Verhaftungswelle und Proteste
Proteste gegen Tunesiens Präsidenten Kais Saied, am 5. März 2023 in Tunis: Gegner werfen Kais vor, das Land in eine Autokratie verwandeln zu wollen. © imago / NurPhoto / Yassine Mahjoub
Tunesien kämpft gegen einen Frontalangriff auf die Demokratie
Proteste, Verhaftungen, wirtschaftliche Probleme und ein zunehmend autoritärer Präsident. Die innenpolitische Krise in Tunesien hat sich zugespitzt. Eine Bestandsaufnahme.
Am 13. März 2023 gab es erstmals nach 20 Monaten eine Parlamentssitzung in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Doch unabhängige Medien durften nicht darüber berichten. Bei den Wahlen im Dezember und Januar rief die Opposition zum Boykott auf. Denn nach einer von Präsident Kais Saied durchgesetzten Verfassungsreform hat das Parlament kaum noch Befugnisse. Kritiker fürchten, dass Saied das Land, das 2011 als einziges aus dem Arabischen Frühling als Demokratie hervorging, wieder zu einem autoritären Staat macht.
Wie ist die innenpolitische Lage in Tunesien?
Seit Monaten demonstrieren in Tunesien regelmäßig Tausende Menschen gegen Präsident Saied und dessen autokratischen Regierungskurs. Auch weil Saied die wirtschaftlichen Probleme des Landes nicht in den Griff bekommt und die daraus resultierende Not der Bevölkerung nicht lindern kann. Inzwischen hat sich der einflussreiche Gewerkschaftsverband UGTT den Protesten angeschlossen, nachdem er die Auflösung des Parlaments durch Saied und die Einführung einer neuen, umstrittenen Verfassung noch mitgetragen hatte.
Die UGTT und andere Kritiker werfen Saied vor, die demokratischen Grundrechte und Institutionen systematisch auszuhöhlen. Der im Oktober 2019 mit großer Mehrheit gewählte Präsident hatte im Juli 2021 mithilfe eines Notstandsartikels der Verfassung den bisherigen Premierminister abgesetzt, die Arbeit des Parlaments ausgesetzt und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben.
Im Sommer 2022 ließ er per Referendum eine neue Verfassung verabschieden, die die Befugnisse des Präsidenten so sehr ausweitet, dass fast alle Macht im Land in seinen Händen liegt. Er kann nun praktisch nicht mehr abgesetzt werden und unter anderem auch eigenmächtig Richter ernennen und entlassen. Ein Recht, von dem Saied ungeniert Gebrauch macht: Im Februar 2022 entließ er per Federstrich den Obersten Rat der Richter, eine von den Richtern selbst gewählte Institution. Ein paar Monate später setzte er 57 Richter ab, die ihm unliebsam geworden waren.
Auch die Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen des Parlaments sind durch die neue Verfassung stark eingeschränkt, die Rolle politischer Parteien zudem durch ein neues Mehrheitswahlrecht geschwächt. Deshalb boykottierten die wichtigsten Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen die Wahlen zu einem neuen Parlament im vergangenen Dezember und Januar. Auch die Bevölkerung reagierte mit Verweigerung: Nur knapp elf Prozent der rund acht Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, laut Angaben des "International Institute for Democracy and Electoral Assistance" möglicherweise internationaler Minusrekord.
Auf die wachsenden Proteste im Land reagiert Saied mit einem zunehmend härteren Vorgehen gegen politische Gegner und Kritiker. Seit Anfang Februar ließen seine Behörden bedeutende Oppositionspolitiker, Richter, einflussreiche Geschäftsleute und einen bekannten Journalisten festnehmen. Ihnen werden unter anderem Korruption und „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ vorgeworfen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte, dass es keine stichhaltigen Beweise für die Anschuldigungen gebe.
Unter den inhaftierten sind Noureddine Bhiri, einer der führenden Vertreter der größten Oppositionspartei, der gemäßigten islamistischen Ennahda, sowie Jawher Ben Mbarek, Schlüsselfigur im wichtigsten tunesischen Oppositionsbündnis FSM und Anführer der Bewegung „Bürger gegen den Staatsstreich“. Bei dem Journalisten handelt es sich um den Direktor des Radiosenders Mosaique FM, Noureddine Boutar. Mosaique FM ist der größte tunesische private Radiosender und eines der wenigen Medien, das weiter kritisch berichtet und regelmäßig Oppositionelle zu Wort kommen lässt.
Die Opposition sieht in den Verhaftungen den Versuch des Präsidenten, von der Pleite mit der geringen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen abzulenken und seine Kritiker weiter einzuschüchtern. Die bekannte tunesische Bürgerrechtlerin Sihem Bensedrine spricht von einem „Klima der Angst“. Dieses sei allgegenwärtig. „Die Menschen fürchten sich vor den Greifarmen der Diktatur, die sie aufs Neue auf sich zukommen sehen“, sagte Bensedrine.
Die heute 70-Jährige hat Zeit ihres Lebens gegen die Diktatur in Tunesien gekämpft, ständig verfolgt und verhaftet von der Polizei des Langzeitdiktators Ben Ali. Im Übergang zur ersten tunesischen Demokratie wurde sie zur Vorsitzenden der Wahrheitskommission ernannt. Das Gremium sollte die Forderungen der Revolutionäre aufgreifen und sie anschließend in konkrete Regeln und Gesetze einfließen lassen. Viele dieser Reformen hat Saied bereits wieder zurückgedreht. Bensedrine wurde mittlerweile verboten, das Land zu verlassen. Der angebliche Grund: Auch ihr wird im Zusammenhang mit ihrem Amt als Vorsitzende der Wahrheitskommission Korruption vorgeworfen.
Welche Rolle spielt Tunesiens Präsident Saied?
Saied bewarb sich 2019 als weitgehend unbekannter, unbestechlicher Außenseiter ohne politischen Hintergrund für das Präsidentenamt. Dieses Image schaffte ihm bei den Wahlen den nötigen Erfolg. Viele Tunesierinnen und Tunesier ließen sich davon überzeugen, so auch Sihem Bensedrine: "Ich gebe zu, ich selber habe ihn gewählt – gegenüber dem korrumpierten Kandidaten auf der anderen Seite. Ich wollte lieber einen integren Kandidaten." Sie habe nicht geahnt, dass Saied einen Staatsstreich durchführen würde.
Inzwischen schätzt sie das Phänomen Saied anders ein: Der vermeintliche Saubermann und Außenseiter habe sich mit den großen alten Männern der vorrevolutionären tunesischen Geschäftselite verbunden, den Exponenten eines „tiefen Staats“. Viele Berater Saieds seien ehemalige Minister des Ben-Ali-Regimes, sagt Bensedrine. Ihre These lautet: Das alte Regime könnte sich mit Saied lediglich eine neue modische Galionsfigur gesucht haben: ein bisschen Populist, ein bisschen frech-antiwestlich, ein bisschen religiöser Traditionalist.
Hamma Hammami, Chef der sozialdemokratisch ausgerichteten Arbeiterpartei und Führer eines säkularen Oppositionsbündnisses, glaubt, dass Saieds Pläne noch weitreichender sind. Es gehe dem Präsidenten ganz klar darum, die Errungenschaften der Revolution rückgängig zu machen. "Zugunsten eines Regimes, das ich nicht mal mehr als Präsidialregime bezeichnen würde", sagt Hammami. "Es weist monarchische Züge auf und erinnert zugleich an die Herrschaft des obersten Führers im Iran."
Ziel Saieds sei ein Regime, "in dem der Staatschef alle Macht in Händen hält: Exekutive, Legislative, Gerichtsbarkeit, Verfassung und darüber hinaus die geistliche Macht". Hammami verweist auf Artikel 5 der neuen Verfassung, laut dem allein der Präsident das Recht zur Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia, habe.
Dass sich Saied auch als religiöse Autorität profiliert, dürfte daran liegen, dass er die Partei ausschalten möchte, die Tunesiens Politik in den vergangenen zwölf Jahren seit der Revolution maßgeblich geprägt hat: die gemäßigt islamistische Ennahda (Wiedergeburt). Dabei gestattet der ursprünglich anti-islamistisch auftretende Saied dem Staat einen so weitreichenden Zugriff auf das religiöse Leben seiner Bürger, wie es die Islamisten niemals vorhatten.
"Kais Saied will der Ennahda das Wasser abgraben, indem er in einigen Fragen eine noch härtere Gangart als die Islamisten anschlägt. Das ist ein Salafist in Nadelstreifen", sagt Samir Dilou, ein langjähriger hoher Funktionär der Ennahda.
Tatsächlich denkt Saied inzwischen öffentlich darüber nach, die Cafés im Ramadan schließen zu lassen. Er spricht sich für das Rechtsprinzip der islamischen Scharia aus, nach dem Frauen nur halb so viel erben wie Männer. Bei Ehen zwischen muslimischen Frauen und nichtmuslimischen Männern sollen die Musliminnen den Anspruch auf ihr Erbe ganz verlieren. Auch die Todesstrafe soll eingeführt werden.
Darüber hinaus macht er Stimmung gegen Migranten aus anderen afrikanischen Ländern, denen er die Schuld für Kriminalität in Tunesien gibt. In der Folge wurden mehrere Hundert Menschen aus den Ländern südlich der Sahara in Gewahrsam genommen. Außerdem mehrten sich die Berichte über rassistische Angriffe auf schwarze Personen. Für Beobachter ist die Stimmungsmache Saieds gegen Migrantinnen und Migranten nur ein weiterer Versuch, von eigenen Fehlern und der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land abzulenken.
Unterdessen setzt der tunesische Präsident den autoritären Staatsumbau unbeirrt fort. Mit einem Anfang März veröffentlichten Präsidialdekret löste er die Gemeinderäte auf, die nach der Revolution von 2011 im Rahmen einer umfassenden Dezentralisierung 2018 zum ersten Mal gewählt worden waren. Damit entfallen auch die für dieses Frühjahr angesetzten Kommunalwahlen. Vorübergehend sollen nun Vertreter der Zentralgewalt die Amtsgeschäfte führen.
Über seine Entscheidungen informiert Saied derweil nicht öffentlich in Pressekonferenzen. Stattdessen kommuniziert er mit der Bevölkerung über die Facebook-Kanäle des Präsidentenamtes. Seine Angewohnheit, niemals zu lächeln, keine noch so kleine Spuren von Humor zu zeigen, seine unbewegliche stocksteife Attitüde, mit der der hagere 70-Jährige seine Dekrete bekannt gibt, hat ihm den Spitznamen „Robocop“ eingetragen.
Welche weiteren politischen Kräfte gibt es noch?
Ausgerechnet Islamistenführer Rachid Ghannouchi, der große alte Mann des politischen Islam in Tunesien, spricht sich vehement dafür aus, den politischen Wertekanon aus dem Westen zu bewahren: "Wir wollen ein System der Gewaltenteilung, mit einer echten Gewaltenteilung, in dem der Präsident lediglich ein Symbol ist und die Gewalten im System verteilt sind, und zwar bis hinein in die einzelnen Regionen - statt, dass die gesamte Macht in einem Punkt zusammenläuft: dem Amt des Präsidenten."
Die islamistische Ennahda hatte gut zehn Jahre lang Regierungsverantwortung in Tunesien. Sie stellte die stärkste Fraktion im 2021 aufgelösten Parlament, den Premierminister und mit Ghannouchi den Parlamentspräsidenten. In dieser Zeit hat sie das Land hoffnungslos heruntergewirtschaftet und nicht zuletzt dadurch die Demokratie bei vielen diskreditiert.
Einen maßgeblichen Anteil daran hatte Ghannouchi selbst, meint Samir Dilou, einst einer seiner engsten Mitarbeiter in der islamistischen Ennahda. Er sei als Denker und Theoretiker zwar eine Kraft, habe aber die Chance verpasst, "als jemand in die Geschichtsbücher einzugehen, der Tunesien in seinen schwierigsten Momenten aus der Krise geholfen hat". Ohne wirtschaftliche Kompetenz, ohne die Fähigkeit zu delegieren, habe sich der Islamistenchef in den Sumpf von Machtintrigen und Korruption hineinziehen lassen. Zu wenig habe er Hilfsangeboten aus Golfstaaten wie Katar widerstanden und sich niemals aus dem Umfeld seines historischen Vorbilds, der ägyptischen Muslimbruderschaft, befreit, meint Dilou.
Der langjährige Ennahda-Funktionär engagiert sich heute als Unabhängiger in der Nationalen Heilsfront, einem Oppositionsbündnis gegen den Präsidenten. Er sieht die Zukunft in einem großangelegten Parteienspektrum mit islamistischen Parteien, die gemäßigter auftreten, unabhängig von internationalen Einflüssen wie den ägyptischen Muslimbrüdern oder von Golfstaaten wie Katar. Seine Idee ist eine konservative islamische Partei, geführt von professionellen Parteipolitikern, etwas nach Vorbild der deutschen CDU.
Vor allem unter den ärmeren und religiös orientierten Teilen der Bevölkerung konnte dagegen mit der Partei „al Karama“, zu Deutsch „Die Würde“, eine weit radikalere islamistische Kraft als die Ennahda, Erfolge feiern. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums sammelte die Politikerin Abir Moussi mit ihrer Partei PDL die Nostalgiker des abgehalfterten Ben-Ali-Regimes um sich, indem sie von dem dunklen Jahrzehnt der Revolution erzählt und der angeblichen Blütezeit unter dem Ancien Régime.
Wie ist die wirtschaftliche Lage in Tunesien?
Generell hat sich die wirtschaftliche Lage im Land und damit die Situation der Menschen in den vergangenen Jahren "konstant verschlechtert", sagt Malte Gaier, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien. Dies liege unter anderem an den Auswirkungen der Coronapandemie und des Kriegs in der Ukraine. Tunesien beziehe mehr als die Hälfte seiner Getreidelieferungen aus der Ukraine. Dies habe "sehr hohe Inflation" zur Folge.
Laut dem tunesischen Institut für Statistik lag die nationale Inflationsrate im Februar 2023 bei 10,4 Prozent - Tendenz steigend. Zusätzlich zu den steigenden Preisen komme es ständig zu Engpässen bei Gütern des Grundbedarfs, sagt auch der Jurist und Politikexperte Hamadi Redissi. Selbst Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter werden knapp, der Preis für Speiseöl verdoppelte sich zuletzt.
Auch finanziell ist Tunesien in einer Schieflage. Die Regierung hofft auf einen Milliarden-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Der IWF fordert im Gegenzug die Aufhebung von Subventionen unter anderem für Kraftstoffe und Nahrungsmittel sowie weitere Reformen.
Das wiederum lehnen die Gewerkschaften ab, da sie für viele ohnehin unter der Wirtschaftskrise leidenden Tunesier wohl sehr schmerzhaft wären. Dies stelle das Land vor ein Dilemma, sagt Politikexperte Hamadi Redissi. Die wirtschaftliche Lage des Landes sei "dramatisch". Die Rating-Agentur Moody's stufte Tunesien bereits Ende Januar auf die schlechteste Klasse Caa2 herab.
Finanzielle Hilfen dürfen nicht eingefroren werden, denn damit wird vor allem die Bevölkerung getroffen, findet der EU-Parlamentsabgeordnete Jan-Christoph Oetjen von der deutschen FDP. Vielmehr sollte die Auszahlung der Gelder an bestimmte Bedingungen wie Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundprinzipien geknüpft sein. Oetjen gehörte zu den Parlamentariern, die einen Entschließungsantrag einbrachte, in dem die jüngsten Angriffe auf die Meinungsfreiheit und auf die Rechte der Gewerkschaften verurteilt werden.
Quellen: Marc Thörner, Margarete Wohlan, Reuters, AP, dpa, tei, ww