Mit Hannibal und Karthago in die Zukunft
Wie leben tunesische Autoren sechs Jahre nach der Revolution? Unsere Autorinnen haben mit Autoren über die Freiheit der Kunst gesprochen. Denn auch wenn es in Tunesien offiziell keine Zensur mehr gibt, gesellschaftliche Tabus haben überlebt.
"Ich wünsche mir, dass Kinder, die man heute fragt, was willst du werden, antworten: Schriftsteller!"
Sagt Kamel Riahi. Als Jugendlicher hat er mit Kleiderschmuggel Geld verdienen müssen. Über ein Jahr lang war er nur im Grenzgebiet zwischen Algerien und Marokko unterwegs. Bildung hat er sich erkämpft. In Saudi-Arabien und in den Golfstaaten werden seine Romane zensiert.
"Es gibt bei uns eine Elite, die liest und 99 Prozent der Bevölkerung tun dies nicht – und das birgt eine enorme Gefahr."
Sagt Abdelaziz Belkhodja, Autor und Verleger. Er verteidigt die Populärkultur. Elitäres Denken widerstrebt ihm. Deshalb kritisiert er die tunesische Literaturszene:
"Die Nabelschau der tunesischen Autoren ist ein Problem. Warum? Weil der Tunesier an sich sehr ichbezogen ist."
Hat sich nach der Revolution die Literaturszene verändert?
"Jeder x-beliebige Autor kann sich nach der Wende, die der tunesische Frühling gebracht hat, Schriftsteller nennen. Leute erklären sich plötzlich zu politischen Kämpfern, andere behaupten, sie seien Theatermacher, Cineasten oder Blogger. Es ist eine Mode."
sagt Hatem Tlili, 35 Jahre alt, Literaturkritiker, Romancier, Essayist. Tlili glaubt daran, dass die Literatur ihn befähigt, sich in dieser Welt als freier Geist zu behaupten.
Wie leben tunesische Autoren sechs Jahre nach der Revolution vom 14. Januar 2011? Wie viel Freiheit haben sie gewonnen, nachdem die Zensur nach der Flucht des Autokraten Ben Ali endete? Hat die Revolution Schriftsteller hervorgebracht? Wer schreibt auf Französisch, wer auf Arabisch?
Sprache ist ein Teil der Identität. Wer über das Schreiben nachdenkt, stößt unwillkürlich auf die Frage: Was ist das für ein Land? Wohin steuert Tunesien?
Gesellschaftliche Tabus gibt es immer noch viele
Offiziell gibt es keine Zensur mehr in Tunesien. Überlebt haben gesellschaftliche Tabus. Über Homosexualität zu schreiben, ist unmöglich, denn sie ist gesetzlich verboten. Männer können von Polizisten angehalten und auf der Wache zu Analtests gezwungen werden. Nicht selten werden Homosexuelle zu einjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Das am stärksten verminte Terrain ist die Religion. Die Religionsfreiheit wird in der Verfassung garantiert und zugleich eingeschränkt, denn in Artikel Eins wird fest geschrieben, dass Tunesien ein arabisches Land und der Islam Staatsreligion ist. Literatur, die die islamische Religion offen kritisiert oder ironisiert, wird nicht toleriert.
Verlegerin Elisabeth Daldoul ist bereit, sich hinter ihre Autoren zu stellen, aber sie hat wenig Gelegenheit, verlegerischen Mut zu beweisen.
"Ein Autor fand, 'Der kleine Bruder Gottes' wäre ein passender Titel für sein Buch, aber schlussendlich hat er ihn zurückgezogen. Es gab gar keine explizit religiösen Bezüge in seinem Buch, und trotzdem fand er nicht den Mut. Da habe ich mir gesagt: So ein Mist, es gibt einfach noch zu viele Verbote und zu viel Druck. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen, wir haben eine Revolution erlebt, uff, jetzt haben wir‘s geschafft."
(gekürzte Online-Fassung: mw)