Tumulte auf der Buchmesse

Hört zu!

Ein Demonstrant hält ein Protestplakate mit der Aufschrift "Ihr seid Nazis Punkt!" hoch.
Tumulte bei einer Lesung und Podiumsdiskussion mit Thüringens AfD-Fraktionschef Höcke auf der Buchmesse. © dpa / Frank Rumpenhorst
Ein Kommentar von Svenja Flaßpöhler |
Auf der Frankfurter Buchmesse trafen Neurechte und Linke aufeinander – und brüllten sich gegenseitig nieder. Dabei ist Zuhören die Basis für den demokratischen Prozess, kommentiert Svenja Flaßpöhler.
"Was ist das für eine seltsame historische Zeit? Es ist eine Zeit, in der der Boden, der bis vor kurzem noch ziemlich stabil wirkte … unter unseren Füßen wankt."
So formulierte die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood am Sonntag bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Frankfurt. Worte, die eine tiefe Verunsicherung zum Ausdruck bringen und sich übertragen lassen auf das, was die Geschehnisse auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse allzu deutlich offenbarten.
Die Rede ist von einem schleichenden Schwund. Von der Erosion eines demokratischen Fundaments, das wir lange Zeit für selbstverständlich hielten. Nein, es geht hier nicht um die vielfach kritisierte Entscheidung der Buchmesse, rechte Verlage zuzulassen. Es geht hier auch nicht um das allseits beschworene Erstarken des Rechtspopulismus.
Es geht, grundsätzlicher, um das Kappen von Kommunikation, genauer: Um das gezielte Verhindern von Zuhören und Verstehen.

Warum schließt sich eine promovierte Philosophin den Identitären an?

Symptomatisch hierfür war eine Veranstaltung des neurechten Verlags Antaios am vergangenen Samstag, bei der die ohnehin schon aufgeheizte Stimmung zwischen Neurechten und Linken endgültig zu eskalieren drohte: Caroline Sommerfeld, promovierte Philosophin und Frau des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen, trat am Samstag um 17 Uhr mit Identitären-Frontmann Martin Lichtmesz in Halle 4.2. auf die Bühne, um das gemeinsame Buch "Mit Linken leben" vorzustellen.
Antaios-Verleger Götz Kubitschek war anwesend, seine Frau moderierte, wie aus dem Nichts trat AfD-Politiker Björn Höcke auf. Der Andrang war groß, viele Männer mit kurz geschorenen Haaren, Frauen in T-Shirts mit der Aufschrift "Identitäre Bewegung".
Ich selbst war gekommen, weil ich begreifen wollte, warum sich eine Frau, die über Kant promoviert hat und mit einem linken Intellektuellen verheiratet ist, vor zwei Jahren der Identitären Bewegung angeschlossen hat. Ich wollte verstehen, wie Caroline Sommerfeld denkt.
Doch dazu kam es nicht. "Nationalismus raus aus den Köpfen!" Dieser Ruf linker Aktivisten machte ein Zuhören unmöglich und wurde sogleich von der anderen Seite mit "Jeder hasst die Antifa!" übertönt. Es kam zu einem Handgemenge, die Polizei rückte an, führte die Lautesten der Linken ab.
Später in meinem Bericht für Deutschlandfunk Kultur verwendete ich den Begriff "linksextrem", was scharfe Kritik in den sozialen Medien zur Folge hatte.
Extrem war das Verhalten der Linken aber aus folgendem Grund: Sie haben systematisch einen hermeneutischen Prozess unterbrochen, ja, ihn gar nicht erst zustande kommen lassen. Dieses Verhindern interessierter Zuwendung verbindet sie mit all jenen, die in Bitterfeld und anderswo Angela Merkel "Hau ab!" entgegenbrüllten und ihr jedes Zuhören, jedes Verstehen verweigerten.
Es verbindet sie mit jenen, die auf besagter Antaios-Veranstaltung nur ihre eigene Weltsicht bestätigt sehen wollten. Und, ja, es verbindet sie auch mit dem französischen Linksintellektuellen Didier Eribon, der im Vorfeld der Messe in der "Süddeutschen Zeitung" verkündete, Emmanuel Macron aus politischen Gründen keinesfalls "zuhören" zu wollen und seiner Eröffnungsrede fernblieb.

Was Hannah Arendt über das Verstehen schrieb

Die gesellschaftliche Spaltung mit den politischen Polen links und rechts zu erklären genügt vor diesem Hintergrund nicht mehr. Ja, diese Unterscheidung wird sogar zusehends unplausibel.
Viel grundsätzlicher und gleichzeitig gefährlicher scheint eine ganz anderer Riss zu sein: nämlich jener Riss, der die, die noch bereit sind zuzuhören und zu verstehen, von jenen trennt, die es nicht mehr sind.
Verstehen, schrieb die jüdische Philosophin Hannah Arendt 1953 in ihrem Aufsatz "Verstehen und Politik", "ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit, in ständigem Abwandeln und Verändern, begreifen". Das Verstehen gibt uns – erinnern wir uns an das Eingangszitat von Atwood - den Boden der Wirklichkeit zurück. Eine zunehmend fremd gewordene Welt (Wie konnte es so weit kommen?) wird wieder nahbar – und damit auch verhandelbar.
Verstehen zu wollen ist die unhintergehbare Basis des demokratischen Prozesses, die Basis für Streit und Auseinandersetzung, die Basis für Realitätskontakt und -transformation.

Auch Didier Eribon will nicht mehr zuhören

Dieses hermeneutische Streben wird häufig sträflich und vollkommen zu Unrecht gleichgesetzt mit einem ganz anderen Vorgang: dem Rechtfertigen oder gar Zustimmen. Wenn Didier Eribon schreibt, dass er Macron nicht zuhören wolle, weil er ihm nicht applaudieren könne, hat er etwas Wesentliches nicht verstanden. Man kann auch zuhören ohne zu applaudieren. Wer versteht, zu verstehen versucht, rechtfertigt nicht automatisch, er relativiert nicht einmal, sondern begreift womöglich erst das Gesagte in seiner ganzen Härte. Entsprechend heißt Verstehen auch nicht: Entschuldigen oder Verzeihen.
"In dem Ausmaß, in dem das Heraufkommen totalitärer Regime das Hauptereignis unserer Welt ist, heißt den Totalitarismus verstehen nicht irgendetwas entschuldigen, sondern uns mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind, versöhnen", schrieb Hannah Arendt in den 1950er-Jahren.
Das Verstehen ist die grundlegende Bedingung dafür, in der Welt zu sein und in ihr zu handeln: Zeilen, die uns heute – wieder und unbedingt – zu denken geben sollten.
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