Wenn das Urteil vor laufender Kamera fällt
Erstmals wird eine Urteilsverkündung live im TV ausgestrahlt: Die Entscheidungen hoher Bundesgerichte sollen so sichtbarer gemacht werden. Doch dabei gibt es auch Gefahren, warnt der Filmregisseur und Jurist Hark Bohm.
Heute, am 12. Juli 2018, wird erstmals eine Urteilsverkündung aus dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe live im Fernsehen übertragen. Möglich wird dies durch ein neues Gesetz, das die Entscheidungen von höchsten Bundesgerichten sichtbarer machen soll. Seit einem Gesetzesbeschluss aus dem Jahr 1964 war dies nicht mehr möglich. Künftig können Gerichtsverfahren von zeitgeschichtlicher Bedeutung sogar vollständig aufgezeichnet werden. Filmregisseur Hark Bohm hat dabei allerdings gemischte Gefühle.
"Ich denke, das ist ein wirklich wahnsinnig komplexes Problem", sagt im Bohm Deutschlandfunk Kultur. Zunächst müsse man unterscheiden zwischen Tonmitschnitten und Kameraaufnahmen. Geräte zur Aufzeichnung des Tons würden von den Anwesenden kaum wahrgenommen und "verändern nach meiner Auffassung die Situation nur geringfügig und erlauben neben dem Zeitgeschichtlichen auch eine öffentliche Nachprüfung dessen, was da geschehen ist."
Gehemmte Zeugen, manipulierte Wirklichkeit
Kameras hingegen seien aus wahrnehmungspsychologischer Sichte etwas völlig anderes und bedeuteten in gleich doppelter Hinsicht eine Gefahr: "Der Zeuge ist tatsächlich - und wahrscheinlich alle anderen Beteiligten - gehemmt, wenn er die Kamera sieht, weil die Kamera hat so etwas endgültiges. Und die Kamera bedeutet ja gleichzeitig, dass mich jetzt ein Millionenpublikum sieht."
Hinzu komme die Gefahr der Manipulation. Als Beispiel nannte der Regisseur der Prozess gegen die Attentäter des 20. Juli: "Wie dort der Prozess und die Angeklagten manipuliert wurden, das war schrecklich." Bohm fasst zusammen: "Wir schätzen uns als öffentliches Bild völlig anders ein, als wenn unsere Stimme irgendwo festgehalten wird. Und das ist nach meiner Auffassung das ganz große Problem."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist eine Premiere, die wir heute erleben werden, wenn um 10:55 Uhr auf Phoenix eine Urteilsverkündung aus dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe live ausgestrahlt wird. Möglich ist das durch ein neues Gesetz, mit dem die Entscheidungen von höchsten Bundesgerichten sichtbar gemacht werden sollen. Und diese Möglichkeit, die gibt es nun auch per Gesetz, auch für zeithistorisch bedeutsame Prozesse, wie der gestern zu Ende gegangen NSU-Prozess ganz sicher einer gewesen ist, wo das aber noch unterblieben ist.
Fernsehen im Gerichtssaal, wie verändert das die Arbeit von Richtern, von Anwälten, und welche filmischen Herausforderungen gibt es? Und wäre vielleicht der NSU-Prozess auch anders gelaufen, wenn dort das Fernsehen zugelassen gewesen wäre? Das frage ich jetzt Hark Bohm. Er ist studierter Jurist, Filmregisseur, emeritierter Professor für Film am Institut für Theater, Musiktheater und Film der Uni Hamburg. Und Sie kennen Ihn als Autor und Regisseur des Fernsehzweiteilers "Vera Brühne" über einen Mordfall aus den 60er-Jahren. Und er hat zusammen mit Fatih Akin den Film "Aus dem Nichts" gemacht. Herr Bohm, schönen guten Morgen!
Hark Bohm: Guten Morgen!
von Billerbeck: Sie haben ja in dem Fall "Vera Brühne" fürs Fernsehen inszeniert. Das ist ja auch ein Fall, wo es um Morde ging und Gerichtsverhandlungen. Woher hatten Sie denn Ihr Material für die Gerichtsszenen?
Bohm: Ich hatte das große Glück, dass dieses Gesetz, das die Anwesenheit von Kameras und Tonband während des Prozesses [untersagte, erg. durch Dlf Kultur], erst 1964 beschlossen wurde. Der Vera-Brühne-Prozess fand davor statt, sodass der ganze Prozess, wahrscheinlich auch wegen seiner Bedeutung, auf Tonband aufgenommen wurde und genauso schon vorher die Vernehmung von Vera Brühne. Ich hatte also ein immenses Material, vor allen Dingen, weil die Tonbandaufnahmen auch alle dann transferiert worden sind in geschriebene Akten. Das war ein großes Glück für mich.
von Billerbeck: Wenn wir heute Bilder aus Gerichtssälen sehen – das hat man gestern auch wieder gesehen bei der Urteilsverkündung, dann belaufen die sich bisher im Wesentlichen auf den Aufmarsch der Beteiligten, dann sind die Angeklagten meist hinter Sonnenbrillen, Kapuzen oder Aktendeckeln versteckt. Was bedeutet das nun, wenn das Fernsehen Urteilsverkündungen in Zukunft mit Zustimmung der jeweiligen Kammer übertragen darf?
Anspannung, wenn Kamera im Raum ist
Bohm: Ich denke, das ist ein wirklich wahnsinnig komplexes Problem. Zunächst mal, die Erlaubnis, mittels eines Tonaufnahmegeräts mitschneiden zu dürfen, ist was ganz anderes als Kamera, weil dieses Tonbandgerät ist irgendwo versteckt, der Zuschauer, also der Gerichtszuschauer, der Zeuge, also alle Beteiligten nehmen es gar nicht wahr. Die große Gefahr bei Kameras ist ja mehrfach. Einmal, das wurde auch bei der Erörterung des Gesetzes mehrfach laut, der Zeuge ist tatsächlich, und wahrscheinlich alle anderen Beteiligten, gehemmt, wenn er die Kamera sieht, weil die Kamera hat so was Endgültiges, und die Kamera bedeutet ja gleichzeitig, dass ein Millionenpublikum mich jetzt sieht.
Ich bin ja auch Kleindarsteller bei Fassbinder und jetzt gerade bei Fatih Akin. Ich merke ja, wenn ich meinen Text gelernt habe, und die Kamera läuft, da merke ich schon, bevor der Regisseur "Bitte" sagt, wie durch meinen Körper eine Anspannung geht, weil ich Angst habe, dass ich jetzt den Text nicht kann, dass ich in diesem Moment lächerlich aussehe und so weiter. Ich glaube, das ist wirklich ein Gesichtspunkt, der völlig anders zu bewerten ist, als wenn da jemand sitzt und mitstenografiert oder irgendwo ein Tonband mitläuft.
von Billerbeck: Wie aber bildet man dann so ein Verfahren ab, das einerseits die Würde der Angeklagten und des Gerichts gewahrt wird, auch der Zeugen, und das andererseits aber auch nicht sterbenslangweilig wird?
Bohm: Das ist die zentrale Frage. Dahinter steckt ja folgender Gedanke: Gerichtsverhandlungen sind öffentlich, weil die Öffentlichkeit eine Kontrolle des Gerichts sind. Das Gericht ist ja unabhängig, aber seit den frühen Demokratien in Rom und in Athen, wenn ich da schnell ausholen darf, sind Prozesse öffentlich, weil sozusagen die Gemeinde, die demokratische Versammlung kontrolliert, ob sich die Gerichte auch an die vorgegebenen Gesetze und Verfahrensvorschriften halten. Die visuelle Übertragung des Prozesses an ein unendliches Publikum, vor dem ich dann möglicherweise lächerlich erscheine, ist etwas völlig anderes in der psychologischen Wahrnehmung.
Und das Zweite, Sie haben das schon genannt: Die Persönlichkeitsrechtsverletzungen und die Hemmung derjenigen, die dort sprechen. Ein Zweites ist, dass die Arbeit mit der Kamera im Gerichtssaal, abgesehen davon, dass die Kameraleute da nicht rumlaufen können, weil das natürlich permanent ablenkt und stört, ist die Gefahr der Manipulation. Eines der schrecklichsten Beispiele dafür war für mich immer der Prozess gegen die Attentäter des 20. Juli 1944 vor Freisler in – ich glaube, der Prozess fand in Dresden statt. Wie dort der ganze Prozess und die Angeklagten manipuliert wurden, das war schrecklich. Und diese Gefahr besteht natürlich, wenn auch nicht im Rahmen einer faschistischen Diktatur, aber diese Gefahr der Manipulation, der Dramatisierung unter wahrnehmungspsychologischen Gesichtspunkten besteht natürlich immer weiter.#
Unterschied zwischen Tonmitschnitt und Bildaufnahmen
von Billerbeck: Nun haben ja die Journalisten – wir haben vorhin Annette Ramelsberger gehört, die ich hier auch lange im Interview hatte –, die haben ja kritisiert, dass es keine Aufzeichnung oder Mitstenografierung dieses NSU-Prozesses gegeben hat und sie quasi diese Aufnahme übernehmen mussten, um der zeithistorischen Forschung überhaupt zu sagen, was da alles passiert ist. Das weiß ja niemand, der da nicht mit drin gesessen hat. Hätte denn dieses Verfahren, wäre das ein anderes Verfahren gewesen, wenn da Kameras drin gewesen wären, wenn man also gesehen hätte, wie sich Zeugen benehmen oder was das Gericht tut?
Bohm: Frau von Billerbeck, Sie haben gerade zwei Sachen verwechselt. Ich sagte vorhin schon, der Stenograf oder ein irgendwo im Verborgenen laufendes Tonbandgerät verändern nach meiner Auffassung die Situation vor Gericht nur geringfügig und erlauben, neben dem zeitgeschichtlichen auch eben eine öffentliche Nachprüfung dessen, was da geschehen ist. Aber wahrnehmungspsychologisch und für die psychische Situation der Beteiligten ist das was völlig anderes, als wenn die Kamera da ist. Wir schätzen uns als öffentliches Bild völlig anders ein, als wenn unsere Stimme irgendwo festgehalten wird. Das ist nach meiner Auffassung das ganz große Problem.
Die Gesetzgebung und der Beschluss des Bundesverfassungsgericht erlaubt ja jetzt eine Kamera, und das finde ich sehr vernünftig, die Kamera hat an einem Ort zu stehen, auf einem Stativ. Es darf neben der Kamera nur ein Mensch stehen, und die Kamera darf nicht bewegt werden. Und das jeweilige Gericht hat auch sozusagen mit letztinstanzlicher Kompetenz überhaupt zu entscheiden, ob wir eine Kamera dabeihaben wollen. Ich als Regisseur, als jemand, der mit Bildern Publikum manipulieren will - in Anführungsstrichen - , halte es für grundsätzlich problematisch, wenn die Kamera sich im Gerichtssaal bewegen darf, weil sie ihre Anwesenheit ständig ins Bewusstsein hebt. Das ist für mich was anderes.
von Billerbeck: Hark Bohm war das, Drehbuchautor und studierter Jurist, über die Veränderungen, die Kameras im Gerichtssaal bewirken könnten. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Bohm: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.