Spektakuläre Flucht von Ost nach West
75 Fluchttunnel, die nach dem Mauerbau zwischen Ost- und Westberlin gegraben wurden, sind dokumentiert. Durch den "Tunnel 28" flohen heute vor 55 Jahren fast 30 Menschen aus der DDR. Noch im gleichen Jahr kam die geglückte Flucht als Spielfilm in die Kinos.
"Es gibt viele Gründe, die man anführen kann, warum man weggegangen ist. Das ist für mich ein riesiger Wartesaal geworden. Und Arbeit und alles, was drum und dran hängt, um sich durchs tägliche Leben zu schlagen, sind mir Nebenbeschäftigung geworden, denn im Grunde genommen besteht nur ein Gedanke noch, durch die Ausweglosigkeit der ganzen Situation, aus diesem großen Wartesaal herauszukommen und eventuell noch den letzten Zug zu kriegen."
Ein "Tunnelflüchtling" berichtet im Herbst 1962 über sein Motiv, die DDR zu verlassen und sich auf die gefährliche Flucht unter Stacheldraht und Mauer zu begeben. In der Zeit von der Gründung der DDR 1949 bis zum Mauerbau 1961 hatten weit mehr als zweieinhalb Millionen Menschen die DDR verlassen.
Flucht vor der Zwangsumsiedlung
Nach dem Bau der Mauer gelingt es vor allem in den ersten zwei Jahren kleinen verschworenen Gemeinschaften, Fluchttunnel von Ost nach West zu graben, oder – wie es auch häufig vorkommt - von West nach Ost, um Freunde und Verwandte aus der DDR herauszuholen. Familie Becker lebt im Norden von Ost-Berlin direkt an der Grenze zu Westberlin. Wegen der Nähe zur Sektorengrenze sollen sie zwangsumgesiedelt werden. Wann es passieren soll, ist allerdings noch ungewiss. Erwin Becker:
"Ich war drüben Fahrer gewesen und habe den Präsidenten Nagel von der deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gefahren. Ich habe einen großen Wagen gefahren, einen Wolga. Und diese Wagen gibt es drüben sehr wenig, und es ist bekannt, dass solche Wagen nur für Minister und Funktionäre zur Verfügung gestellt werden, und dadurch hatten wir ein gewisses Vertrauen bei den Posten."
Fast von Betonplatten aufgehalten
Die Familie beschließt aber, nicht zu warten, bis die Nachricht von der Umsiedlung kommt. Im Januar 1962 melden sich die Brüder von Erwin Becker, Günter und Bruno, in ihren Betrieben krank.
Erwin Becker: "Wir haben uns dazu entschlossen, einen Tunnel zu graben und haben die Mauer durchstemmt, haben ca. zehn Tage an dem Tunnel gearbeitet. Das Erdreich haben wir im Keller gelassen, mit Brettern und Bohlen abgestützt. Dann zum Schluss des Tunnels ist uns noch ein Postschacht in die Quere gekommen, und da waren wir ganz verzweifelt. Wir wussten gar nicht, was wir machen sollten: entweder oben drüber oder unten drunter. Das waren Betonplatten, ich glaube, das waren Postleitungen von Berlin nach Rostock, Fernleitungen, die wir unmöglich zerstören konnten. Und wir haben uns entschlossen, oben drüber zu graben, und dadurch hatten wir nur eine Grasnarbe von höchstens zehn Zentimester."
Vom Küchenfenster aus beobachtet ihre Schwester Gerda die Grenzposten. Wenn eine Patrouille sich dem Haus nähert, warnt sie die Brüder. Sie unterbrechen ihre Arbeit im Tunnel, denn es darf kein Geräusch nach außen dringen. Ansonsten geht die Arbeit an dem etwa 30 Meter langen, 60 Zentimeter breiten, etwas mehr als ein Meter hohen Tunnel voran.
Die Arbeiten blieben nicht unbemerkt
Nach etwa zehn Tagen – am 24. Januar 1962 – ist es soweit. Doch die Arbeiten im Tunnel sind nicht unbemerkt geblieben: Als die Brüder nach oben kommen, um die Familie zu holen, stehen über 20 Menschen in der Küche, die wenigsten sind ihnen bekannt. Alle wollen sie in den Westen fliehen. Insgesamt 28 Menschen – daher der Name Tunnel 28 – kriechen auf allen Vieren durch den Tunnel.
Erwin Becker: "Und dann sind wir hinter dem letzten Zaun ausgestiegen, und das war aber noch im Osten, denn die Grenze war ja erst drei Schritt weiter. Wir sind nachts ausgestiegen, gegen 1.30 Uhr. Und wir haben es sehr günstig abgepasst, die Posten sind nach oben gegangen, und wir waren circa 300 bis 400 Meter weg gewesen. Und der ganze Ausstieg ging sehr glatt, bis auf eine alte Frau, die im Tunnel ohnmächtig zusammenbrach. Wir haben die Frau rausgezogen aus dem Tunnel und haben sie über den Berg getragen."
Von Robert Siodmak verfilmt
Im Sommer 1962 während der Berliner Filmfestspiele, der "Berlinale", wird schon die Werbetrommel für den Spielfilm "Tunnel 28" gerührt. Die Dreharbeiten für die deutsch-amerikanische Produktion laufen bereits auf Hochtouren. Regisseur ist der aus Hollywood zurückgekehrte Emigrant Robert Siodmak. In den Hauptrollen sind unter anderem Ingrid van Bergen und Christine Kaufmann zu sehen. "Escape From East Berlin" lautet der amerikanische Titel des Films, die Premiere findet am 22. Oktober 1962 in der Berliner Kongresshalle statt.
Technischer Berater bei den Dreharbeiten für "Tunnel 28" ist Erwin Becker: "Ja, ich kann sagen, das ist soweit alles authentisch. Das elektrische Licht hatten wir auch und in der Küche einen Schalter, wenn Gefahr kam, wenn die Posten kamen, haben wir das Licht ausgeschaltet, das war sozusagen als Lichtsignal und Beleuchtung."
Reporter: "Man kann also sagen, die Flucht, mehr können Sie ja selbst nicht entscheiden, die stimmt?"
Erwin Becker: "Ja, die stimmt, voll und ganz."