Türkischer Politiker zur Visa-Freiheit

"Wir bewegen uns seit 60 Jahren auf Europa zu"

Mustafa Yeneroglu, Abgeordneter der Großen Nationalversammlung der Türkei (AKP), aufgenommen am 24.04.2016 während der ARD-Talksendung "Anne Will" zum Thema "Abhängig von Erdogan - Zu hoher Preis für weniger Flüchtlinge?" in den Studios Berlin-Adlershof. Foto: Karlheinz Schindler
Die Türkei habe eine Gewährung von Visa-Freiheit durch die EU mehr als verdient, meint Mustafa Yeneroglu. © picture alliance/dpa/Karlheinz Schindler
Mustafa Yeneroglu im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Die Türkei pocht auf Visa-Freiheit für ihre Bürger. Sein Land habe eine beachtliche Entwicklung vollzogen, sei wirtschaftstark und tue mit seiner Flüchtlingspolitik mehr für die Menschenrechte als manches EU-Land, meint der AKP-Politiker Mustafa Yenero‏glu.
Kommt die Türkei bald einem ihrer Ziele - der Visa-Freiheit für die EU-Länder - näher? Oder wird die EU-Kommission dies weiterhin ablehnen und die Türkei im Gegenzug die Flüchtlingsvereinbarungen platzen lassen?
Für Mustafa Yenero‏glu, Abgeordneter der türkischen Regierungspartei AKP, steht fest: Die Türkei habe eine Gewährung von Visa-Freiheit durch die EU mehr als verdient, ebenso mittel- bis langfristig die EU-Mitgliedschaft. Im Deutschlandradio Kultur zählt Yeneroglu, der als Kleinkind nach Deutschland kam und dort aufwuchs, die aus seiner Sicht wichtigsten Gründe auf:
Die Türkei bewege sich seit über 60 Jahre auf Europa zu, habe die Militärherrschaft erfolgreich überwunden, demokratische Strukturen eingeführt und für Liberalisierung in vielen Bereichen gesorgt. Sein Lande habe "unabhängig von der Flüchtlingssituatiuon das Ziel vor Augen, Europa näher zu kommen. Wir sind die sechstgrößte Wirtschaftskraft in Europa. Wir haben ein größeres Bruttoinlandsprodukt als viele europäische Staaten, bei denen die Visa-Pflicht schon abgeschafft worden ist."

Kritik an Österreich

Er spielt damit auf Länder wie Serbien, Mazedonien oder Albanien an. Die wichtigsten "Benchmarks sind erfüllt". Nun müsse die Europäische Union erklären, warum sie für die Türkei keine Visa-Freiheit genehmigen wolle. Yenero‏glu, der auch Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses in der Türkei ist, bestreitet zudem, dass in seinem Land die Menschenrechte nicht geachtet würden. Er übt in dem Zusammenhang scharfe Kritik an Ländern wie Österreich, die gegen eine Visa-Freiheit für die Türkei seien und dies mit der Missachtung von Menschenrechten dort begründen:
"Österreich geht es, glaube ich, weniger um Menschenrechte, sondern vielmehr um ganz andere Vorbehalte - als vielmehr um ihre großen Schwierigkeiten mit dem Rechtsextremismus in Europa. Ich glaube, dass die Österreicher da viel mehr eigene Baustellen hätten, als sich mit der Situation in der Türkei zu beschäftigen."
In Sachen Menschenrechte habe die Türkei Österreich abgehängt, sagt Yeneroglu und begründet dies mit den Millionen von Flüchtlingen, die die Türkei in den letzten Monaten und Jahren aus den arabischen Bürgerkriegsländern aufgenommen habe.


Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Für alle Menschen, die sich wünschen, dass Grenzen fallen in Europa, könnte das heute ein guter Tag werden. Die EU-Kommission wird einen Bericht und damit ihre Empfehlung vorstellen, ob Türken künftig ohne Visum in die EU einreisen dürfen. Für alle Menschen, die sich Sorgen machen, dass die EU dabei ist, einen schmutzigen Deal zu machen, damit die Türkei Europa Flüchtlinge vom Hals hält, für die könnte es ein schlechter Tag werden. Dass es nämlich grünes Licht geben dürfte für die Visafreiheit, damit rechnen die meisten Beobachter.
Ein Schritt, der vonseiten der Türkei seit Langem schon gefordert wird. Aber stimmen die Grundlagen dafür? Unsere Frage hier im Deutschlandradio Kultur an politisch Verantwortliche in Ankara. Am Telefon begrüße ich den Abgeordneten der Regierungspartei AKP und Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament, Mustafa Yeneroglu. Guten Morgen!
Mustafa Yeneroglu: Guten Morgen!
Frenzel: Ist die Türkei reif für die Visafreiheit?
Yeneroglu: Absolut. Ich denke, man muss das vor dem Hintergrund betrachten, dass die Türkei seit über 60 Jahren das strategische Ziel vor Augen hat, die Türkei Europa näher zu bringen und die Gesellschaften zu vereinen. Die Türkei ist seit '49 Mitglied des Europarats. Wenn man danach die Geschichte – '59 ist die Aufnahme in die damalige EWG erfolgt, seit '62 haben wir ein Assoziationsabkommen, seit '96 sind wir Mitglied der Zollunion, seit '99 Beitrittskandidat, und 2005 erfolgte die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Wenn man den Geist dieser Verträge sich vor Augen hält und auch viele Gerichtsentscheidungen in den letzten Jahren, dann muss man deutlich sagen, dass die Visafreiheit längst überfällig ist.
Frenzel: Diese Liste, die Sie da aufzählen, die ist beeindruckend. Aber es gibt auch eine Liste von Bedingungen, die auch beeindruckend ist, Bedingungen, die jetzt erfüllt werden müssen. Das sind zum Teil viele technische Bedingungen, es gibt aber auch politische Bedingungen. 65 zum Beispiel, fundamentale Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit müssen de jure, aber auch de facto gelten in der Türkei. Das will die Europäische Union. Sie sind Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im Parlament. Wie lautet Ihre Einschätzung? Erfüllt Ihr Land diese Kriterien?

Die Türkei erfüllt schon viele Kriterien

Yeneroglu: Auch da bin ich der Meinung, dass die Türkei längst diese Kriterien erfüllt. Klar gibt es Schwierigkeiten, wie sie überall auf der Welt auch herrschen. Nur muss man, wenn man sich mit der Türkei beschäftigt, auch vor Augen halten, dass die Türkei sich geografisch betrachtet in einem Krisenherd befindet. Wir haben umliegend gescheiterte Staaten. Wir haben riesengroße Aufgaben übernommen in den letzten Jahren.
Wir haben über drei Millionen Menschen vor dem Tod bewahrt, und wir haben darüber hinaus in den letzten 15 Jahren riesengroße Errungenschaften auf dem Weg zu einer sehr gut funktionierenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung geschaffen. Und wenn man diese Entwicklungen betrachtet und auch sich vor Augen hält, dass die Türkei in den 80er- und 90er-Jahren noch ein Land gewesen ist, wo das Militär größtenteils geherrscht hat, muss man sagen, dass die gegenwärtige Situation in der Türkei eine ist, die die Türkei auf die richtige Spur geführt hat und entsprechend auch fortfährt.
Wir haben in den letzten Jahren vor allem, wenn Sie jetzt gerade die Punkte ansprechen, sehr viel geschafft trotz der Situation, dass wir in der Türkei nach wie vor eine Auseinandersetzung haben mit dem Terrorismus – jeden Tag sterben in der Türkei Menschen. Die Türkei muss sich im Kampf gegen den Terrorismus, gerade zur Erhaltung der Staatsordnung, gerade zur Erhaltung der Demokratie bewähren. Und da erhoffen wir uns, dass eben europäische Staaten uns auch neben der Solidarität, die sie immer wieder bekunden, auch praktisch helfen.
Frenzel: Was ich nicht verstehe, warum die Verhaftung von Journalisten zu diesem Kampf gegen den Terror gehört. Es gibt den Fall der Zeitung "Cum Hürriyet", der Chefredakteur und der Leiter des Hauptstadtstudios wurden verhaftet, ihnen droht lebenslange Haft. Die Redaktion wurde quasi entmachtet von staatlicher Seite. Können Sie verstehen, dass uns solche Vorgänge beunruhigen?
Yeneroglu: Es ist, wenn Sie das entsprechend richtig zuordnen, dann kann man das eben immer individuell betrachten und kann das dennoch kritisieren. Aber man muss sich dann vor Augen halten, dass wir zum Beispiel in diesem konkreten Fall bis 2012 in Deutschland eine ähnliche Strafrechtsnorm hatten, die auch Journalisten wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat mit ähnlichen Strafdrohungen auch bedroht hat. In der Hinsicht denke ich, dass man gerade zum Beispiel bei Dündar geht es um Geheimnisverrat, es geht um Offenlegung von Geheimnissen, Staatsgeheimnissen, die in jedem anderen Land auch ähnlich bedroht sind.

Die Presse und die Meinungsfreiheit

Frenzel: Aber Herr Yeneroglu, einen solchen Fall gibt es in keinem Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Zuletzt, dass in Deutschland diese Paragrafen Anwendung gefunden haben und wirklich ein Journalist verhaftet wurde, ich glaube, das war in den 60er-Jahren mit Rudolf Augstein.
Yeneroglu: Wir haben doch gegenwärtig ein Verfahren gegen Journalisten in Deutschland.
Frenzel: Gegen Herrn Böhmermann?
Yeneroglu: Nein, nicht den. Natürlich nicht. Das ist wieder eine ganz andere Geschichte. Aber wir haben doch in Baden-Württemberg vor einiger Zeit eben ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft angekündigt bekommen, wo es um einen ähnlichen Fall geht.
Frenzel: Herr Yeneroglu, lassen Sie uns vielleicht aus dieser Detailebene herauskommen und auf eine politische Ebene noch mal kommen. Es gibt große Vorbehalte in der EU gegenüber der Idee der Visafreiheit in anderen Mitgliedsstaaten, vor allem auch in Österreich beispielsweise. Von türkischer Regierungsseite hören wir, wenn es dazu nicht kommt, dann platzt der Flüchtlingsdeal mit der EU. Warum verbinden Sie beide Dinge? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Yeneroglu: Zum einen, wenn es um Österreich geht – den Österreichern geht es, glaube ich, weniger um Menschenrechte als vielmehr um ganz andere Vorbehalte, als vielmehr um ihre großen Schwierigkeiten mit dem Rechtsextremismus in Europa. Ich glaube, dass die Österreicher da eigentlich viel mehr eigene Baustellen hätten, als sich mit der Situation der Türkei zu beschäftigen. Was die Frage der Menschenrechte anbetrifft, hatte eben Österreich noch vor Kurzem ein Beispiel an den Tag gelegt, wo die Türkei eigentlich eher um Welten entfernt ist. Die Türkei hat eben Millionen Menschen aufgenommen, da eben gezeigt, was ihr Menschenrechte bedeuten. Und Österreich hat die Grenzen zu gemacht.
Und jetzt zur Frage, was das eine mit dem anderen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt: Da stellt sich die Frage, und ich habe Ihnen eben gesagt, dass die Türkei seit über 60 Jahren sich in Richtung Europa fortbewegt und letztendlich eben unabhängig von der Flüchtlingssituation das Ziel vor Augen hatte, Europa näher zu kommen. Und man muss auch da betrachten, wir sind eben die sechstgrößte Wirtschaftskraft in Europa, wir haben ein höheres Bruttoinlandsprodukt als viele europäische Staaten, bei denen schon die Visapflicht abgeschafft ist. Serbien, Mazedonien, Albanien, Montenegro, teilweise Mitglieder der Europäischen Union, Bulgarien, Rumänien. Wir haben eine junge, dynamische, gut ausgebildete Bevölkerung. Ich glaube, dass eben die Frage, inwieweit die Fragen zusammenhängen, vielmehr sich an die Europäische Union richtet als an die Türkei.
Frenzel: Herr Yeneroglu, Sie haben in einem früheren Interview gesagt, die Türkei habe seit Jahrzehnten gefestigte Strukturen, die durch die AKP nur langsam aufgebrochen werden können, und Ihnen würden viele von links bis rechts in Deutschland und in Europa zustimmen, dass sich die Dinge in den ersten Jahren der Erdogan-Regierung wirklich gut entwickelt haben. Was uns Sorgen macht, sind die letzten Jahre, die autokratisch anmutende Entwicklung. Haben Sie den Eindruck, dass die Richtung noch stimmt in der Türkei?

Die Türkei erwartet Solidarität

Yeneroglu: Absolut. Die Richtung stimmt. Wir haben in den letzten Monaten vor allem sehr viel dafür getan, um auch die Beitrittskriterien, auch inhaltlicher Art, die Sie eben angesprochen haben, zu erfüllen. Wir haben in den letzten Monaten, jetzt zuletzt noch mal bis gestern noch, im Parlament die letzten Benchmarks aus unserer Sicht erfüllt. Insofern ist die Türkei in der richtigen Richtung, und man muss die Türkei auf diesem Weg unterstützen.
Deswegen ist ja, gehört es ja zu unseren Forderungen, dass insbesondere auch die Kapitel 24, 23, wo es um Grundrechte, wo es um Grundfreiheiten geht, auch eröffnet werden und wir darüber diskutieren und die Türkei dabei unterstützen, dass sie eben, wenn es doch Vorbehalte gibt, wenn es eben Kritik gibt, dass sie eben auf dem Weg in eine bessere Demokratie, die eben Menschenrechte viel stärker achtet, trotz des Kampfes gegen den Terrorismus, wo die Türkei auch neben den Solidaritätsbekundungen inhaltlicher Art Unterstützung erwartet und auch erwarten darf.
Denn nach wie vor unterstützen viele europäische Staaten, ohne es teilweise eben zu wissen offenbar, den Terrorismus, indem sie der PKK eine Situation gewähren, die terroristische Organisationen in der Türkei unterstützt. Wir haben die Diskussion jetzt mit der HDP in der Türkei. Es geht um Fragen, die in den deutschen Medien teilweise gar nicht zu finden sind. Wir haben Abgeordnete, die auf frischer Tat als Waffenkurier von terroristischen Organisationen erwischt wurden, mit drei Granatwerfern, vier Maschinengewehren, 25 Handgranaten, über 2.000 Patronen im Auto. Das sind die Situationen, mit denen wir in der Türkei zu kämpfen haben, und da muss die Türkei eben eine große Unterstützung durch Europa erwarten dürfen.
Frenzel: Das sagt Mustafa Yeneroglu, AKP-Abgeordneter und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Ich danke Ihnen für das Interview!
Yeneroglu: Ich bedanke mich auch. Einen schönen Morgen noch!
Frenzel: Das wünsche ich Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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