Twitch in der Coronakrise

Die Zuhause-Plattform für Musiker

06:12 Minuten
Mehrere Videochatfenster, in dem mehrere Protagonisten miteinander sprechen.
Tutorial per Twitch: Hier der Rapper Yassin (links unten im Bild) beim Plausch mit den Fans in Schrift und Bild. © Twitch/YassinDope
Von Hagen Terschüren · 15.08.2020
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Liveshows sind für Musiker eine zentrale Einkommensquelle. Was tun, wenn diese coronabedingt wegbricht? Vor allem die Online-Plattform Twitch hat sich hier zu einem anarchischen Refugium gemausert. Musiker gehen hier mit ihren Fans auf Tuchfühlung.
Viele Musiker sind große Teile des Jahres auf Tour, im Studio oder in der Promophase – etwas, das in Zeiten von Corona eher schwierig ist. Das heißt, dass sie einen Haufen Zeit haben, die ja irgendwie gefüllt werden muss. Der deutsche Rapper Yassin ist auf der Suche nach einer Community auf Twitch gestoßen, nachdem er Streams des us-amerikanischen Hip-Hop-Produzenten Kenny Beats gesehen hat:
"Im Zuge dessen habe ich mich dann mehr mit der Plattform auseinandergesetzt und habe mich da sehr an meine Jugend erinnert gefühlt, als ich viel in Foren unterwegs war und mich dort musikalisch austauschte, weil ich in meiner Schule oder in meinem Freundeskreis tatsächlich kaum Leute hatte, die Rap-Musik gemacht oder produziert haben. Ich bin da so mit 14, 15, 16 über Foren in Communitys reingerutscht - und daran erinnert das vom Interaktionsgrad und vom Austausch her sehr. Das hat mich sehr gereizt, das zu machen und selber so eine Community aufzubauen."

Eine wehrhafte Community

Twitch ist eine soziale Plattform wie jede andere auch, auch hier gibt es Hass und Hetze. Trotzdem haben die Musiker es geschafft, gesunde Communitys aufzubauen.
Das sieht nicht nur Yassin so. Die Popsängerin Charli XCX hat kürzlich bewiesen, dass auch Stars in Twitch eine Plattform finden, auf der sie produktiv sein können – indem sie dort ein ganzes Album produziert hat. Etwas, das auch Mike Shinoda von Linkin Park betont. Er ist neuerdings selbst Twitch-Streamer und hat schon sein zweites dort produziertes Album, "Dropped Frames Vol. II", veröffentlicht.
"Bislang ist es wirklich positiv. Ein paar Mal haben Bots den Chat gestürmt, aber wir hatten noch keine Probleme mit Trollen, was sich bestimmt noch ändern wird. Aber die Community ist da auch wehrhaft. Auf Twitch herrscht so eine 'Die Community wird um jeden Preis geschützt'-Mentalität. Wenn also jemand reinkommt und die Stimmung zerstört, wird derjenige sofort rausgeworfen und alle sind glücklich."

Nur Konzerte spielen reicht nicht

Der Grund, aus dem Musiker wie Charli XCX, Mike Shinoda oder Yassin auf Twitch erfolgreich sind, ist, dass sie nicht einfach das Analoge ins Digitale verlegen, sondern sich der Plattform anpassen. Yassin ruft Beat-Challenges aus, in denen seine Community Beats für Songs produziert, die er im Stream bewertet. Oder er gibt Tutorials.
Mike Shinoda hat mittlerweile zwei ganze Alben vor laufender Webcam produziert. Die Musiker sind zu dem geworden, was User auf Plattformen wie Twitch suchen: Leute, die Inhalte explizit für diese Plattform produzieren. Es reicht eben nicht, einfach nur Konzerte zu spielen.
"Einige Bands, die nicht mehr touren konnten, haben dann auf Twitch oder anderen Livestream-Plattformen Konzerte gespielt. Aber das Problem ist, dass das ein oder sogar ein paarmal ganz cool ist, aber du kannst auf dieser Basis keinen Kanal gründen. Wenn ich eine Show ein paarmal gesehen habe, ist das halt nichts neues mehr."

"Es gibt schon so viel Ernsthaftigkeit auf der Welt"

Um auf Twitch gut anzukommen, hat Mike Shinoda sogar seinen ganzen Produktionsstil angepasst. Er hat seine Software von Pro Tools auf Ableton geändert, weil dort der jeweilige Beat konstant läuft und immer Musik zu hören ist. Und obwohl er für seine Texte bekannt ist, hat er sich dazu entschieden, dass es in den Streams nur Instrumentals geben wird.
"Ich habe direkt am Start entschieden, dass ich keine Vocals mache. Mein Schreibprozess ist einfach nicht interessant zu sehen. Gerade bei Vocals sitze ich da für acht Stunden oder vier Tage rum und murmle vor mich hin – niemand will das sehen."
Außerdem hat Shinoda sich von seiner sonst sehr ernsten Musik verabschiedet, um eher leichte Unterhaltung in der Coronazeit zu produzieren.
"Ich habe mir ein Plug-in runtergeladen, das die Stimme von KK Slider, dem Hund aus dem Videospiel 'Animal Crossing', auf mein Keyboard legt. Jede Taste, die ich drücke, lässt ihn singen. Also habe ich einen Song geschrieben, in dem KK Slider singt. Das ganze soll gar nicht gut sein, das ist so ein bisschen der Punkt. Leute haben sich so daran gewöhnt nur krass polierte, ernsthafte Musik zu hören. Ich mache eher so mäandernde Konzepte und Witze. Es gibt es schon so viel Ernsthaftigkeit in der Welt."

Neue Sichtbarkeit für junge Produzenten

Beim deutschen Rapper Yassin sieht die Sache anders aus. Die Beats, die für die Stream-Challenges entstehen, haben eine sehr hohe Chance darauf, in zukünftigen Songs zu landen:
"Auf jeden Fall. Ich habe auf jeden Fall schon neue Produzenten entdeckt. Ich habe auf einem Gewinner-Beat aus dieser Challenge auch schon einen Song gemacht. Ob der jetzt auf einem Album landet, weiß ich nicht. Aber es ist auf jeden Fall so, dass ich dort viele neue Talente dort entdeckt habe. Produzenten-Talente, die wirklich auf einem krassen Level sind, auch schon stilistisch ihre eigene Handschrift und trotzdem teilweise echt noch nie für irgendeinen Interpreten irgendetwas produziert haben."

Die großen Namen verdienen schon Millionen

Wenn von Twitch die Rede ist, hört man auch immer von den Millionendeals, die große Streamer bekommen. Doch für Rapper wie Yassin können die Streams die finanziellen Ausfälle durch coronabedingt abgesagte Konzerte noch nicht ausgleichen.
"Es gibt die Möglichkeit, die Twitch-Streamer zu abonnieren. Dafür bekommen sie Geld und es gibt die Möglichkeit, Donations, also kleine Support-Aufmersamkeiten zu schicken. Das kann ein Euro sein, es können zehn oder hundert sein. Das Geld landet dann schon bei mir. Aber das habe ich tatsächlich genutzt, um Hardware zu finanzieren - also ein ordentliches Licht und ein Rechner, um ordentlich zu streamen. Das ist bisher noch kein großes Plus-Geschäft gewesen. Wie gesagt, in erster Linie geht es mir da um den Spaß und um um den Austausch. Aber natürlich ist es so, dass da Zeit reinfließt, die ich an anderer Stelle investieren würde, um Geld zu verdienen. Dann ist es natürlich schön, wenn das hier auch passiert. Aber das ist nicht der Fokus."

Eine Zukunft nach Corona

Trotzdem kann er sich vorstellen, nach der Krise weiterzustreamen – wenn auch nicht so regelmäßig. Und auch Mike Shinoda glaubt, dass die Streams auf Twitch eine Zukunft nach Corona haben können.
"Ja, ich denke schon, ich weiß es noch nicht genau. Ich weiß ja nicht, wie das Leben nach der Pandemie sein wird, ich habe ja keine Kristallkugel. Aber es macht mir Spaß. Es sind auch Übungen, die meinen Horizont erweitern."
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