Türkische Wissenschaftler in Deutschland

Akademiker wehren sich im Exil

05:52 Minuten
Wissenschaftler in Ankara haben aus Protest gegen die Entlassung von Kollegen ihre Talare vor die Universtät gelegt.
Widerstand in der Türkei: In Ankara demonstrieren am 10. Februar 2017 Wissenschaftler gegen die Entlassung von Kollegen. © Picture Alliance / dpa / Depo Photos / abaca
Von Luise Sammann · 23.05.2019
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In der Türkei droht ihnen Gefängnis: Viele Wissenschafter sind nach Deutschland geflohen. Aus ihrem Exil bleiben sie weiterhin aktiv und verfolgen mit Sorge die Entwicklung in ihrer Heimat.
"Vor Kurzem habe ich einen Verwandten verloren, der mir sehr viel bedeutet hat. Nicht zu seiner Beerdigung gehen und ihm seine letzte Ehre erweisen zu dürfen, das war schwer."
Nevra Akdemir sitzt in einem Restaurant in Berlin-Kreuzberg. Draußen rauscht der Regen und erinnert die türkische Wissenschaftlerin daran, wie weit entfernt von ihrer Heimat sie jetzt lebt. Akdemir kann nicht zurück in die Türkei. Weil sie per Facebook und Twitter die prokurdische Partei HDP unterstützt hat, fordert die Staatsanwaltschaft zehn bis zwölf Jahre Gefängnis wegen Terrorpropaganda. Bei der Einreise droht ihr die Verhaftung.
"Ich habe früher auch schon im Ausland gelebt. Aber ins Exil gehen zu müssen, fühlt sich schrecklich an. Plötzlich merkt man, dass einem die Gerüche fehlen, an die man gewöhnt ist. Das Essen, die Straßen. Manchmal denke ich, wenn sie mich nur zu ein paar Jahren verurteilt hätten, wäre ich vielleicht lieber ins Gefängnis gegangen, anstatt hier ganz neu anfangen zu müssen."

Stipendien für verfolgte Wissenschaftler

So wie Nevra Akdemir geht es vielen türkischen Wissenschaftlern, die seit den Klage- und Verhaftungswellen der vergangenen Jahre nach Deutschland gekommen sind. Auf der einen Seite sind sie froh, dass sie überhaupt in Freiheit weiterarbeiten dürfen. Durch Stipendien und Sonderprogramme konnten viele von ihnen vorübergehend an deutschen Universitäten unterkommen.
Auf der anderen Seite sind oft nicht nur ihre Familien und Freunde sondern auch ihre Gedanken in der Heimat geblieben. Während dort der Kampf um Demokratie oder Diktatur weitergeht, mühen sich gestandene Universitätsprofessorinnen wie Nevra Akdemir nun mit dem Alltag in Deutschland ab.
"Teilweise wird ihnen noch dieses Jahr ihr Pass entzogen und sie wissen einfach nicht, was danach ihr Aufenthaltsstatus sein wird."
Anne Berger betreut an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Gruppe von acht türkischen Stipendiatinnen des vom Berliner Senat finanzierten Einstein-Programms betreut.
"Ohne Pass, das haben wir gerade bei einer unserer Wissenschaftlerinnen, kannst du ganz viele Dinge nicht machen. Kannst kein Bankkonto eröffnen, kannst nicht mehr außerhalb Deutschlands reisen. Das ist nur der Anfang. Da hängt noch eine ganze Kette dran. Sei das mit meine Wohnung in Istanbul, soll ich die auflösen oder soll ich sie noch halten? Kann ich bald wieder dorthin zurück? Wie lange kann ich überhaupt noch pendeln – wenn sie überhaupt noch die Möglichkeit haben, zurück in die Türkei zu fliegen? "

180 Urteile wegen Friedensappells

Fragen, die sich auch die Medienwissenschaftlerin Gülcin Balamir Coskun stellt, seit sie vor eineinhalb Jahren nach Berlin kam. Als Unterzeichnerin der Petition "Akademiker für den Frieden" hatte sie die türkische Regierung im Januar 2016 gemeinsam mit etwa 2200 anderen Wissenschaftlern dazu aufgerufen, die Waffengewalt im kurdischen Südosten zu beenden. Fast 700 Unterzeichner wurden seitdem wegen Terrorpropaganda angeklagt, mehr als 180 verurteilt. Coskuns Urteil steht noch aus.
"Das Leben hier ist nicht leicht für uns. Wie jeder Einwanderer, müssen wir uns um eine Wohnung kümmern, Schulen für unsere Kinder finden, die Sprache lernen. Für jeden noch so kurzen Brief brauche ich Hilfe", erklärt Coskun, Mutter von zwei Söhnen.

"Die Situation in der Türkei wird zusehends schlechter"

Immerhin: Als Einstein-Stipendiatin hat sie für zwei Jahre ein Einkommen, darf als Hilfswissenschaftlerin an der HU forschen.
"Was danach kommt, kann ich nicht sagen. Diese Planungsunsicherheit ist das schwierigste an unserem Leben hier. Der deutsche Wissenschaftsbetrieb hat seine eigenen Probleme. Fast jeder arbeitet mit kurzen Projektverträgen, muss ständig um neue Förderungen kämpfen. Da müssen wir uns nun einreihen."
Im Dezember soll Coskuns Prozess in Istanbul weitergehen. Bis dahin ist sie ein freier Mensch, fliegt bei jeder Gelegenheit zu ihrem Mann, der in der Türkei geblieben ist. Doch selbst, wenn sie wider Erwarten freigesprochen würde. Welche türkische Universität wagt es noch, jemanden einzustellen, der den Missbrauch der Medien als Machtinstrument durch die AKP erforscht?
"Die Situation in der Türkei wird zusehends schlechter. Ich merke, dass alle deswegen auch immer vorsichtiger werden mit dem, was sie sagen. Das beschädigt den gesamten Wissenschaftsbetrieb. Alle zensieren sich immer mehr selbst."

Wenig Grund für Optimismus

Auch Nevra Akdemir, für die die Staatsanwalt zehn bis zwölf Jahre Haft fordert, sieht wenig Grund für Optimismus, wenn sie auf ihre Heimat blickt. Fast alle kritischen Köpfe wurden in den vergangenen Jahren entlassen oder sind selbst gegangen. Aufgeben will Akdemir dennoch nicht.
"Die Wissenschaft lässt sich nicht durch Ländergrenzen beschränken. Jede unserer Arbeiten fließt nicht nur in die türkische, sondern in die globale Wissenschaft ein. Auch, wenn wir hier im Exil sind. Allein das motiviert uns weiterzumachen."
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