Politische Risse
Der Sturz des Diktators Ben Ali sorgte für eine Spaltung der tunesischen Gesellschaft, manchmal verläuft der Riss auch quer durch die Verwandtschaft - so auch in der Familie Ben Othman in der Kleinstadt Tazarka. Die Familie betrachtet die wirtschaftliche Lage mit Skepsis.
Ein Garten, 30 Enten, ein großes Haus im französischen Stil mit Veranden auf allen Seiten. Der Jasmin blüht, die Sonne scheint. Hier lebt Belgacem Ben Othman mit seiner Frau Hedia, am Rande der tunesischen Kleinstadt Tazarka. Ben Othman ist 63 - ein kleiner Mann voller Humor und Energie, der immer etwas zu tun braucht. 1970 war er einer der ersten tunesischen Gastarbeiter in Deutschland.
"Damals wollte ich nur weg. Ich war ein Jahr arbeitslos. Wegen der Armut, ich wollte nur weg."
Anfangs konnte er kein Wort Deutsch. Bei VW brachte der es der gelernte Dreher dann im Getriebebau in Baunatal bis zum Anlagenführer. Er bezog eine Wohnung in Kassel in der Wilhelmshöher Allee, Telefon 313342 - daran kann er sich noch erinnern.
Vier Kinder haben er und seine Frau dort groß gezogen, sie alle haben studiert und leben in Europa. Doch Belgacem und seine Frau zog es zurück, dahin, wo die Geschwister und Freunde leben. Nach der Rente 2008 brachen sie die Zelte in Deutschland ab. Und mussten ihre Heimat neu kennenlernen:
"Nach 40 Jahren haben wir die Winter hier vergessen, in Deutschland hatten wir ja immer eine Heizung. Im ersten Jahr haben wir hier richtig gefroren. Danach haben wir eine Gasheizung eingebaut."
Die Temperaturen im Haus waren dann angenehm. Doch politisch herrschte Eiszeit. Am Ende des Regimes Ben Ali wiesen nur noch die Korruption und der Personenkult um den Präsidenten Wachstumsraten auf.
Im kleinen Tazarka war die Lage nicht ganz so explosiv wie in Tunis oder in den großen Industrieregionen. Doch auch hier brannte 2011 die Polizeiwache, nachdem Diktator Ben Ali geflüchtet war.
"Die Leute können frei sprechen, ohne Angst"
Weitere Ausschreitungen verhinderten die Bürger selbst, sie stellten Patrouillen auf, unterbanden Plünderungen. Ein anderer Geist schien das Land ergriffen zu haben. Für Ben Othman ist die größte Errungenschaft des Umsturzes, dass er heute sagen kann, was er denkt:
"Die Leute können frei sprechen, ohne Angst."
Doch die anfängliche Euphorie ist längst der Skepsis gewichen, ob die neue Freiheit auch dazu führt, dass sich das Leben verbessert. Ben Othman hat noch immer sein Bankkonto in Kassel und ist in Deutschland krankenversichert. Im Ernstfall will er Konsequenzen ziehen:
"Ich habe die doppelte Nationalität. Wenn irgendetwas passiert, dann fahre ich nach Deutschland. Da habe ich meine Ruhe."
Ben Othman hat sich auf seinem Grundstück eine große Garage gebaut. Nur ein Auto steht nicht drin. In Deutschland besaß der VW-Mitarbeiter immer einen Passat oder Golf. Und heute:
"Ich liebe Auto. Ich möchte gern ein Auto haben. Aber in dieser Stadt? Jeden Tag danke ich Gott, dass ich kein Auto habe. Gleich wo ich vor die Haustür gehe, fange ich an zu schimpfen."
Motorradfahrer ohne Helm, Raser ohne Versicherung – für Ben Othman ist es ein Anzeichen mehr von Staatsversagen. Er zeigt sein Tazarka lieber zu Fuß.
Es ist nur eine lange Straße vom Strand bis zur Medina, der verwinkelten Altstadt, dazu ein paar Seitenstraßen, die in Olivenhainen enden. Sogar das Industriegebiet wäre zu Fuß zu erreichen, dort, wo die Italiener Erdgas abfüllen und Tag und Nacht eine Flamme über der Stadt leuchten lassen.
Es ist eine Stadt, die noch immer nicht so recht weiß, ob sie modern sein will oder nicht. Vor den Metzgereien hängen wie ehedem frisch abgeschlagene Rinderschädel an der Wand in der prallen Sonne, wie Trophäen.
"So sieht jeder sofort, wo es Fleisch zu kaufen gibt."
Gleichzeitig bieten die Bars W-Lan, und viele Tazarkiens besitzen Smartphones. Und in den Cafés sitzen wie eh und je ausschließlich Männer. Für Frauen gibt es keinen Treffpunkt im öffentlichen Raum.
Obwohl viele von ihnen in Tunis studiert haben und die meisten arbeiten gehen, sind sie hier auf dem Land noch stark den Traditionen unterworfen. Rund 12.000 Menschen leben hier, und jedes Jahr kommen Tausend hinzu. Der stellvertretende Bürgermeister, Jamal Chouchène glaubt dass, Tazarka ein riesiges Potenzial hat, auch wenn es noch nicht mal einen Bankomaten gibt oder eine Tankstelle:
"Die Bevölkerung wird sich in 10 Jahren verdoppeln, weil wir einen Entwicklungsplan haben, der 100 Hektar zusätzliches Bauland zur Verfügung stellt."
Eine aufstrebende Kommune, sogar die Arbeitslosenzahl von offiziell 10 Prozent liegt unter dem Landesdurchschnitt von 15 Prozent. Zuletzt wuchs die Wirtschaft wieder ein klein wenig, es kamen auch wieder mehr Touristen. Aber in der Wahrnehmung der Menschen hat sich die Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung seit dem Umsturz von 2011 nicht erfüllt, auch nicht in Tazarka. Belgacem Ben Othman, der Mann aus Kassel, hat eher das Gegenteil beobachtet:
"Für die Leute, die hier wohnen wird es schwer. Ich sehe viele Leute, die haben beim Einkaufen Schwierigkeiten, die haben kein Geld. Das Problem sehe ich jeden Tag."
Es wird viel geheiratet in Tazarka. Fast jeden Abend erklingen die Sülemija-Fanfaren auf offener Straße, manchmal bis morgens um zwei.
Für 300 bis 400 Gäste bereiten die Mietköchinnen den Hochzeitscouscous vor, Getreidegrieß, fein gesiebt, mit Gelbwurz, Tomaten und reichlich Rindfleisch. Belgacem Ben Othman hat viele Verwandte in Tazarka. Die Chance ist groß, dass seine Frau und er auf eine Hochzeit eingeladen werden.
Dann sitzt der Bräutigam auf einem Stuhl und lässt sich in aller Öffentlichkeit rasieren. Die Kapelle lärmt dazu. Die Braut wird unter Gesängen in einem separaten Raum festlich gekleidet. Ben Othman hat für die ausufernde Brauchtumspflege nur begrenzt Verständnis:
"Die haben sieben Tage gefeiert. Das war mir viel zu viel. Die Hochzeit hier in Tunesien, da gibt man viel Geld aus, für nichts."
Woher kommt das Geld, Tausende, manchmal Zehntausende Euros? Die meisten Menschen in Tazarka leben von der Landwirtschaft. 650 Bauernhöfe gibt es, dazu 35 Industriebetriebe und ein paar Cafés und Läden. Ein Hotel gibt es nicht, der Massen-Tourismus hat Tazarka noch nicht erreicht, sagt Vizebürgermeister Jamal Chouchène:
"Es ist unser Großmarkt für Gemüse allein, der generiert die Hälfte unserer städtischen Einnahmen, rund 700.000 Dinar im Jahr."
Morgens um vier beginnt auf dem Großmarkt der Handel. Tonnenweise wechseln Tomaten den Besitzer, Paprika, Melonen, Kürbisse und Trauben. Hunderte Pickup-Transporter und Eselkarren parken rund um die Halle. Der Laden brummt an diesem Morgen, doch ein Großhändler berichtet, dass die Umsätze seit 2011 massiv gesunken seien und die Angestellten wenig motiviert:
Die Klage über unzureichende Entlohnung ist aus allen Branchen zu hören. Wir besuchen Adam, den Sohn eines Cousins von Ben Othman. Er wurde in Kassel geboren. Adam übersetzt in einer Textilfabrik Schnittpläne aus dem Deutschen ins Arabische. Reicht sein Lohn zum Leben?
"Ehrlich gesagt Nein. Überhaupt nicht. Man muss den ganzen Tag seinen Rechten hinterherlaufen. Und was man als Gehalt bekommt, ist hier - Lebensmittel, Medikamente sind teurer geworden – mit den Löhnen klappt's zurzeit nicht."
Emira ist ein weiteres Mitglied der weit verzweigten Familie Ben Othman. Emira überlebt im Niedriglohnsektor, und zwar dort, wo der Lohn besonders niedrig ist.
Emira nennt sich Schuharbeiterin, sie näht in Heimarbeit für Subunternehmen europäischer Schuhhersteller einzelne Teile von Schuhen zusammen. Es ist harte Handarbeit, die sie seit zehn Jahren ausübt. Bezahlt wird pro Paar Schuhe: 22 Eurocent.
Im Ort geht das Gerücht, dieselben Schuhe würden dann in Europa für 150 Euro verkauft. Ob das stimmt, lässt sich schwer prüfen, doch entscheidend ist die subjektive Wahrnehmung der Arbeiterinnen: Sie fühlen sich ausgebeutet.
Obwohl Geld knapp ist, wird gebaut wie verrückt. In Tazarka ist nahezu jedes dritte Haus im Rohbau: Unten wohnt man, oben setzt man ein Geschoss drauf oder zwei. Für die Kinder. Für Urlaubsgäste. Oft auf Pump. Die Geschäftsleute in Tazarka können davon ein Lied singen:
Die Leute lassen anschreiben. Sogar im Café. Barkeeper Mourad Nechi sitzt hinter seinem Tresen vor einem großen linierten Buch, voll mit Hunderten Namen. Alles Leute, die ihren Milchkaffee auf Kredit getrunken haben:
"Die Wirtschaft ist bei Null. Von 2011 bis heute ist die Wirtschaftskraft sehr schwach geworden."
Parallel zum Strand breitet sich Tazarkas Lagune aus, Rastplatz und Futterstelle für Hunderte Flamingos. Eine von Palmen gesäumte Allee führt ans Ufer des einstigen Idylls. Das ist der Boulevard de l'Environnement, ein Boulevard zu Ehren der Umwelt. Doch er ist umgeben von Müllhaufen.
"Die Stadt ist dreckig geworden, die Kassen sind leer, jetzt ist überall nur Chaos."
In der ganzen Stadt finden sich in allen Winkeln und Ecken wilde Kippen. Die es vor 2011 nicht gegeben haben soll. Auf Belgacem Ben Othman, den Heimkehrer aus Kassel, wirkt das abschreckend. Für ihn sind die Müllhaufen das Symbol eines nicht mehr funktionierenden Gemeinwesens:
"Die Stadt ist dreckig geworden, die Kassen sind leer, jetzt ist überall nur Chaos."
Moez Kacem ist Mitglied in Tazarkas Umweltverein, einer Organisation der lokalen Zivilgesellschaft. Das Thema Müll, weiß auch er, rege die Bürger richtig auf. Denn sie finden ihn vor ihrer Tür. Schuld daran seien die Deponiebetreiber:
"Es gibt ein großes Problem mit den Kippen, und dafür sind die Betreiber der Kippen verantwortlich."
Neue Deponien stoßen auf Proteste der Bürger, auf den alten streiken regelmäßig die Müllwerker. Mehr Geld kann nur die Zentralregierung in Tunis bewilligen, doch die Mühlen der Bürokratie dort drehen sich nur langsam, wenn überhaupt. Auch in diesem Punkt richten sich die Hoffnungen auf den Ausgang der bevorstehenden Wahlen und eine Reform der staatlichen Strukturen, sagt Jamal Chouchène, der Vertreter der Stadtverwaltung:
"Das ist das größte Handicap aller Gemeinden, dass wir in einem sehr zentralisierten politischen System leben. Wir haben kaum Spielraum für Entscheidungen. Aller muss von den Autoritäten abgesegnet werden, vom Innenministerium. Und das blockiert Investitionen."
Ein Land im Wartestand. Jeder schiebt dem anderen den schwarzen Peter zu. Derweil wachsen die Müllberge. Und der Zorn der Bürger. Auf der Insel Djerba gab es jetzt massive Proteste gegen die Vermüllung - es ist ein landesweites Problem.
Wenn Belgacem Ben Othman durch seine Stadt geht, dann muss er ständig anhalten, Hände schütteln, grüßen. Und ist dabei immer auch mit der politischen Geschichte seines Landes konfrontiert:
Er trifft ein Opfer der Ben Ali Diktatur, eines von vielen. Ben Othmans eigener Bruder, Lotfi, saß zu Beginn der 90er-Jahre im Gefängnis, weil er sich der Bewegung der gemäßigten Islamisten, der Ennahda, angeschlossen hatte. Der Ingenieur verlor seine Stelle im Ministerium für Telekommunikation. Erst nach 20 Jahren erhielt der Familienvater den Job zurück.
Heute ist Lotfi ein führendes Mitglied der Ennahda in Tazarka. Ennahda bedeutet Wiedergeburt. Die Partei versteht sich nach eigener Darstellung als Mittler zwischen Islam und Moderne. Bis vor Kurzem war sie die dominierende Kraft in der Regierung. Und wurde immer wieder heftig attackiert. Lotfi Ben Othman, der einstige Dissident, hat dafür nur Spott übrig:
"Ich nenne ihnen ein Beispiel: Es hat nicht geregnet? Schuld ist die Regierung. Es gab eine Krise? Schuld ist Regierung. Das Gemüse ist teuer - schuld ist die Regierung."
Doch im Kern wird die Ennahda kritisiert, weil sie ein zwiespältiges Verhältnis zu radikalen Islamisten zu pflegen scheint. Es gab Treffen führender Köpfe mit der Hamas, es gab eine stillschweigende Duldung von salafistischen Übergriffen auf Künstler und Frauen.
Doch das Klischee bärtiger Traditionalisten, das im Westen gern mit dem politischen Islam verbunden wird, es trifft auf die Ennahda-Politiker meist nicht zu, und auch nicht auf den dynamischen und immer glatt rasierten Lotfi Ben Othman.
Es sind Mittelständler und Intellektuelle, die der Partei ihren Stempel aufgedrückt haben. Leute wie Lotfi. Er wirkt überzeugend, wenn er sagt, er wolle niemanden an Ketten ins Paradies zerren:
"Der einzige Weg ist die Demokratie. Die einzige Lösung ist, zusammenzuleben und trotzdem Unterschiede zuzulassen. Wir haben doch gar keine Wahl.
Wenn nicht, dann gibt es die Beispiele Libyen und Syrien. Dort haben die Leute keine Mittel gefunden, die Unterschiede zu überbrücken."
Das sind versöhnliche Worte Doch viele Menschen nehmen der Ennahda nicht ab, dass sie ihr Herz für die pluralistische Gesellschaft entdeckt haben will. Das Misstrauen spiegelt sich sogar innerhalb ein und derselben Familie wieder, in der Familie Ben Othman. Belgacem etwa kann mit der Verbindung von Religion und Politik generell wenig anfangen:
"Ich bin nicht der Typ dafür, ich bin Moslem, aber kein strenger Moslem."
Es gibt sie auch in Tazarka, sagt Wafa Bettaieb. Sie leitet das örtliche Kulturzentrum und hält dort die Erinnerung an den größten Sohn der Stadt wach: Mahmoud Messaadi, Tunesiens bekanntester Schriftsteller.
Wafa sagt, vor einigen Salafisten habe sie Angst. Doch neuerdings greifen die Behörden durch. Zuletzt im Juli, nach einem Eklat in der größten Moschee des Ortes.
Die Salafisten in der Moschee von Tazarka hätten die toten Soldaten als Hunde beschimpft und das Gebet verweigert, berichtet Kacem:
"Mit den anderen Salafisten gibt es seit dem Ende des Ramadan kein Problem mehr. Und es gibt hier auch keine Bürger, die nach Libyen, Syrien oder in den Irak gegangen sind. Wir kennen alle Leute hier in Tazarka, von hier ist keiner ausgereist."
Aber aus keinem Land sind mehr Dschihadisten nach Syrien gelangt als aus Tunesien, rund 3000 sollen es sein. Viele Menschen misstrauen dieser Konsensorientierung. Einer von ihnen ist Ben Othmans Bruder Abderazak – er verortet sich politisch eher links – und traut der Partei seines Bruders Lotfi nichts Gutes zu:
"Selbst innerhalb der eigenen Familie haben wir Brüder Angst zu diskutieren. Man gehört einfach nicht derselben Partei an – das betrifft vor allem die Ennahda. Die führen eine schwarze Liste, das hat sogar das Innenministerium gesagt."
Die schwarzen Listen sind ein Gerücht, aber dieses Gerücht belegt zumindest, dass nach Jahrzehnten der Diktatur die Erinnerung an die Möglichkeit politischer Verfolgung noch sehr lebendig ist.