Tunesien

Wächterinnen der Revolution

Tunesierinnen demonstrieren am internationalen Frauentag 2014 in Tunis für mehr Rechte. (8.3.2014)
Tunesierinnen demonstrieren am internationalen Frauentag 2014 in Tunis für mehr Rechte. © dpa/ picture alliance / Mohamed Messara
Von Alexander Göbel |
Wehmütig erinnern sich viele Tunesierinnen an die Aufbruchsstimmung vor drei Jahren. Jetzt ist aus dem Kampf für mehr Demokratie ein Kampf gegen Islamismus und alte Rollenzwänge geworden. Doch das Blutvergießen in den Nachbarländern stimmt die Menschen in Tunesien vorsichtig. Vor allem Frauen setzen bewusst auf gewaltfreie Proteste gegen die schleichende Islamisierung.
Tunis, Ende Januar 2014: Die Abgeordneten der Constituante, der Verfassungsgebenden Versammlung, feiern Tunesiens neues Grundgesetz. Monatelang haben sie über fast 150 Artikel gestritten und schließlich einen nach dem anderen verabschiedet. Fast sah es schon so aus, als würden sich die Delegierten nie auf einen neuen Verfassungstext einigen. Doch das lange Ringen habe sich gelohnt, sagt Mehrezia Laabidi, die Vizepräsidentin des Übergangsparlaments.
"Wenn wir bis jetzt gewartet haben, dann deswegen, weil wir dem tunesischen Volk gerecht werden wollten. Das Ergebnis kann nie perfekt sein, es kann nicht alle Tunesierinnen und Tunesier zufriedenstellen - aber wir wollen diese Verfassung so gut machen, wie irgend möglich. Und wenn die Mehrheit der Bevölkerung sie auch unterstützt, dann ist das ein guter Anfang."
Die Abgeordnete Souad Abderrahim von Ennahda ist überzeugt: Die Verfassung bedeutet nicht nur einen wichtigen Strich unter der schweren politischen Krise der letzten Jahre - sie ist vor allem ein Sieg der Frauen für die Frauen.
"Ich habe dafür gekämpft, dass der Staat ein ziviler Staat sein soll, und das steht jetzt auch im Text. Ich habe mich auch für Gleichberechtigung und die Parität von Männern und Frauen stark gemacht. Als Frau bin ich sehr stolz und zufrieden, dass die weiblichen Abgeordneten für diesen Artikel gekämpft haben, der die Gleichberechtigung von Männern und Frauen garantiert."
Gleichberechtigung per Gesetz - das ist für die Tunesierinnen eigentlich nichts Neues. Schon unter dem alten Regime hatten sie mehr Rechte als in anderen arabischen Staaten. Doch mit dem Wahlsieg der konservativen islamistischen Ennahda-Partei im Oktober 2011 sahen viele Frauen in Tunesien ihre Freiheiten gefährdet. Unter Ben Ali war die Partei verboten gewesen, islamistische Strömungen aller Art wurden massiv unterdrückt. Doch im Zuge der ersten freien Parlamentswahl zeigte sich dann, wie groß der Einfluss von Ennahda tatsächlich war. Immer mehr Frauen trugen plötzlich Kopftuch oder verhüllten sich komplett mit einem Niqab. Während die Frauen bei Ennahdha dies als neue Freiheit feierten, nach Jahren der Repression endlich ihren Glauben ausleben zu können, warnte die säkulare Opposition vor dem Untergang der liberalen und laizistischen Werte und sprach von einem islamistischen "backlash". Wasser auf die Mühlen waren salafistische Übergriffe bis hin zu politischen Morden an linken Islamkritikern wie Chokri Belaid oder Mohamed Brahmi im Jahr 2013.
Allen Sorgen zum Trotz: Die Islamisten in der Verfassunggebenden Versammlung konnten die Zeit nicht zurückdrehen - im Gegenteil. Das neue Grundgesetz sei beispielhaft für die arabische Welt, sagt Ferhat Horchani von der tunesischen Vereinigung für Verfassungsrecht:
"In der Verfassung steht ganz klar, dass die Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz gleich sind - mit allen Rechten und Pflichten. Damit unterscheidet sich die neue Verfassung ganz deutlich von den anderen, die es in der arabischen und in der islamischen Welt gibt."
De facto bauen die Frauenrechte auf dem starken Fundament von 1956 auf und gehen weiter, als je zuvor - das müssen auch Tunesiens linke Feministinnen eingestehen. Wie jedoch diese Rechte in den Städten und vor allem im konservativen ländlichen Raum geschützt werden können - das bleibt eine andere Frage.
Schritt für Schritt mehr Demokratie
So viel steht immerhin fest: Tunesien verabschiedet sich mit der neuen Verfassung vom präsidentiellen System, das Parlament wird gestärkt - und damit der Wille des Volkes. Die Justiz soll unabhängig werden. Zumindest auf dem Papier ist die politische Macht unter den Institutionen verteilt wie nie zuvor. Das sei eine Lehre aus langen Jahren der Autokratie unter Staatsgründer Bourguiba und seinem Nachfolger Ben Ali, sagt die Vizepräsidentin der Constituante, Mehrezia Laâbidi:
"Ich blicke nach vorne. Und ich bin zuversichtlich, dass wir trotz aller Schwierigkeiten etwas aufbauen können. Schritt für Schritt wagen wir mehr Demokratie, und davon wird etwas bleiben. Sicher, wir haben schwere Krisen durchlebt und stecken gerade noch mittendrin. Aber verglichen mit anderen Ländern, in denen während der Revolution wesentlich mehr Blut geflossen ist, stehen wir doch gut da. Ich habe Hoffnung für Tunesien: Trotz der scharfen politischen Auseinandersetzungen, trotz der großen Terrorgefahr sind wir dabei, ein neues Kapitel aufzuschlagen."
In Artikel 1 der neuen Verfassung heißt es wörtlich: "Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Der Islam ist seine Religion, das Arabische seine Sprache und die Republik seine Staatsform." Ein klares Bekenntnis zum Islam als Glaubensrichtung, aber ebenso eine Abkehr vom Islam als Rechtsquelle. Anders als von vielen Islamisten gefordert, wird die Scharia keine Grundlage für staatliches Handeln sein. Aufklärungsfeindliche Strömungen sollen politisch keine Chance haben, Tunesien will weiter auf seinem Kurs bleiben, Richtung: Demokratie. Nur: Der Weg dorthin ist mühsam. Die linke Oppositionspolitikerin Rim Mahjoub:
"Unsere Furcht ist, dass das, was wir erreicht haben, wieder rückgängig gemacht wird. Deshalb sind einige Artikel in der neuen Verfassung unumkehrbar. Wenn sie noch verbessert werden sollen, ist das der Wille der Regierung und der Zivilgesellschaft - und wir haben zum Glück eine Zivilgesellschaft, die sehr gut aufpasst."
Appell gegen das Vergessen
Frauen eine Stimme zu geben, ist Ibtihel Abdellatifs Lebensaufgabe. Die Märtyrer der Revolution von 2011 seien bekannt, ebenso die Schicksale der vielen zehntausend Männer, die zu Ben Alis Zeit aus politischen oder religiösen Gründen verhaftet wurden. Doch es gebe keine Zahlen, keine Statistiken, keine Erinnerung an die Frauen, sagt die Aktivistin Abdellatif, mit Tränen in den Augen. Mühsam und schmerzhaft sei es gewesen, wenigstens einige dieser Frauen zu finden und sie zum Reden zu bringen. Bisher haben 450 Frauen für eine Dokumentation des Verein "Femmes Tunisiennes" vor der Kamera ihre Geschichte erzählt. Sie haben Zeugnis abgelegt vom Grauen der Diktatur, von unvorstellbarer Demütigung, Folter und Vergewaltigung.
Die Aussagen der Frauen seien ein Appell gegen das Vergessen und für Aufarbeitung, glaubt Ibtihel Abdellatif. Eine Mahnung an die Justiz des neuen Tunesien, die Taten nicht ungesühnt verjähren zu lassen. Und schließlich seien sie eine Aufforderung an die altlinken, säkularen Frauenverbände, endlich die ideologischen Gräben zuzuschütten. Die tunesische Gesellschaft insgesamt sei eben über Parteigrenzen hinaus gespalten - in ein islamisch-konservatives und ein liberales, säkular orientiertes Lager.
"Ihr im Westen, Ihr müsst versuchen, uns zu verstehen. All die Jahre wurde über uns gesprochen, aber nicht mit uns. Wir wurden verteufelt, wir wurden von unseren eigenen tunesischen Schwestern nicht als Aktivistinnen respektiert, und vom Ausland schon gar nicht. Ja, ich trage ein Kopftuch - aber ich bin genauso eine Frau wie alle anderen, ich bin ein Mensch. Und: Waren nicht auch die Frauen Menschen, die von Ben Ali zu Tode gefoltert wurden? Warum wurden sie gequält - nur weil sie Kopftuch trugen?"
Frauen - Hausfrauen, Anwältinnen, Ärztinnen, Studentinnen - haben an vorderster Front gegen die Machtclique von Ben Ali demonstriert, an der tunesischen Staatszensur vorbei gebloggt, Videoclips über illegale Demonstrationen auf Youtube hochgeladen, genauso wie die Männer. Tunesiens Frauen gelten heute als besser ausgebildet als die Männer, sie haben mehr Uni-Abschlüsse, viele von ihnen haben technische Berufe und gute Arbeitschancen, viele Frauen sitzen in der Verfassungsgebenden Versammlung. Doch besonders im Hinterland werden Frauen noch immer stark benachteiligt.
An den Rand gedrängt
"Das größte Problem für die Frauen ist, dass sie immer an den Rand gedrängt werden, wirtschaftlich gesehen. Vor allem hier in der Bergbauregion, wir spüren die Arbeitslosigkeit noch mehr als die Männer. Die Wirtschaft ist das größte Problem."
Meryem Tabbabi ist 36 Jahre alt, sie trägt ein schwarz-blaues Kopftuch und Jeans, seit ihrer Geburt lebt sie in Redeyef. Die Kleinstadt tief um Süden Tunesiens ist nur wenige Kilometer von der algerischen Grenze entfernt und liegt mitten in einem riesigen Phosphatbecken. Hier wird Tunesiens einziger Bodenschatz abgebaut, das Phosphat.
"Ja, seit der Revolution haben sich die Dinge hier geändert - aber zum Schlechten, das ist das Problem. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, die Märtyrer sind gestorben, die Umweltverschmutzung wird immer schlimmer, die Gesundheitsprobleme auch. Unsere Wasserleitungen und Kanalisationen stammen aus den Fünfziger und Sechziger Jahren, sie sind für 5000 Einwohner gedacht, heute hat Redeyef aber 30000 Einwohner. Wir haben viel mehr Probleme als Lösungen ..."
Ausgerechnet diese triste Gegend gilt vielen Tunesiern als die "Wiege der Revolution. Immer wieder hat es in Redeyef schwere Unruhen und Proteste gegeben, lange vor dem Beginn der sogenannten Jasmin-Revolution. Meryem Tabbabi sieht sich als Erbin dieses Umbruchs. Als Wächterin der Revolution.
"Vor allem die Frauen, die schon 2008 auf die Straße gegangen sind, haben eine wichtige Rolle gespielt und ein wichtiges Zeichen gesetzt, auch nach außen. Die Forderungen, die ihre Kinder ins Gefängnis gebracht haben, das waren keine politischen Forderungen, sondern zunächst mal wirtschaftliche. Es ging darum, die wirtschaftliche Situation in der Region zu verbessern. Ben Ali hat sich gedacht, wenn er die Männer festnimmt, ist es vorbei, aber er musste erkennen, dass dann die Frauen die Revolution übernommen haben. Deshalb waren sie so wichtig!"
Es sind diese Frauen, die die Rechtsanwältin und Aktivistin Radhia Nasraoui stolz machen: Ohne starke, mutige Frauen sei diese Revolution eben undenkbar.
"Ich sehe viele Frauen in Tunesien, die das verteidigen, was wir erreicht haben - es ist ein Teil der Kultur geworden, der Identität. Dass die Frauen einfach sichtbar sind in der Gesellschaft, dass sie sich zu Wort melden, sich politisch engagieren. Das ist etwas Normales geworden, und das ist wunderbar. Es gibt auch Frauen, die in der Wirtschaft Erfolg haben. Das alles kann man nicht mehr in Frage stellen."
Bestes Beispiel: Wided Bouchamaoui, Präsidentin des Industrie- und Arbeitgeberverbandes UTICA: die vielleicht einflussreichste, um nicht zu sagen: mächtigste Frau Tunesiens. Das die Herren der Schöpfung fast schon furchtsam als "femme de fer" bezeichnen, als eiserne Lady, das stört Wided Bouchamaoui nicht. Sie stammt aus einer Unternehmerfamilie und führt heute selbst einen Konzern, verdient Geld mit ölverarbeitender Industrie, mit Textilien, und mit dem Bau von Industrieanlagen in ganz Nordafrika.
"Das werde ich oft gefragt: Wie schaffen Sie das als Frau, eine so patriarchalischen Organisation wie einen Industrieverband zu leiten, noch dazu als Chefin eines Unternehmens. Für das neue Tunesien ist das ein sehr gutes, ein sehr wichtiges Zeichen: Die Frau hat ihren Platz, sie behauptet sich, und sie leistet etwas für die Gesellschaft insgesamt. Das hat viel mit Vertrauen zu tun, aber auch mit Anspruch, mit Selbstbewusstsein gegenüber den Männern."
Im roten Business-Kostüm sitzt die kleine, fast zierliche Frau Anfang 50 an einem Magahony-Schreibtisch. Seit Mai 2011 ist Wided Bouchamaoui Chefin des Industrieverbandes, seitdem ging es stetig nach oben. Bis hier hinauf, in ihr riesiges Büro, das hoch über den Dächern von Tunis liegt und so groß ist wie ein Konferenzsaal.
"Es braucht viel Mut. Die Frauen in Tunesien müssen mehr Selbstbewusstsein entwickeln, sie müssen nach vorne gehen, etwas wagen. Und die Männer müssen endlich begreifen, dass wir Frauen ihnen ebenbürtig sind. Ich sage: Frauen in Tunesien können es weit bringen, wenn sie es wollen, wenn sie kompetent sind - trotz all der Schwierigkeiten."
Salafistendemos, politische Morde, Straßenschlachten, Tränengas - lange Zeit konnten Pessimisten und Zyniker zu dem Schluss kommen, Tunesiens sogenannter "Arabischer Frühling" habe sich schon in einen "Winter" verwandelt, das Experiment der ersten Demokratie im arabischen Raum sei gescheitert. Doch es sind gerade die jungen Menschen, die an ihr Land glauben. Vor allem die jungen Tunesierinnen.
"Die Emanzipation, die Befreiung Tunesiens - das ist etwas ganz Wichtiges. Und diese Emanzipation wird dann gelingen, wenn die Tunesier sich als Bürger fühlen und nicht länger als Subjekte, als Untertanen. Vor drei Jahren sind wir aufgewacht und sollten von heute auf morgen Bürger sein, aber wir wussten gar nicht, was das bedeutet und wie man das macht. Wir sind dabei, es zu lernen, Rechte zu haben und Verantwortung. Und wenn wir das eines Tages geschafft haben, sind wir einen großen Schritt weiter: Denn dann sind es die vielen Einzelnen, die mündigen Bürger, die die Gesellschaft tragen werden - das genaue Gegenteil der Verhältnisse, die hier früher geherrscht haben."
Sagt Yamina, Anfang 30; Bloggerin, Redakteurin, Kulturmanagerin. Lesbisch.
Sie fühle sich emanzipiert, erzählt sie, seit sie einen Job hat und Geld verdient, das habe sie finanziell unabhängig gemacht. Und noch mutiger. Yamina hat sich ihre ökonomische Freiheit erkämpft und dabei auch persönliche Freiheit gewonnen, die es ihr erlaubt, auch in einer arabischen, patriarchalischen Gesellschaft wie Tunesien so zu leben, wie sie leben will.
Es geht um das Erbe der Revolution
Ein Festival mit alternativer Musik - auf dem Hügel von Karthago: Am Horizont geht die Sonne unter. Zwischen antiken Säulen steht Sängerin Baadia Bouhrizi auf der kleinen Bühne und wippt zum DJ-Rhythmus. Die Stimmung ist gedämpft, nachdenklich. Baadia Bouhrizi ist auf der Suche nach Antworten. Antworten auf die Fragen, die sich in Tunesien drei Jahre nach der Revolution eine ganze junge Generation stellt: Wie gehen wir mit dem Erbe der Revolution um? Wie wollen wir leben? Wie dürfen wir leben?
"Wir wollen den Menschen Hoffnung bringen. Hoffnung für die Kinder der Arabischen Revolutionen - in Ägypten, in Tunesien, überall. Diese Leute hier glauben daran, dass es Revolutionen der Kultur sind. Entweder eine Revolution geschieht über die Kultur, oder sie findet erst gar nicht statt. Es geht um Mentalitäten! Wir glauben an die Masse, und daran, dass wir gemeinsam etwas verändern können! Wir sind in einer Phase, in der uns niemand mehr aufhalten kann, auch nicht die Islamisten. Ich glaube fest daran, dass die Dinge sich hier ändern werden. Weil wir wollen, dass sie sich ändern. Wir sind freie Menschen, Individuen, und wir sind die Mehrheit!