"Es gibt nur wenig, das so entscheidend für Lernprozesse ist wie Zeit"
Der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth begrüßt, dass immer mehr Schulen zum alten Abitur bis zur 13. Klasse zurückkehren wollen. Ruhe und Zeit zur intellektuellen Reflexion seien Voraussetzung für gute Bildung - gerade an der Schwelle zum Erwachsensein.
Joachim Scholl: G8, das war das bildungspolitische Kürzel für eine Schulreform, die den Nachwuchs schneller in die Berufswelt bringen sollte: Nur noch acht Jahre nach der Grundschule bis zum Abitur. Jetzt aber kehrt sich der Trend um. Immer mehr Bundesländer kehren zum alten Abitur bis zur 13. Klasse zurück. Braucht Bildung also doch mehr Zeit? Am Telefon ist jetzt Heinz-Elmar Tenorth, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher. Guten Morgen, Herr Tenorth!
Heinz-Elmar Tenorth: Guten Morgen, Herr Scholl!
Scholl: Es war damals vor allem die Wirtschaft, die G8 gefordert hat mit der Begründung, unsere Schüler müssten schneller ins Berufsleben kommen. Jetzt hört man ganz andere Töne, weil man festgestellt hat, dass viele Abiturienten eben viel zu jung, heißt, zu unerfahren, zu unreif seien und nur mangelhaft vorbereitet. Hat man erkannt, dass Bildungsqualität doch nicht so rasch zu haben ist?
Tenorth: Da bin ich mir nicht sicher, ob man diese Lektion systematisch gelernt hat. Auf jeden Fall waren die Wirtschaftsleute auf dem Trip: möglichst rasch, möglichst schnell. Leider sind die Politiker ihnen auch ganz kritiklos gefolgt. Ob man genügend Zeit gibt, ist noch offen, denn wir haben ja, wenn man das Gymnasium verlässt und in die Universitäten geht, auch da noch einen Rhythmus, der durchaus noch Korrekturbedürftigkeiten zeigt. Die Bachelor-Master-Sequenz ist ja auch eine, bei der man eher auf Zeit drängt, statt Zeit zu gewähren. Also, ob es eine radikale Umkehr ist, das weiß ich nicht, aber vielleicht eine erste Einsicht, sodass man sich daran erinnert, dass Bildung ohne Zeit und ohne Gewähren von Zeit und ohne Eigenzeit für das Lernen überhaupt nicht gehen kann.
Scholl: Macht es aber wirklich solch einen Unterschied, die Differenz von einem Jahr?
Tenorth: Ja. Das eine Jahr hat zum Beispiel bei G8 die Schwierigkeit mit sich gebracht, dass die Leute meinten, man könnte den Lernstoff der neun Jahre, der ja in der Gesamtstundenzahl unverändert geblieben ist, zusammendrängen und verknappen. Man könnte die Erholungsphasen, die Besinnungsphasen, die ein solcher Prozess braucht, streichen, und sich nur noch zielbezogen, zielorientiert auf das Vermitteln des Minimums und des Geforderten einlassen, und man könnte die Abschweifungen nach links und rechts im wörtlichen Sinne und im intellektuellen Sinne alle streichen.
Das ist in der Phase, in der Jugendliche sind, die in die Adoleszenz kommen – das ist die wesentliche Krise vor dem Erwachsenwerden, da entwickelt man politisches und gesellschaftliches Bewusstsein. Wenn da die Zeit fehlt und die Ruhe dieser Adoleszenzkrise institutionell im Schonraum durchzubringen, dann geht ganz viel schief. Und das merkt man langfristig und systematisch. Sie haben in Ihrer Anmoderation darauf hingewiesen, dass die jungen Menschen, wenn sie jetzt in das Studium zum Beispiel kommen, viel zu jung sind. Wir haben nichts davon, wenn jemand 17 oder 18 ist, aber das ruhige Arbeiten, das intellektuelle Reflektieren noch nicht gelernt hat – da kommt nichts bei raus.
Scholl: Aber sind die Kinder, die Heranwachsenden nicht schon selber schneller drauf? Mir fällt da immer ein Dialog ein, den ein Freund von mir mit seinem 18-jährigen Sohn geführt hat. Der Vater sagte noch, so ein bisschen hippiemäßig, jetzt nach dem Abi mach mal Pause, Junge, reis durch die Welt, probier Sachen aus, lass dir den Wind um die Nase wehen, und der Sohn schaut ihn entgeistert an und sagt: Bist du verrückt? Ich verliere doch so ein Jahr!
Schüler müssen individuellen Rhythmus finden
Tenorth: Ja, das mag durchaus sein. Wenn man sagt, man gewährt Zeit und man räumt Zeit ein, dann heißt das ja nicht, dass man jedem seine eigene Lernzeit vorschreibt. Sondern der Gewinn der ruhigen Gymnasialphase der neun Jahre bestand ja genau darin, dass man sich in seinem eigenen Lehntempo einrichten konnte, dass man seinen eigenen Rhythmus finden konnte. Und das geht immer schneller oder langsamer.
Während bei G8 die Varianzmöglichkeiten beschnitten wurden, werden sie jetzt wieder eröffnet. Und wenn einige dann schneller sind – das war immer der Fall, das überrascht mich überhaupt nicht, weil Bildung ja auch ein Prozess ist, der nur je individuell geschieht. Die Schule ist dafür ein Anlass, sie gibt Unterstützung, sie stellt Lernmöglichkeiten bereit, aber wenn sie anfängt, das zeitlich zu normieren, wenn sie anfängt, alles bis ins Detail vorzuschreiben, dann begeht sie Fehler. Dann verhindert sie Bildung und macht sie nicht möglich.
Und dann verstehe ich den jungen Mann, von dem Sie berichten, sehr gut, der sagt, ich will jetzt unbedingt was tun. Das war, wenn ich mich an meine Abiturientenzeit erinnere – ich bin sofort ins Studium und war froh, dass ich nicht Soldat werden musste. Und andere sagten, nein, die Soldatenzeit oder die Zeit beim Ersatzdienst, die brauche ich jetzt, ich muss Distanz von Schule und von Lerneinrichtungen und Lernorganisationen gewinnen. Das ist gerade der Gewinn, den man hat, wenn man nicht so scharf normiert vorschreibt, sondern eine Offenheit eines entspannten Zeitmusters anbieten kann.
Scholl: Aber, Herr Tenorth, Sie haben jetzt schon auch die Universität genannt, und dass hier auch – also Stichwort Bologna – doch immer jetzt insgesamt mehr auf den schnellen Abschluss gesetzt wird, mit dem Modulmodell, mit dem Bachelor, dem Master. Welche Rolle misst man denn eigentlich in der Bildungsforschung dem Faktor Zeit demnach zu? Wenn man diese Entwicklung anschaut, könnte man ja sagen, ja, es geht ja doch immer schneller und weiter und schneller.
Tenorth: Ja, es gibt in der Pädagogik wenige Faktoren, die so entscheidend sind für Bildungs- und Lernprozesse wie die Zeit. Sie können im Grunde nur an drei Stellgrößen operieren. Sie können sozial argumentieren und können die Zusammensetzung einer Gruppe organisieren, homogen oder heterogen. Sie können Curriculararbeiten und Themen strukturieren und organisieren. Aber die wesentliche Bedingung für alle Lernprozesse ist Zeit, weil sie zwei fatale Eigenschaften hat: Erstens, sie ist knapp, und zweitens, sie verrinnt und ist irreversibel. Das, was ich gemacht habe, kann ich nicht wiederholen. Und in dieser befristeten Zeit als Bedingung pädagogischen Handelns habe ich eine ganz wesentliche Größe, die betrifft das Lernen der Individuen. Sie betrifft das Lehren der Lehrer. Den Fehler, den ich vor fünf Minuten in einer Schulklasse gemacht habe, den habe ich gemacht und den kann ich nicht zurückholen. Und von daher ist Zeit eine ganz große Bedingung.
Die Schwierigkeit, auf die die Pädagogik in ihren Planungen stößt, sowohl schulisch als auch universitär, besteht darin, dass sie die Stellgrößen aneinander abpassen muss. Um beim Bachelor zu bleiben: Die drei Jahre sind nicht das Problem. Das Problem ist bis heute gewesen, nicht mehr ganz so groß wie in der Anfangsphase, dass man in diese knappe Zeit zu viel an curricularen Einheiten eingepresst hat, und dass man zu viele Prüfungen damit verbunden hat, dass man also die drei Jahre nicht in einer Weise nutzte, dass sie diese propädeutische Phase wirklich sein konnten. Und dann hat man aus lauter Angst, irgendein Fach, irgendein Thema nicht in die drei Jahre gebracht zu haben, das total überfrachtet und hat genau den Fehler gemacht, den G8 auch gemacht hat: Zeit verändert, aber Kurrikula nicht angepasst und die Inhalte nicht verändert, sondern das alte in das neue Zeitkleid gegossen.
Und dann kann das nur schiefgehen, und dann merkt man, das, was sich am schärfsten bemerkbar macht und rächt, ist Mangel an Zeit, Verknappung von Zeit, unzulässige Beschleunigung, und dann geht alles schief. Und ich denke, auch die Universitäten haben gelernt. Ich kenne keine mehr, die so arbeitet wie vor zehn Jahren bei der Einführung der konsekutiven Studienreform.
Scholl: Zeit für die Bildung. Wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth. Wenn wir jetzt aber mal diese Reaktion in der Schulpolitik bedenken. Also, zurück zur 13. Klasse. Dann kann man ja auch sagen, so war es 100 Jahre lang, und wie sehr haben sich doch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Lebensformen, die Lebensentwürfe in den letzten drei Jahrzehnten verändert. Passt denn dieses pädagogische Konzept Ihrer Meinung nach von einst also überhaupt noch in unsere Welt?
Tenorth: Der Vorzug der Schule ist ja der, dass sie die Chance und die Möglichkeit hat, in einer eigenen Welt das Aufwachsen in Unsicherheiten, Unbestimmtheiten und Offenheit zu ermöglichen. Die Welt war auch vor 100 Jahren, wenn Sie das als Datum ansprechen – das Gymnasium ist ja älter –, die war für die Leute ganz unsicher. Vor 100 Jahren hatten die Gymnasiasten in Preußen ganz schlechte Berufsaussichten. Überall wurde ihnen erzählt, es gibt zu viele Akademiker, ihr studiert vergeblich, euer Abitur ist nichts wert. Und dann fing – Sie erinnern sich – ein paar Monate später der Weltkrieg an. Wenn das sichere Zeiten waren, dann weiß ich nicht, was unsichere Zeiten sind.
Und von daher ist das ein Trugschluss, wenn man meint, man müsse die Schule und die Strukturen des Lernens und die Konstruktion eines Schonraums, in dem man sich selbst intellektuell und in seiner Persönlichkeit entwickeln kann, radikal anpassen. Der Clou der Schule ist, dass sie Differenz zum Leben setzt und dass sie die Möglichkeit eröffnet, relativ sanktionsfrei zu erproben, wie man selbst sein kann, welche Möglichkeiten man intellektuell, kognitiv hat, welche Fächer, Themen und Lebensperspektiven man wählen kann. Und dazu braucht es Zeit und Ruhe. Die Schule muss man nicht jeden Tag neu erfinden, und alle diese ganz schnellen [unverständlich] – die Welt ist anders geworden, also muss die Schule anders werden, die vergessen, dass der Gewinn der Schule gerade darin besteht, dass sie diese Eigenwelt bereithält. Die Themen sind schon in der Schule präsent. Das, was außen passiert, wird ja nicht ignoriert. Aber es wird in die Lernform, in die Arbeitsform, in die Sozialform von Schule übersetzt. Und dann lernt man, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich würde ganz scharf davor warnen, zu glauben, weil die Schule alt ist, sei sie veraltet, sondern sie eine Institution, die ihre eigene Logik hat. Und zum Glück, zum Glück merkt man das dann auch, zum Beispiel, wenn man G8-Fehler gemacht hat, dass man anschließend korrigiert. Dann merken das die Eltern, dann merken das die Schüler, und die Lehrer haben das ja auch gemerkt. Also, ich würde einen – die Schule hat einen anderen Rhythmus der Veränderung und einen anderen Rhythmus des Wandels, und ich würde sagen, Gott sei Dank!
Die Schule braucht "ihre eigene Zeit"
Scholl: Robert Musil hat in seinem tollen Roman "Mann ohne Eigenschaften" schon für das Jahr 1913 geschrieben: "Die Zeit ist ein Rennpferd." 100 Jahre später muss man sagen, die Zeit ist, ich weiß nicht, ein Turbolader geworden, und insofern, paradoxerweise, ist ja die Zeit selber schneller geworden. Also, man könnte ja auch sagen, das Turbo-Abitur hat unserer Turbo-Gesellschaft eigentlich ganz gut entsprochen. Alles wird immer schneller, die Kommunikation, die Arbeitsabläufe, die Informationsflüsse. Wie soll sich denn Ihrer Meinung nach in dieser Entwicklung überhaupt doch dieses Modell von ruhiger, entschleunigter Bildung, wie Sie es jetzt so schön entworfen haben, weiter entfalten können?
Tenorth: Indem man erstens anerkennt, indem man wirklich anerkennt, dass die Schule ihre eigene Zeit braucht, dass Bildung eine Gelassenheit und Ruhe - Entschleunigung ist ein zu großes Wort geworden. Mir wäre Gelassenheit und Ruhe und Gewinn von Eigenzeit ganz wichtig, dass man die ihr zugesteht, denn auch die Ergebnisse sind nach einer entspannten Zeit dreimal besser, als wenn ich das Zeitmuster von außen übertrage. Und wenn wir in die Gesellschaft schauen, es gibt doch niemanden, der etwa in aller Ruhe die Beschleunigung als einen Gewinn feiert, sondern die ganze Rede über Beschleunigung, die man lesen kann hier und überall, ist doch eine Klage darüber, dass uns wesentliche Elemente des Umgangs mit Welt und mit Mitmenschen fehlen.
Und von daher – die Schule soll Spielraum und Ernstfall zugleich bleiben, und diese beiden paradoxen Elemente miteinander verknüpfen. Und ich denke, indem man zurückkehrt zu G9 und damit auch die Erfahrungen der unmittelbar Beteiligten auch anerkennt, der Eltern, der Lehrer, der Schüler, gewinnt man etwas davon zurück, was Schule sein kann. Denn man muss gelegentlich Schule an den privilegierten Anstalten in ihrer Qualität messen. Und wenn Sie privilegierte, alte Schultraditionen haben, klassische Gymnasien in Städten wie das Johanneum in Hamburg oder Boarding Schools in den USA – der Gewinn, den die hatten, war Zeit, Ruhe und ein eigener, für Lernprozesse gesetzter Filter der Eigenentwicklung der Individuen. Und wenn man den wegnimmt, wenn man die Privilegien niemandem mehr gibt, die wenige hatten, dann macht man einen ganz grandiosen Fehler.
Man muss umgekehrt verfahren: das, was Schule sein kann, allen eröffnen. Und das Erste, was man dazu anerkennen muss, ist Eigenzeit gewähren, Eigenzeit nicht nur dulden, sondern aktiv fördern und sehen, dass der Tag und das Jahr Lernzeiten und Bildungszeiten sein können.
Scholl: Wie viel Zeit braucht Bildung? Wir haben die Meinung von Heinz-Elmar Tenorth gehört, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher in Berlin. Herr Tenorth, besten Dank für das Gespräch!
Tenorth: Vielen Dank, Herr Scholl. Auf Wiederhören!
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