U-Haft darf keine vorgezogene Strafe sein

Von Peter-Alexis Albrecht |
Was nützt schnelles Einsperren, wenn dadurch irreversible Langzeitschäden auftreten? Strenge Meldeauflagen sichern ebenfalls die Anwesenheit des Tatverdächtigen. Die öffentliche Erregung über die Tat muss jedenfalls außer Betracht bleiben.
Ein 17-Jähriger Arbeitsloser aus Kenia beraubt in der Berliner U-Bahn einen Fahrgast und verletzt diesen schwer. Ein Richter verhängt einen Haftbefehl wegen versuchten Mordes und ordnet Untersuchungshaft an. Kurze Zeit später verletzt ein 18-Jähriger Berliner Oberschüler einen Fahrgast durch brutale Fußtritte. Ein Richter erlässt Haftbefehl wegen versuchten Totschlags, setzt aber die Vollstreckung gegen scharfe Meldeauflagen aus. Die mediale Öffentlichkeit kocht nahezu über. "Wegsperren für immer" – das ist die politisch bewährte Parole, derer man sich gern erinnert. Das waren noch ganze Kerle!

Doch halt. Warum die Erregung an die Adresse der Justiz? Gewalt ist ein um sich greifendes gesellschaftliches Phänomen: zwischen Staaten, in den elektronischen Medien – Tag und Nacht. Wen wundert die Nachahmung durch Jugendliche und Heranwachsende, die zumeist sozial chancenlos sind? Aber das ist eine ganz andere gesellschaftliche Baustelle.

Eines lässt sich anhand der Ausgangsfälle jedenfalls nicht vertreten, nämlich Richterschelte. Der Richter, der im zweiten Fall den Haftbefehl außer Vollzug setzte, hat sich exakt im Rahmen der rechtsstaatlichen Strafprozessordnung bewegt. Untersuchungshaft hat im Rechtsstaat nicht die Funktion von Strafhaft. Letztere kann erst im Hauptverfahren verhängt werden. Dem Vernehmen nach soll es bald stattfinden.

Dort gibt es die Antwort auf schweres Unrecht. Ein Haftbefehl hat allein die gesetzliche Funktion zu erfüllen, die Anwesenheit eines Beschuldigten zu sichern. Schuldausgleich für begangenes Unrecht ist in keinem Fall Sache der Untersuchungshaft. Erst Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr oder Wiederholungsgefahr führen in die Untersuchungshaft, auch besonders gravierende Taten – wie Totschlag oder Mord. Letzteres allerdings nur wenn es verhältnismäßig ist – ein rechtsstaatliches Gebot, vor allem im Jugendstrafrecht.

Dieses hat stets im Interesse der Gesellschaft die Zukunft im Blick zu haben. Was nützt schnelles Einsperren, wenn gerade dadurch irreversible Langzeitschäden auftreten und schwererer Schaden für spätere Opfer droht? Danach ist ein milderes, gleich wirksames Sicherungsmittel vorzuziehen, also zum Beispiel strenge Meldeauflagen bei der Polizei. Die öffentliche Erregung über die Tat muss jedenfalls außer Betracht bleiben. Darin sind sich die Kommentatoren der Strafprozessordnung einig.

Vieles ist zu beachten bei der Entscheidung über die Untersuchungshaft und Ungleichbehandlungen sind denkbar: Ein Jugendlicher aus gutbürgerlicher Familie wird von der Haft verschont, während ein jugendlicher Migrant in der Untersuchungshaft verbleibt. Was bei scheinbar ähnlichem Sachverhalt als grobe Ungerechtigkeit in der Bevölkerung aufgefasst wird, kann bei näherer Betrachtung der Umstände sachlich gerechtfertigt, sogar geboten sein. Maßgeblich kann sein, ob sich einer freiwillig stellt oder erst nach polizeilicher Ermittlung aufgegriffen wird, ob das Opfer im Koma verbleibt oder sich relativ zeitnah von den gesundheitlichen Schäden erholt oder ob die Flucht ins Ausland droht.

Entscheidend ist, dass ein unabhängiger Richter die Voraussetzungen der Untersuchungshaft prüfen muss. Nur dieser kann im gewaltengeteilten Rechtsstaat Garant für den rechtsstaatlichen Umgang mit dem Täter sein. Die richterliche Unabhängigkeit und Neutralität ermöglichen es, die Entscheidung allein anhand objektiver, sachlicher Gesichtspunkte und nicht anhand eines emotional getragenen öffentlichen Meinungsbildes zu fällen. Nur Richterinnen und Richter haben Einblicke in die Umstände des Falles, die der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben.

Der unabhängige Richter sichert dabei nicht nur die Freiheitsrechte des Täters, vor allem ist er Kontrollinstanz gegenüber einer von Wahlinteressen abhängigen Exekutive. Dadurch wird im Rechtsstaat verhindert, dass die Untersuchungshaft als vorweggenommene Freiheitsstrafe missbraucht wird und dass sie politischer Einflussnahme unterliegt. Warum sind wir historisch nur so unsäglich vergesslich?

Peter-Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Forschungsgebiet ist das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie den Methoden empirischer Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems. Er hat unter anderem "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf dem Weg zu staatskritischen Absolutheitsregeln" (2010) veröffentlicht. Peter-Alexis Albrecht ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
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