"Die Türkei ist nie eine Demokratie gewesen"
Freie Kunst sei in der Türkei nicht mehr möglich, sagt der in Deutschland lebende türkische Komponist Turgut Ercetin. Und: Die Demokratie sei in seiner Heimat immer nur Fassade gewesen. Andersdenkende seien seit jeher verfolgt worden.
Turgut Ercetin ist ein international tätiger türkischer Komponist und Klangkünstler. Seit langem politisch aktiv, ging er 2009 in die USA, kam als DAAD-Stipendiat 2016 nach Berlin und ist aktuell als Stipendiat der Akademie der Künste der Welt in Köln. Die Türkei, sagt Ercetin, sei kein demokratisches Land – das sei sie nie gewesen. Immer schon – auch unter den Vorgängern Erdogans - habe es hinter der demokratischen Fassade Repressalien gegeben.
Die Unterdrückung ist jetzt für alle sichtbar
"Die Besonderheiten dieser türkischen Demokratie – also, diese rassistischen und faschistischen Methoden – waren lange nur für Minderheiten sichtbar und für Gruppen auf der linken Seite des Spektrums. Jetzt aber ist diese Praxis und diese Redeweise des Establishments für alle sichtbar."
Freie Kunst sei in der Türkei nicht mehr möglich. Aber:
"Selbst Künstler, die mit Politik zunächst einmal nichts zu tun zu haben scheinen, nutzen dennoch die Kunst als politisches Medium."
Denn diese sei gerade in heutigen Zeiten in der Türkei eine der wenigen Möglichkeiten, Botschaften zu tranportieren. Dies gelte auch für Musik – diese sei im Grunde "nichts anderes als eine Straßenbarrikade".
Ercetin sagte weiter: In der Türkei würden jetzt organisierte Taten gebraucht, und diese sollten von innen, aus der Türkei heraus, kommen.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: In knapp zwei Wochen findet in der Türkei das Referendum zu der von Präsident Erdogan angeregten Verfassungsänderung statt. In den Konsulaten in Deutschland kann schon seit über einer Woche dafür abgestimmt werden und das ist höchste Zeit jetzt, um über die Situation von Künstlern in der Türkei zu sprechen. Genau das habe ich getan mit Turgut Ercetin, der Komponist und Klangkünstler wurde in Istanbul geboren, ging dann aber 2009 in die USA und hält sich im Moment gerade in Deutschland auf. Gestern konnte ich mit ihm sprechen und ich habe ihn gefragt, ob die Türkei, sein Heimatland, ob das eigentlich im Moment in seinen Augen überhaupt noch eine Demokratie ist.
Turgut Ercetin: Meiner Meinung nach ist die Türkei kein demokratisches Land. Ich muss aber sofort hinzufügen: Ich habe nie gedacht, dass auch vor den Zeiten der jetzt regierenden Partei die Türkei je eine Demokratie gewesen ist.
Dieter Kassel: Wenn wir also immer glauben, die Türkei sei 60, 70, vielleicht 80 Jahre eine Demokratie gewesen, dann war das für Sie alles nur Fassade?
Ercetin: Ja, zum Teil will ich aber auch besonders herausstreichen, dass die besonderen Auffassungen der Demokratie in der Türkei, also diese faschistischen und rassistischen Methoden, nur für Minderheiten sichtbar waren und für Gruppen auf der linken Seite des Spektrums. Jetzt dagegen ist diese Praxis und auch die Redeweise des Establishments der Regierung für alle sichtbar.
Dieter Kassel: Aber wenn das jetzt, wie Sie sagen, für jeden sichtbar geworden ist, können Sie sich denn erklären, warum Präsident Erdogan trotzdem so viele Anhänger hat, warum er für so viele Türken doch so eine Art Nationalheld zu sein scheint?
Ercetin: Das ist deswegen so, weil er seine Anhängerschaft über eine lange Zeit hinweg gefestigt hat. Wie unter jedem unterdrückerischen System hat er auch bestimme privilegierte Gruppen, gesellschaftliche Schichten geschaffen, eine Art regierende Schicht. Und die Unterdrückung ist nicht für alle spürbar, die Unterdrückung richtet sich jedoch gegen die meisten derjenigen, die die politische Zielsetzung der Regierung nicht teilen, eine Agenda, die eben von der Regierung jetzt versucht wird, uns aufzudrücken.
Keine Freiheit der Kunst mehr möglich
Dieter Kassel: Lassen Sie uns über Künstler und über Kunst in der Türkei sprechen. Sie leben nicht mehr in der Türkei, sind glaube ich seit einem guten Jahr nicht mehr da gewesen. Aber bei dem was Sie hören: Gibt es noch so eine Art Freiheit der Kunst in der Türkei, wenigstens noch einen kleinen Rest?
Ercetin: Überhaupt nicht. Aber selbst Künstler, die mit Politik zunächst einmal nichts zu tun zu haben scheinen, nutzen doch die Kunst als politisches Medium. Die Kunst ist insofern ein politisches Medium, als sie reich und unabhängig eine Art alternative Sicht auf die Geschichte darlegen kann und sie auch dokumentieren kann. In diesem Zusammenhang ist sie vor allem eben in Ländern wie in der Türkei von besonderer Wichtigkeit als historischer Anknüpfungspunkt und sie ist auch unverzichtbar als Alternative, als eine Art Kern, um widerständige Netze zu bilden, gerade in einem Land, wo der Staat alle gesellschaftlichen Medien durchdringt und wo für eine unkontrollierte Stimme kein Platz mehr ist.
Dieter Kassel: Aber wenn die Medien, wenn alles wirklich kontrolliert wird von der AKP, von der Regierung, haben denn dann Künstler in der Türkei überhaupt noch die Möglichkeit, etwas zu machen, was wahrgenommen wird?
Ercetin: Das ist so, solange man im Reinen bleibt mit der politischen Marschrichtung, die von der Regierung uns gerade aufgezwungen wird. Wissen Sie, es ist ja kein ganz normales rechtsgerichtetes Regime. Man kann durchaus über die Armenien-Frage sprechen, über den kurdischen Konflikt, alles kann man sagen, solange man innerhalb des Rahmens bleibt, den der Staat gesetzt hat. Man kann also darüber sprechen, solange man nicht die Regeln verletzt. Und so erklärt sich auch dieser sonderbare Anspruch, der in der Türkei erhoben wird, wir seien eine Art fortgeschrittene Demokratie. Und ich zitiere hier direkt aus den Reden Erdogans, also ein fortgeschrittenes demokratisches Land, oder was sie so nennen.
Dieter Kassel: Ist es für Künstler nur schwierig zurzeit, in der Türkei zu arbeiten, oder ist es wirklich gefährlich? Muss man, auch wenn man Kunst macht, die man selbst vielleicht gar nicht für direkt politisch hält, trotzdem um sein Leben, um seine Gesundheit fürchten?
Ercetin: Wie gesagt, es hängt davon ab, an welchen Themen Sie gerade arbeiten. Erst kürzlich ist eine kurdische Malerin verhaftet worden nur deswegen, weil sie die Vorgänge im türkischen Kurdistan dokumentiert hat. Und selbst dieser Ausdruck, den ich hier verwende, lässt sich bereits als terroristische Propaganda deuten, weil ich eben den Ausdruck Kurdistan verwendet habe, was in der Türkei verboten ist.
Musik als politische Arbeit
Dieter Kassel: Sie selber leben seit 2009 nicht mehr in der Türkei und Sie sind zuerst Künstler, Komponist, Klangforscher, würde ich sagen. Das heißt, vieles, was Sie tun, ist nicht politisch, aber einiges, was Sie tun, ist es doch eindeutig. Sie haben zum Beispiel ein Streichquartett geschrieben, das, ich würde es mal so sagen, die Erfahrungen verarbeitet, die Sie von Freunden gehört haben, die in der Türkei im Gefängnis saßen und dort auch gefoltert wurden. Das ist eine politische Arbeit. Aber können Sie damit vom Ausland aus wirken? Ist diese Musik zum Beispiel in der Türkei jemals aufgeführt worden?
Ercetin: Nein. Ich muss aber auch sagen, ich glaube, es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen politischer Aktion und politischen Aussagen. Die beiden stimmen nicht notwendigerweise in ihren Notwendigkeiten überein. Meine künstlerische Arbeit ist keineswegs als politische Aktion zu verstehen, sehr wohl aber als politische Aussage, die das dokumentiert, was Handlung bedeutet. Schließlich ist Musik ja das letzte Mittel, das mir geblieben ist in einem Staat, der ansonsten alle anderen Bereiche durchdrungen hat. Insoweit ist Musik auch nichts anderes als eine Straßenbarrikade oder eine befreite Frontlinie. Ich glaube, um wirklich etwas zu ändern, ist es jetzt zu spät in der Türkei, um sich nur mit Aussagen oder Forderungen zu begnügen. Wir brauchen jetzt tatsächlich direkte organisierte Taten.
Dieter Kassel: Wir brauchen Taten, organisierte Taten. Reden Sie da von Hilfe aus dem Ausland, von Einwirken aus dem Ausland, oder reden Sie von Gruppen innerhalb der Türkei?
Ercetin: Alles, was die Türkei ändern wird, sollte von innen kommen. Und die Menschen sollten sich zusammenschließen. Aber ich muss auch noch sagen: Alle meine Freunde haben mich gewarnt, ich sollte den Mund nicht so weit aufmachen, weil alle Angst haben, insbesondere seit den Tagen der Unruhe im Gezi-Park. Ich möchte aber diese Gelegenheit nutzen, um eine Botschaft an diese Menschen zu richten. Ich würde nämlich sagen: Es ist völlig in Ordnung, Angst zu haben angesichts der gegenwärtigen Umstände, wir sehen uns jetzt einer wirklich faschistischen Rhetorik gegenüber und davor sollte man auch durchaus sich fürchten. Aber keiner von uns sollte sich feige verhalten. Angst ist die Widerspiegelung eines Gefühls, aber Feigheit ist eine politische Grundhaltung. Und wir brauchen heute eine veränderte Grundhaltung. Und ich meine, wir müssen alle etwas mutiger sein als je zuvor, so meine ich.
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