Weckrufe vom Dach
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Am Schwedter Theater gibt es seit Monaten keine Vorstellungen. Für die Theatermacher ist das ein tiefer Einschnitt. Doch Intendant André Nicke gibt nicht klein bei. Jeden Tag steigt er aufs Dach.
"Guuuten Tag! Mooorgen Schwedt!"
"Es gibt nichts Gutes, außer man tut es." Das Motto ist von Erich Kästner. Es passt gut zu André Nicke, dem Intendanten der Uckermärkischen Bühnen Schwedt in den Tiefen Brandenburgs.
"Ein Gedicht für Schwedt. Rainer Maria Rilke. Ich fürchte mich. So vor der Menschen Wort!"
Ein Typ, der aufs Theaterdach steigt, um Gedichte zu rezitieren: Rilke, Bettina von Arnim, Kafka, immer werktags um Punkt zehn vor zehn, wie ein einsamer Rufer in der Wüste.
Anfangs dachten sie in Schwedt, der 30.000-Einwohner-Industriestadt an der polnischen Grenze, der hat sie nicht mehr alle. Bis ihnen schwante: Irrtum, er meint das ernst.
Mann mit Sendungsbewusstsein auf dem Dach
Der graumelierte Mann mit dem Sendungsbewusstsein nickt. Ziemlich ernst meint er es sogar. Ist nämlich so, sprudelt es aus ihm heraus: Die Kirchen? Hätten ihre Glocken. Moscheen? Den Muezzin! Und Theater?
"Wir haben unsere Stimme und wir haben ein Theaterdach", sagt Nicke. "Mir ging es um das Aushalten, um eine eigene Resilienz zu erzeugen, physisch und psychisch: Sich widerständig in dieser Zeit machen, als stellte man sich jeden Morgen unter kaltes Wasser; damit man diese Zeit erträgt. Aus meiner Sicht mit den Mitteln der Kunst diese Widerständigkeit zu erzeugen: Darum geht’s mir."
"Ihr bringt alle die Dinge um. Danke schön", ertönt es vom Dach.
Gut ein Dutzend Leute hat sich unten auf dem Theatervorplatz versammelt, darunter auch Nickes treueste Fans: zwei Pärchen, die seit Beginn der Aktion Mitte Januar seinen Gedichten lauschen.
Moralische Unterstützung – Widerständler Nicke kann sie gut gebrauchen. "Wenn ich sehe, dass wir einen hochsubventionierten Stillstand produzieren, aufgrund von Fantasielosigkeit, dann schwillt mir der Kamm. Über Möglichkeiten nachdenken, ja, das ist Mehrarbeit. Wir alle sind wahnsinnig erschöpft, denn wir planen vor, wir planen um, wir planen wieder zurück, wir planen wieder neu. Also, das sind so Gedanken eines Intendanten, wenn er die Welt nicht mehr versteht."
Lichtblicke in Corona-Zeiten
Ziemlich was mitgemacht hat der 54-Jährige in der Tat. Corona-bedingt. Gleich drei Produktionen liegen auf Eis. Die Premiere des Musicals "Linie Eins" als Brandenburger Pilotprojekt wurde kurzfristig abgeblasen.
Zurück im Büro lässt sich Nicke auf seinen Sessel fallen. Ein Lächeln huscht über seine Lippen: Eine seiner Regieassistentinnen hat ihm einen Strauß Blumen geschenkt. Ein Lichtblick.
Der Mann, der im Nebenjob für den Rundfunk Berlin-Brandenburg Kabarett macht, als Friedrich der Zweite, zeigt aus dem Fenster neben seinem knallbunten DDR-Wandteppich: Da, links um die Ecke, versteckt sich ein weiterer Lichtblick: ihre Open-Air-Bühne. Wenn sie schon nicht im großen Saal mit seinen 800 Plätzen spielen dürfen, dann hoffentlich bald draußen, wie letzten Sommer.
Und wenn nicht? Das Alter Ego vom Alten Fritz stöhnt. Na was schon? Wird er weiter aufs Dach steigen, die Flüstertüte in der einen Hand, das Gedicht in der anderen.
Erniedrigte und Enttäuschte
"Viele von uns empfinden das mittlerweile als sozialen Erniedrigungsprozess", sagt Nicke. "Wir meinen nicht, dass wir das Wichtigste in der Gesellschaft sind, gerade in dieser Zeit. Aber gegenüber vielen Sonntagsreden, die man davor gehört hat in Bezug auf unsere Zivilisation und den Stellenwert von Kunst und Kultur, findet sich das im gegenwärtigen Handeln von Politik nur sehr eingeschränkt wieder."
"Dass es eine Priorität der Wirtschaft gibt, damit kann ich schwer leben", ergänzt Chefdramaturgin Sandra Zabelt. "Die Leute müssen die Chance haben, wieder miteinander zu reden. Das beobachte ich allerorten, das Nicht-miteinander-reden-können. Das ist, was der ganzen Gesellschaft nicht guttut."
Bald schon 20 Jahre gehört die Frau mit den roten Locken zum Ensemble. Und ja, meint sie, sie habe in der Zeit einiges erlebt: Erfolge, Flops, gekürzte Subventionen: Doch so anstrengend wie in den letzten 13 Monaten sei es noch nie gewesen.
Offene Fragen überall
Seit November, dem Beginn des Lockdowns, harrt Zabelt der Dinge, die da kommen. Er hofft darauf, dass das Publikum wieder rein darf in die heiligen Hallen. Vergeblich.
"Wir haben ab 1. März geplant. Wir haben ab 1. April geplant. Wir planen auch für den 1. Mai. Die größte Krux ist, dass wir – selbst wenn wir jetzt ein Öffnungsdatum bekommen würden - immer noch nicht wissen, unter welchen Bedingungen wir wieder öffnen dürfen. Wie viel Leute dürfen wir überhaupt reinlassen? Müssen sie getestet sein? Müssen sie eine Maske tragen? Müssen sie anderthalb Meter Abstand auf den Sitzplätzen einhalten? Mit Masken nur ein Meter? Das alles wissen wir nicht. Das macht es natürlich sehr schwer", stöhnt die Theaterfrau, nur um dann hinzuzufügen, sie sei eigentlich Zweckoptimistin.
Ist auch nicht so, dass sie den Kopf in den Sand gesteckt hätte. Zusammen mit der Schauspieldirektorin hat sie "bei Anruf ubs" ins Leben gerufen. Eine Telefonaktion, bei der man sich von Schauspielern und Schauspielerinnen des Hauses etwas vorlesen lassen kann. Und es gibt Live-Streams, zuletzt am 27. März, dem Welt-Theater-Tag, von ihrer Produktion "Name Sophie Scholl".
Zabelt macht und tut. Feilt am aktuellen pandemiegeschädigten Spielplan.
Pandemie-Spielplan
"Wir wollen nicht explizit und ganz konkret auf die Situation eingehen, indem wir jetzt zum Beispiel die Corona-Tagebücher auf den Spielplan setzen", betont sie. "Aber wir merken in der konkreten Arbeit, dass viele Stücke, bei denen man es vorher vielleicht nicht vermutet hat, schon auf die eine oder andere Weise auf diese Situation eingehen. Selbst bei 'Linie Eins'."
Sie habe in der Vorwoche eine erste Probe gesehen und hätte das nicht erwartet, sagt Zabelt. Aber: "Auch da gibt es die zentrale Szene, wo lauter vereinzelte Leute, die in der U-Bahn eigentlich nicht miteinander reden, plötzlich in eine Situation geworfen werden, wo sie miteinander reden müssen und merken: Wenn wir zusammenhalten, dann haben wir eine unglaubliche Stärke und Kraft."
"Also, was ist der Auftrag, den wir heute haben? Erstmal uns wieder in die Augen zu schauen. Was sehr schön ist. Und irgendwie zu arbeiten."
Irgendwie arbeiten, inmitten des Corona-Chaos: Das trifft die Stimmung von Regisseur und Schauspieler Daniel Heinz ganz gut.
"Babette? Du fährst die Musik? Ja. Okay. Alles klar."
"Jetzt tasten wir uns langsam in zwei Proben ran. Das heißt, dass das Stück lange schlummerte. Wir wissen alle warum. Der Plan ist, dass es wieder gespielt wird. Deshalb müssen wir uns alle erinnern."
Dezember ohne Vorstellungen in Schwedt
Es geht um "Robinson Crusoe", das Musical. Drei Wochen ist es her, dass der Freiberufler aus Bremen den erlösenden Anruf beka, ob er Zeit für Proben hätte. Hatte er.
"Alleine im Dezember hätte ich 60 Vorstellungen gespielt. Die sind alle abgesagt worden: November, Dezember. Das ist ein großer Verlust. Bei mir war es dann privat noch was anderes. Ich habe noch ein Kind bekommen und bin wieder frischgebackener Papa. Ich war nicht traurig oder mir war nicht langweilig. Aber es war heftig", berichtet Heinz. "Ich habe großes Glück. Ich habe tatsächlich November- und Dezember-Hilfe erhalten. Das war auch ziemlich unkompliziert. Innerhalb von zwei Tagen war das da."
Selbst auf der Bühne stand der Anfangvierzigjährige das letzte Mal im Oktober mit seinem Kabarettprogramm flussabwärts in Frankfurt an der Oder. Dann war Schluss.
"Es ist wie ein Sprinter. Der steht vor dem Sprint. Der steht schon im Startblock und weiß nicht genau, knallt es jetzt. Oder knallt es nicht? Das ist zermürbend, so ein bisschen. Ein Schauspieler braucht die Bühne, der braucht die Bewegung, der braucht die Zuschauer, der braucht diese Energie. Wenn uns das fehlt, verblasst das so ein bisschen, was man an dem Beruf so mag, nämlich diese Reibung miteinander. Das fehlt total. Absolut."
Pläne gibt es nicht mehr
Die Reibung, die theatralische, hat auch sie schmerzlich vermisst: "Katarzyna Kunicka. Schauspielerin im Haus. Ich spiele einen Vogel. Jakwauschlau heißt er."
Die gebürtige Polin blättert in ihrem Skript. Ähnlich wie ihr Regisseur konnte sie ihr Glück kaum fassen, als es hieß, wir proben wieder. Endlich. Nach Monaten des Nichtstuns.
"Ich habe schon gelernt, jeden Tag für sich zu nehmen. Also nicht planen, was bei mir ganz normal war", sagt Kunicka. "Theaterpläne waren die normale Sache. Man konnte die nächsten Monate durchschauen. Man muss nur die Einstellung ändern. Dann ist es so: Okay, ich weiß nicht, dann ich heute lebe."
Von einem Tag auf den anderen leben, im Stand-by-Modus: Mit der Zeit hat sich die 28-Jährige daran gewöhnt. An das Kurzarbeitergeld. Davon, meint sie in der Pause, könnten ihre Schauspielkolleginnen und -kollegen in Polen nur träumen. Die Situation in ihrer alten Heimat bereitet ihr Sorgen: die explodierenden Infektionszahlen, die überfüllten Intensivstationen in den Krankenhäusern.
Ihr Verlobter und ihre Eltern leben jenseits der Oder. Sie sieht sie nur noch selten. "Das ist eine schwierige Zeit für die Familie. Aber wir ziehen durch. Die Leute während des Krieges hatten es schwieriger."
Kunicka springt auf. Sie will zurück zu den anderen auf die Bühne. Dort erklingt eine Männerstimme: "Ho-Ho-Ho. Ich lebe. Ich leeeeebe!"