes vertrieben. Salims Türkisch ist schlecht – in Tarlabasi spricht man Kurdisch.
Salim: "Ich wollte arbeiten, aber als Kurde konnte ich keine Arbeit finden. Ich hatte noch nicht mal Geld, um die Miete zu bezahlen. Ich wurde ständig festgenommen und gefoltert, so ist es vielen gegangen. Hunderte unserer Verwandten wurden getötet oder gefoltert. Fragen sie hier, ist hier irgendjemand, der nicht gefoltert wurde?"
Inzwischen haben sich zehn oder zwölf Männer um Salim versammelt, es riecht nach Tabak, Rasierwasser, Schweiß. Ein alter Mann lehnt sich auf seinen Stock, nickt zustimmend während Salim spricht. Andere kneifen misstrauisch die Augen zusammen, stehen abseits. – Es kommt selten vor, dass jemand die Kurden in Tarlabasi nach ihrem Leben fragt. "Wenn wir könnten, würden wir alle hier abhauen", sagt Abdurahman, guckt durch zentimeterdicke Brillengläser. Bei einer Explosion vor 5 Jahren verlor er 90 Prozent seiner Sehkraft. Sein Gesicht ist übersäht mit kleinen Narben.
Abdurahman: "Hier gibt es zu viele Drogen, Haschisch und Heroin. Es gibt viel Dreck in Tarlabasi. Und unsere Kinder werden zu dem, was sie um sich herum sehen. Es ist unmöglich, seine Kinder hier großzuziehen."
Die Männer kommen in Fahrt. Sie sind hoffnungslos, traumatisiert, wütend. Auf wen, das wissen viele inzwischen selbst nicht mehr genau. Auf die Türken, die ihnen keine Arbeit geben, auf die Drogendealer in Tarlabasi, auf das Militär, das ihre Dörfer überfallen und zerstört, auf die kurdische Untergrundorganisation PKK, die ihnen nicht geholfen hat. Vor allem aber sind sie wütend auf die türkische Regierung, die seit Jahrzehnten nichts an ihrer Situation ändert.
Als "Opfersyndrom" bezeichnet Psychologe Prof. Dr. Yanik das, was das Leben der meisten Kurden in der Türkei bestimmt. Weit weg vom dreckigen Tarlabasi sitzt er in einem blitzblanken Hochhaus – dem Verwaltungsgebäude der "Istanbul City Universität". Yanik untersucht die Spirale der Gewalt im Kurdenkonflikt – aus Psychologensicht.
Dr. Yanik: "Gewalt führt zu neuer Gewalt und die führt wieder zu Gewalt - so entsteht ein Teufelskreis. Jemand, der zum Beispiel als Kind Gewalt in der Familie erfahren hat, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit später Gewalt in seiner eigenen Familie anwenden. Wenn wir uns den Kurdenkonflikt ansehen, sehen wir genau diesen Teufelskreis."
Während er spricht, kritzelt Yanik einen Kreis auf einen Zettel, umrundet ihn immer und immer wieder mit dem Kuli. Ein Teufelskreis, in dem in den letzten 25 Jahren mehr als 40.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Kurdische PKK-Kämpfer, türkische Soldaten, Zivilisten.
Dr. Yanik: "Wenn wir nach Diyarbakir, in den Südosten der Türkei blicken, sehen wir auch einen Anstieg der Gewalt im täglichen Leben. Das passiert nicht nur in Diyarbakir sondern zum Beispiel auch im Irak. Die Gegenwart des militärischen Konflikts verstärkt jede Art von Alltagsproblemen: Gewalt in der Familie, Anstieg der Selbstmordrate, Drogenmissbrauch, Prostitution, Diebstahl usw. Gewalt in all ihren Formen wird wie eine Mode, ein Lebensstil."
Yanik betrachtet seine Zeichnung, schweigt einen Moment. Die Gewalt zwischen PKK und türkischem Militär hat ganze Generationen in der Türkei geprägt, unzählige Familien auf beiden Seiten zerstört. Sie hat den Südosten des Landes zum unterentwickelten, vom Terror gezeichneten Hinterland gemacht, hat Parallelgesellschaften und radikalen Nationalismus gestärkt. Die Lösung, meint Yanik, kann nur einer bringen:
Dr. Yanik: "In dieser Situation muss ein cleverer Staat derjenige sein, der den Schlusspunkt setzt. Denn derjenige, der in der Lage ist aus dem Kreis auszubrechen, kann die Situation kontrollieren. Einer muss von außen auf das Geschehen gucken und eine neue Politik, neue Spielregeln kreieren. Es gibt keinen anderen Weg. Natürlich kann auch die PKK aufhören zu kämpfen. Aber am Ende ist der Staat die dominierende Macht. Niemand anders. Für die Zukunft dieses Landes muss der Staat zuerst und aus dem Teufelskreis ausbrechen."
Der türkische Staat muss den Anfang machen, nicht die PKK! Das war bis vor kurzem noch die Meinung einer linken Minderheit in der Türkei. In nur wenigen Wochen wurde sie salonfähig. Im August leiteten Premier Erdoğan und seine gemäßigt islamische Regierung die so genannte "Demokratische Initiative" ein. Schon zu Beginn des Jahres ging der erste kurdischsprachige TV-Sender auf Sendung. Seit einem Monat ist nun Kurdisch an Universitäten erlaubt – im Südosten des Landes sollen endlich zwei Fakultäten für kurdische Sprache und Kultur entstehen. Türkisierte Ortsnamen sollen wieder ihre ursprünglich kurdischen Namen erhalten, Familien das Recht, ihren Kindern kurdische Namen zu geben. Erdoğans wiederholte Selbstkritik an der bisherigen türkischen Minderheitenpolitik, seine Frage "Was haben wir angerichtet?" glich einer kleinen Revolution im türkischen Parlament.
Erdoğan: "Wir hätten das Problem weiterhin ignorieren können und kein Risiko eingehen müssen. Doch dann hätten wir voller Scham vor unserer Geschichte und unserer Nation gestanden. Die Türkei wird von jetzt an offen über alles sprechen und diskutieren!"
Doch nicht alle in der Türkei haben ein Interesse an so viel Offenheit. Prompt wittert die nationalistische Opposition die Gefährdung der nationalen Einheit. Ein Argument, das seit Republikgründer Atatürks Zeiten die Minderheitenrechte in der Türkei beschneidet. Devlet Bahceli, der Vorsitzende der nationalistischen Oppositionspartei MHP, weigert sich auch nur mit Erdoğan zu sprechen. Die "Demokratische Initiative" bezeichnete er gleich nach ihrer Ankündigung im August auf einem Parteitag als einen "Verrat an der Republik." Einen "historischen Fehler, der "ethnischen Terrorismus" bestärke.
Und auch von links kommt Kritik. Die pro-kurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft, DTP, unterstützt Erdoğans Initiative – doch sie geht ihr nicht weit genug. Ihre Abgeordneten fordern eine Verfassungsänderung und die offizielle Anerkennung der Kurden als Minderheit. Vor allem aber die Einbeziehung von Abdullah Öcalan. Der PKK-Führer verbüßt seit 1999 eine lebenslängliche Einzelhaftstrafe auf der Gefängnisinsel Imrali. Sein Einfluss ist trotz Isolation groß, meint Politikwissenschaftlerin Zeynep Gambetti von der Boğaziçi-Universität in Istanbul.
Gambetti: "Öcalan spielt immer noch eine große Rolle – trotz Hoffnungen, dass es anders wäre. Er ist eine symbolische Figur für die Kurden, die in der Türkei leben. Und er hat immer noch Macht. Das sehen wir an der Art, wie aktuelle kurdische Akteure seine Worte aufnehmen und aufheizen. Er spielt also immer noch eine führende Rolle."
Eine Rolle, die Erdoğans "Demokratische Initiative" leicht zu Fall bringen - ihm zumindest die Unterstützung wichtiger Gruppen versagen könnte: Opposition, PKK, Militär, Medien. Öcalans Einbeziehung ist für die Einen Vorrausetzung, für die Anderen Ausschlusskriterium. Schon im Sommer hatte "der Führer", wie ihn seine Anhänger nennen, einen eigenen Fahrplan zum Kurdenkonflikt angekündigt. Darin fordert er weitgehende Autonomie für die Kurden im Land. Der Plan wurde noch vor seiner Veröffentlichung von der Regierung beschlagnahmt.
Gambetti: "Ich glaube nicht, dass die Umstände in der Türkei gegeben sind, Öcalans Friedensfahrplan einzubeziehen. Das würde bedeuten, mehr als die Hälfte der Gesellschaft zu verlieren. Weil die ganz großen Veränderungen so viel ideologischen Streit, so viel Feindschaft provozieren, dass es unmöglich würde, noch voranzukommen. Es sind kleine Veränderungen, die wir im Moment brauchen. Institutionen, an denen man kurdische Kultur und Sprache studieren kann oder die Erlaubnis, dass kurdische Kinder ein oder zwei Stunden in der Woche Kurdischunterricht bekommen dürfen. Das wären sehr kleine Schritte, die in Zukunft vielleicht den Weg für größere frei machen würden."
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Auch Militärsprecher und PKK-Kreise haben zwar inzwischen ihre Unterstützung für eine demokratische Lösung des Konflikts zugesagt. Dennoch ziehen längst nicht alle Mächtigen in der Türkei an einem Strang, meint Gambetti.
"Etwas, was uns die Kurdenfrage auf jeden Fall gezeigt hat, ist, dass autoritäre Strukturen ein Interesse an bestehenden Konflikten haben. Also, das könnte die türkische Armee sein, aber auch politische Führer. Solange es Konflikte in der Gesellschaft gibt, können sie den Weg kontrollieren, in dem die Menschen denken und reagieren."
Die Diskussionen um die "Demokratische Initiative" in der Türkei halten seit Monaten an – nicht nur im Parlament, sondern längst auch in den Straßen und Teehäusern von Istanbul bis nach Diyarbakir. Dort, im kurdischen Südosten, ist die Popularität Erdoğans und seiner AK-Partei gestiegen. Und auch von der EU gab es Lob für die Initiative. Also alles nur Wahlkampftaktik?
Gambetti: "Als die Initiative zum ersten Mal angekündigt wurde, sah das Ganze wirklich aus wie eine Art Wahlspiel. Weil die AKP gerade in den Kommunalwahlen Stimmen verloren hatte, gerade in den kurdischen Gebieten. Aber jetzt glaube ich nicht mehr, dass es um Wahlkampftaktik geht. Sie haben Diskussionen in Gang gesetzt, die sie nicht mehr von A-Z kontrollieren können. Schon die Akzeptanz, dass diese so genannte kurdische Frage keine militärische Frage, sondern eine zivile Frage ist. Eine Frage der Gesellschaft, von Menschen, die lernen müssen miteinander zu leben. Es ist das erste Mal, dass bestimmte Gruppen überhaupt zusammen kommen um über dieses Thema zu sprechen."
So viel Zuversicht zum jahrzehntealten Kurdenkonflikt ist ungewöhnlich für die Türkei. Und doch hält der vorsichtige Optimismus seit Monaten an.
Nur einen Katzensprung vom Kurdenviertel Tarlabasi entfernt liegt Istanbuls Partyviertel Beyoglu. Auf der Istiklal-Straße schieben sich junge und alte Türken an den Filialen internationaler Modeketten, an hippen Cafés und überteuerten Antiquariaten vorbei. Der 29-jährige Verkäufer Tarik sitzt in einer kleinen Seitengasse, Mittagspause.
Tarik: "Ich bin mit diesem Konflikt aufgewachsen, er war immer da. Aber es war immer ein Tabu ihn auch nur anzusprechen. Es gab keinen Kurdenkonflikt, wenn überhaupt, dann gab es nur ein Problem mit der PKK - und das waren Terroristen. Aber diesmal ist wirklich etwas anders. Wenn ich die Zeitung aufschlage oder mich mit meinen Freunden unterhalte, dann merke ich das. Ich wundere mich wirklich, was in meinem Land plötzlich los ist! Ich hoffe, dass diesmal wirklich alles anders wird, aber wir müssen abwarten."
Abwarten, das wollen auch Salim, Abdurrahman und die anderen Männer in Tarlabasi. Denn noch Ist Erdogans "Demokratische Initiative" nur ein Plan. Noch warten Mitglieder der pro-kurdischen DTP auf ihre Prozesse weil sie den Terrorismus unterstützt haben sollen. Die Partei soll geschlossen werden – wie schon mehrere andere kurdische Parteien vor ihr. Noch werden sogar kurdische Kinder angeklagt, die anderen heimlich Kurdischunterricht geben. Noch werden kurdischsprachige Zeitungen überwacht und geschlossen. Und so bleibt der 53-jährige Salim vorsichtig.
Salim: "Wir glauben der Regierung nicht, weil sie uns immer nur betrogen hat. Wir werden erst dann etwas glauben, wenn wir es sehen. Aber von jetzt an wird nichts mehr verheimlicht. Wir sind Kurden und wir wollen unsere Rechte!"
Inzwischen dämmert es, die ersten Männer machen sich auf den Weg nachhause, zum Abendessen. Morgen werden sie wieder hier sitzen, Tee trinken und darauf hoffen, dass ihre Kinder eines Tages ein besseres Leben als Kurden in der Türkei führen werden.