"So etwas ist tatsächlich nur in Berlin möglich"
Nach vier Jahren hört Tugan Sokhiev als Chefdirigent beim Deutschen Symphonie-Orchester auf. Weil das Berliner Publikum auch verrückte Ideen akzeptiere, habe er in der Hauptstadt großartige und auch unbekannte Musik präsentieren können, sagt der Russe.
Mascha Drost: Eine Ära ist es nicht geworden – dafür war die Zeit zu kurz. Vier Jahre war Tugan Sokhiev Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, in dieser Woche gibt er sein letztes Konzert in dieser Position. Berlin hat in diesem Fall den Kürzeren gezogen – im Vergleich mit Toulouse und Moskau – denn da bleibt Sokhiev weiterhin Chef, und so bedauerlich es für Orchester und Stadt auch ist – es spricht für das künstlerische Verantwortungsgefühl des Dirigenten.
Das Bolschoi Theater in Moskau hat sich als größerer Brocken erwiesen als gedacht. Wer dort Chef ist, der muss Präsenz zeigen. Nach Moskau – das seufzen bei Tschechow die "Drei Schwestern", und vielleicht war es ja auch bei Tugan Sokhiev ein weiterer Grund, wieder zurück in seine Heimat Russland zu gehen. Er wäre nur ein weiterer Russe im Exil, den die Sehnsucht nach seinem Land plagt.
Ich habe mit Tughan Sokhiev über seine Zeit in Berlin gesprochen, und so habe ich ihn am Anfang unseres Gesprächs danach gefragt: Hatten Sie in Berlin eigentlich Heimweh?
"Wir haben so viel interessante Musik gespielt"
Tughan Sokhiev: Es begleitet mich die ganze Zeit über. Es ist Teil meiner Kultur, meiner Geschichte, meines Lebens. Allerdings hatte ich während meiner Zeit in Berlin, beim Deutschen Symphonie-Orchester auch das Gefühl zuhause zu sein, etwa aufgrund der Programme, die wir gemeinsam gemacht haben. Wir haben so viel interessante Musik gespielt, ungewöhnliche russische Werke, auch unbekannte Musik bekannter Komponisten - ich habe mich zu Hause gefühlt und umgeben von Musikern hat man ohnehin immer das Gefühl, Teil einer Familie zu sein.
Als Dirigent sollte man versuchen, Teil dieser Musikerfamilie zu werden, nicht nur allein auf dem Podium zu stehen - klar, man hat diese Sonderstellung, man ist in gewisser Hinsicht allein, aber Musik kann man nur zusammen machen. Ohne das Gefühl, wie eine Familie zusammenzugehören, wird es nicht funktionieren.
Drost: Man hört es ja sehr oft von Musikern, dass die Musik ihre Heimat ist. Könnte man sagen, Sie haben sich hier ihre Heimat über die Stücke, über das Repertoire geschaffen?
Sokhiev: Das könnte man so sagen. Wir haben dem Berliner Publikum so viele neue Werke, neue Komponisten, neues Repertoire nahegebracht. Und dieses Publikum verlangt danach, mit Werken, die sie seit 25 Jahren hören, kann man die Leute nicht zufriedenstellen, sie haben großen Appetit auf Neues - dafür schätze ich sie über alles.
Wir haben Programme zusammengestellt, bei denen wir dachten: O weh, wer wird so mutig sein und kommen - aber dann war der Saal voll! Wir haben etwa Prokofievs "Iwan der Schreckliche" aufgeführt, und uns danach gefragt: Warum wird diese Musik nicht gespielt?
Später ist daraus auch noch eine mehrfach ausgezeichnete Aufnahme entstanden. Das hat mich und uns sehr stolz gemacht, großartige und unbekannte Musik wie diese aufs Programm zu setzen und sie einem interessierten Publikum zugänglich zu machen.
Drost: Diese vielen unbekannten Werke auf die Bühne zu bringen – ist das eine Sache, die Sie tatsächlich so nur in Berlin hätten machen können?
"Manchmal hat man als Musiker die verrücktesten Ideen"
Sokhiev: So etwas ist tatsächlich nur in Berlin möglich. Ich habe es auch andernorts versucht, bei meinem Orchester in Toulouse etwa - aber dadurch, dass es dort nur ein Orchester gibt, fehlt die Zeit wie hier in Berlin, wo man die großen Werke von Beethoven, Brahms, Mahler von verschiedenen Orchestern präsentiert bekommt. Wer das große romantische Repertoire hören möchte, hat jederzeit Gelegenheit dazu.
Wir aber haben uns dazu entschlossen, den Zuhörern Sachen vorzusetzen, die sie noch nie gehört haben, wir wollten es quasi weiterbilden. Ohne jemandem nahetreten zu wollen - das geht so speziell in Deutschland nur in Berlin, und da hier nur mit diesem Publikum.
Drost: War Ihnen das schon klar, bevor Sie nach Berlin kamen oder war das auch eine Überraschung für Sie, wie offen das Publikum auf solche unorthodoxen Programme reagiert?
Sokhiev: Ich war anfangs überrascht, aber später haben wir dann beschlossen: Wenn das Interesse und die Neugier da sind, warum machen wir es nicht einfach? Manchmal hat man als Musiker die verrücktesten Ideen, und wenn das Publikum diese verrückten Ideen akzeptiert, ist das fantastisch.
Drost: Hat die Stadt Sie verändert in irgendeiner Weise?
Sokhiev: Vielleicht verstehe ich nun besser, was man die "Deutsche Seele" nennt. Ich habe das DSO schon 2003 das erste Mal dirigiert und habe öfter in Deutschland gearbeitet, aber wenn man fest bei einem deutschen Orchester ist, wird man Teil dieser Kultur. Man fügt sich ein, begreift die Mentalität, die Wurzeln, die Tradition. Das kann man nicht lernen, wenn man nur ab und zu als Gastdirigent anreist. Dafür muss man Teil der Gemeinschaft, der Gruppe werden, das lernt man nur aus dem Inneren heraus.
Drost: Ist es für einen jungen Dirigenten – und der sind Sie ja noch mit Ende dreißig – ist es eigentlich vorteilhaft in Berlin zu sein? Umgeben von großen Orchestern wie den Philharmonikern, der Staatskapelle, und von weltberühmten Kollegen wie Rattle oder Barenboim. Oder ist es eher schwierig, weil man von dieser unglaublichen Konkurrenz umgeben ist?
"Ich hatte nie das Gefühl, in einem Wettbewerb zu stehen"
Sokhiev: Ich habe das nie so empfunden. Berlin ist so riesig, und hat als Stadt kein wirkliches Zentrum, wie etwa London oder Paris. Jeder Stadtteil hier hat sein eigenes Zentrum und das spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Publikums. Es gibt die Opernliebhaber, die Philharmoniegänger, das DSO-Publikum. Ich hatte nie das Gefühl, in einem Wettbewerb zu stehen. Unser Ziel war, unsere Arbeit so zu tun, dass das Publikum kommt, auch in Zukunft.
Es geht um Musik, nicht um Konkurrenz, jedenfalls ging es uns nicht darum. Mit den Philharmonikern teilen wir uns sogar den Konzertsaal und wir fühlen uns in keiner Weise bedroht oder unterlegen - das sind alles Kollegen, Musik findet nicht auf einem Turnierplatz statt.
Drost: Was werden Sie an Berlin vermissen?
Sokhiev: Vieles. Ich werde das Orchester vermissen, ich werde die Zuhörer vermissen, vielleicht sogar die direkte Art im Umgang miteinander. Die Berliner sind sehr direkt, und das hat die Kommunikation in mancher Hinsicht für mich erleichtert. Man verliert keine Zeit, man weiß, woran man ist, und kommt gleich zum Punkt. Ich mag das, denn es spart Zeit und man kann mehr Musik machen.
Es wird nicht stundenlang um den heißen Brei herumgeredet. Die Mentalität kommt mir entgegen. Ich stamme aus dem äußersten Süden Russlands, aus Ossetien im Kaukasus. Den größten Teil meiner Ausbildung aber habe ich in Sankt Petersburg verbracht, im äußersten Norden von Russland. Ich habe die nordische Art sehr schätzen gelernt, und Berlin hat für mich etwas Nordisches, das gefällt mir.
Drost: In einem Ihrer Interviews haben Sie einmal sehr schön gesagt, dass einer ihrer Vorgänger, Ferenc Fricsay, eine Art Knopf eingebaut hätte im Orchester, was ein bestimmtes Repertoire, von Bartok etwa, betrifft. Haben Sie auch einen solchen Knopf installieren können in den letzten vier Jahren?
Sokhiev: Bei Prokofjew haben wir etwas erreicht - dieses Jahr feiern wir den 125. Geburtstag dieses großartigen Komponisten und wir haben sehr viel von ihm gespielt. Ich merke jetzt, mit wie viel Freude die Musiker an diese Musik herangehen, das Orchester versteht ihn. Seinen Humor, seinen Sarkasmus, es versteht seine lyrische Seite, es ist vollkommen vertraut mit dieser Musik, beide sprechen dieselbe Sprache - das ist unglaublich. Nicht viele Orchester können das von sich behaupten.
Drost: Tughan Sokhiev, diese Woche dirigiert er sein letztes Konzert als Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin.