Wenn die Kiefer aus ihrem Leben erzählt
Ob Kim Kardashian, der Papst oder Angela Merkel: Fast jeder, ob Privatperson oder Promi, twittert mittlerweile oder informiert sich über den Nachrichtendienst. Jetzt twittern sogar Bäume. Das ist kein Scherz und keine PR-Aktion, sondern ernst gemeinte Wissenschaft.
Das sind ja gute Nachrichten: 0,05 Millimeter gewachsen, 8,8 Liter Wasser aufgenommen, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 0,9 Litern pro Stunde. Über 800 Follower, ich bin einer davon, erfahren das jetzt täglich. Im Tweet.
Morgens twittert die vernetzte Kiefer, die im brandenburgischen Britz wächst, dass sie mit der Wasseraufnahme begonnen hat:
Ein Naturerlebnis der besonderen Art
Grandios. Abgesehen von realen Waldbesuchen war mein Naturerlebnis selten so nah, so intensiv. Ich bewege mich damit in bester Gesellschaft. Bäume sind in. Die Aktion "Baumbegegnung" etwa ist ein Wahrnehmungsspiel aus der Naturpädagogik: Es hat zum Ziel, einen Baum zu "erfahren", mit geschlossenen Augen seine Borke mit den Händen abzutasten, daran zu riechen und seinen Stamm zu umarmen. Oder man denke nur an den unglaublichen Erfolg von Peter Wohllebens Buch "Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren". Und genau das lerne ich jetzt:
Neben der deutschen Kiefer twittern noch sieben Bäume in Belgien, darunter Eichen und Buchen. Das ganze ist quasi eine "Baumbegegnung 2.0", sagt Kathy Steppe von der Universität im belgischen Gent, die das Projekt der twitternden Bäume mit Namen @TreeWatch ins Leben gerufen hat:
"Wenn Menschen einen Baum betrachten, dann sehen die meisten ihn als etwas Unbewegliches an. Aber in seinem Stamm laufen eine ganze Reihe von Prozessen ab. Wir sammeln dazu Daten und lassen Bäume diese Informationen dann über Twitter hinausschicken. Wenn Leute den Bäumen bei Twitter folgen, lernen sie, dass es sich um etwas Lebendiges handelt und dass Bäume wichtig sind, etwa weil sie das Klima regulieren können. Über die Kurznachrichten entwickeln die Menschen vielleicht so etwas wie Zuneigung zu den Bäumen."
Der Laie lernt, die Tweets zu deuten
Tatsächlich bin ich in meinem Leben schon mehreren Bäumen im Wald begegnet. Ich habe auch meine Hände auf die Borke von Kiefern, Eichen und Buchen gelegt – das war noch vor der Twitter-Ära. Jetzt bekommt das ganze eine Qualität.
Kathy Steppe: "Das große Ziel ist es, bestimmte Bäume in unterschiedlichen Ökosystemen in ganz Europa zu überwachen. Im nächsten Schritt dann weltweit. Wir wollen ein Gefühl dafür bekommen, was mit unseren Bäumen, Wäldern und Ökosystemen rund um den Globus geschieht."
Wenn ich und die anderen Follower also irgendwann genügend twitternden Bäumen gefolgt sind, können auch wir Laien an den Tweets ablesen, ob die Bäume unter Stress stehen, oder ob sie unter Trockenheit leiden. Interessant. Auch wenn die Zahl der Tweets und deren Informationsgehalt noch überschaubar ist, so hat mich doch überrascht, wie unterschiedlich die Wasseraufnahme von Tag zu Tag sein kann.
Am 9. Mai setzte ein Ahorn in Belgien folgenden Tweet ab:
Der Ahorn hat also 145 Liter Wasser über seine Wurzeln aufgenommen. Eine ganze Menge. Am 4. Mai war das mit etwa 73 Litern gerade mal die Hälfte.
Warum Bäume sogar schrumpfen
Bäume können schrumpfen – auch das verrät so ein Tweet. Das ist immer dann der Fall, wenn ein Baum weniger Wasser aufnehmen kann, als er eigentlich bräuchte – dann werden Reserven im Stamm angezapft und der Stammdurchmesser wird kleiner.
Den Durchmesser bestimmen Kathy Steppe und ihre Kollegen mit einem sogenannten Dendrometer. Ein anderer Sensor misst die Wasseraufnahme. Die Daten werden fortlaufend über den Tag aufgezeichnet und über eine drahtlose Internetverbindung an einen Server übertragen. Der Computer schickt dann automatisch die standardisierten Tweets ab, die die aktuellen Daten des Tages enthalten. Die Bäume twittern!
Kathy Steppe: "Wir sind die Arbeitsgruppe, die Pflanzen zum Reden bringt! Und dann haben wir uns gesagt, okay, dann machen wir doch eine Sprache daraus, und eine sehr zweckmäßige Kommunikationsplattform dafür ist in der Tat Twitter."
Ein grandiose Idee, die ziemlich gut ankam. Kaum ein Tag, an dem nicht über die Tweets aus dem Wald berichtet wird. Und auch ich muss gestehen, der Blick auf den Baum-Twitteraccount gehört mittlerweile für mich fast täglich dazu. Wissenschaftlich spannend wird das Projekt aber erst, wenn noch viel mehr Bäume in anderen Ländern dazu kommen und ebenfalls twittern. Denn erst dann können sich die Wissenschaftler ein genaueres Bild davon machen, wie einzelne Baumarten an unterschiedlichen Standorten mit dem Klimawandel klar kommen. Und ich als Follower der Buchen, Eichen und Kiefern werde live mitleiden oder, wer weiß, mich mit den Bäumen freuen, wenn sie dem Klimawandel hier und da vielleicht doch standhalten können.
"My sap is stopping to flow for today."