Zwischen VW und Notstand
Das VW-Werk in Puebla boomt, besonders seit Mexiko Teil des nordamerikanischen Wirtschaftsverbandes wurde. Dennoch ist das Freihandelsabkommen NAFTA aus dem Jahr 1994 kein Segen, denn anderswo sieht es weniger gut aus - vor allem auf dem Land.
Nicht nur in Deutschland, auch in Mexiko ist er das Symbol für Fortschritt und Entwicklung: der Käfer. Und noch fahren sie, als Familienwagen, Lastenesel und außerhalb der Hauptstadt als Taxi. Wenn der deutsche Automobilbauer seine Ikone auch in Mexiko längst aufs Altenteil geschickt hat, das VW-Werk in der zentralmexikanischen Stadt Puebla boomt, besonders seit Mexiko Teil des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA ist.
Die riesigen Fabrikhallen sind blitzsauber, in einigen Bereichen, im Press- und Schweißwerk zum Beispiel sind fast nur Roboter am Werk, an anderen Stationen machen Arbeiter das, was Roboter (noch) nicht können: Motoren einhängen, verkabeln, Scheiben einsetzen, eben die unzähligen Einzelteile zusammenfügen.
Der Automobilhersteller ist schon seit 50 Jahren in Mexiko, aber vor allem seit Mexikos wirtschaftlicher Öffnung in den 90er-Jahren brummt das Werk so richtig. Mittlerweile laufen hier in Puebla eine halbe Million Autos vom Typ Jetta, Beetle oder Golf jährlich von den Bändern. Für Manager Thorsten Karig ist die Freihandelspolitik, die Mexiko mit der Ratifizierung des NAFTA-Abkommens mit den USA und Kanada vor 20 Jahren eingeläutet hat, ein entscheidendes Element für die Zukunftsfähigkeit des Landes:
"NAFTA war natürlich ganz wichtig, erstmal durch die geografische Nähe zwischen Mexiko und den USA. Mexiko und die USA hatten immer schon besondere wirtschaftliche Beziehungen. Nordamerika oder gerade die USA ist für Mexiko, nicht nur für die Automobilindustrie, nach wie vor der größte Markt. Die amerikanischen Unternehmen sind die größten Investoren, das war also damals natürlich ein folgerichtiger Schritt, der natürlich auch politisch wichtig war. Und das ganze Thema Freihandel drückt sich heute als einer der wesentlichen Wettbewerbsvorteile des Standorts Mexikos aus, insbesondere auch für die Automobilindustrie und insbesondere auch für nicht-nordamerikanische Unternehmen wie VW und wir haben ja gehört von BMW kommt und Audi ist schon da, Mercedes hat Pläne und praktisch alle japanischen Hersteller auch."
Vom Freihandel profitieren die 15.000 VW-Beschäftigten
Mittlerweile hat Mexiko Freihandelsverträge mit der EU sowie mit mehreren Ländern Lateinamerikas geschlossen, verhandelt wird unter anderem mit China und Brasilien. Vom Freihandel profitieren die 15.000 Beschäftigten, die auf dem drei Quadratkilometer großen VW-Gelände arbeiten. Halb Puebla scheint der Fabrik zu hängen, denn auch in den Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nähe verdanken viele ihren Arbeitsplatz dem Konzern aus Wolfsburg.
Antonio Florestrejohat viel zu tun. Sitzungen, Werksrundgänge, Telefonate. Vor vielen Jahren hat er hier als einfacher Arbeiter angefangen, mittlerweile ist er Betriebsratschef im Werk. Der 38-Jährige mit dem karierten Flanellhemd weiß um die Wichtigkeit seines Unternehmens für die Region.
"VW ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor in Puebla. Und die guten Löhne hier bedeuten, dass die Menschen über ihr Existenzminimum hinaus Geld verdienen und dieses ausgeben. Das hilft der gesamten Wirtschaft in Puebla. Es hilft dem Einzelhandel, den Straßenverkäufern, der Bauwirtschaft. Somit sorgen die guten Löhne, die hier gezahlt werden dafür, dass Arbeitsplätze in der ganzen Region geschaffen und gesichert werden."
Die guten Löhne seien Ergebnis einer Entwicklung, bei der das Unternehmen und die unabhängige Gewerkschaft hart, aber eben konstruktiv verhandelt hätten, so Florestrejo weiter. Das gelte leider für viele Unternehmen nicht. Die traditionellen Gewerkschaften seien eng mit der Politik verbandelt, viele Gewerkschaftsfunktionäre suchten den eigenen Vorteil, statt für die Belegschaft zu kämpfen. Und viele Unternehmen hätten den Ruf, Gewinn auf dem Rücken der Beschäftigten maximieren zu wollen.
In Süden von Mexiko-Stadt, am Fuße des erloschenen Vulkans Ajusco, forscht und lehrt die in Kolumbien geborene Ökonomin Alicia Puyana am lateinamerikanischen, sozialwissenschaftlichen Institut FLACSO. Die 65-Jährige hat in Oxford und London gelehrt, und sie hat nicht nur die Auswirkungen des nun 21 Jahre alten NAFTA-Freihandelsabkommen untersucht. Ihr Fachgebiet ist die Liberalisierungspolitik allgemein, der sich vor allem Mexiko seit den Währungs-, Wirtschafts- und Finanzkrisen der 80er- und 90er-Jahre verpflichtet hat. Zahllose ihrer Studien beschäftigen sich mit der Land- und Energiewirtschaft sowie mit der Automobil- oder Textilindustrie.
"Dass VW den Freihandel positiv bewertet, überrascht mich nicht. Aus der Sicht Mexikos gibt es durch NAFTA aber auch Verlierer, wie es bei jeder wirtschaftlichen Neujustierung der Fall ist. Nach Studien der Weltbank hat zum Beispiel die Landwirtschaft 20 Prozent ihres Umsatzes verloren. Die Montagewerke, die vor allem Halbfertigware für den Export fertig produzieren, haben gewonnen. Aber diese Maquilas tragen nur sehr wenig zur Wert-schöpfung im Land bei und schaffen auch nur wenige Arbeitsplätze. Insgesamt hat NAFTA Mexiko nicht das nötige Wirtschaftswachstum gebracht, um die vielen Tausend Menschen zu beschäftigen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt strömen. Wenn wir all diesen Men-schen formelle Arbeit geben wollten, müsste die Wirtschaft jährlich um sieben Prozent wachsen. Sie wächst aber nur um zwei Prozent."
Andere lateinamerikanische Volkswirtschaften wie Brasilien, Chile oder Peru sind in den letzten 20 Jahren deutlich schneller gewachsen. In Mexiko lebt fast die Hälfte der Einwohner nach wie vor in Armut. Über 100.000 Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Die traditionelle kleinbäuerliche Landwirtschaft ist unter die Räder der übermächtigen Lebensmittelkonzerne geraten. Eine halbe Million Bauern sollen ihre Existenz verloren haben. Die Krise auf dem Land zeigt sich auch im Bundesstaat Mexiko, dort wo Mexikos Präsident, Enrique Pena Nieto, sechs Jahre lang Gouverneur war.
Joctitlán ist eine Nahuatl-Gemeinde im Norden. In der kleinen Dorfschule lärmen Kinder, Hühner laufen zwischen den Häusern herum, von den naheliegenden Bergen kommt Nebel herunter. Nur gut 60 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt, scheint ein Ausflug in die Dörfer der Nachfahren der Azteken wie eine Reise in vergangene Zeiten. Auf kleinen Schollen wachsen Mais, Bohnen, Tomaten und Kürbis, Die vom Regen in Jahren ausgewaschenen Wege zu den Gehöften auf den Hügeln sind kaum passierbar, die mit Pomp vor Jahren eröffnete Dorfklinik hat weder Personal noch Medikamente.
"Es gibt immer noch kein Strom und alles wird teurer"
Der winzige Hof von Bauer Apolinaris hat nicht einmal Strom. In dem einfachen, aus Brettern und Wellblech zusammengezimmerten Haus lebt er mit seiner Frau Judit und drei kleinen Töchtern in einem vielleicht 20 Quadratmeter großen, dunklen Raum mit Erdboden, durch die Holzwände pfeift der kalte Wind, vor dem Haus eine überdachte Feuerstelle, ein Klo gibt es nicht. Das Gesicht des 30-Jährigen ist Ausdruck eines harten, entbehrungsreichen Lebens. Wenn der Freihandel Wohlstand gebracht haben sollte, hier ist er nicht angekommen.
"Die Provinz zählt nicht, höchstens vor Wahlen. Wir einfache Bauen bekommen nichts. Programme gibt es nur für die Unternehmen. Was sollen wir machen, stehlen? Anstatt das es besser wird, wird es seit vielen Jahren immer schlimmer. Es gibt immer noch kein Strom und alles wird teurer, Benzin wie Tortillas. Solange die Straßen nicht ausgebessert werden, können wir unsere Ernte nicht verkaufen. Es wäre gut, wenn sie wenigstens die Straßen machen würden und das Krankenhaus funktionieren würde."
Unten in Joctitlán treffen sich Bäuerinnen und Bauern regelmäßig, um sich auszutauschen. Sie diskutieren, welches Gemüse vielleicht ein bisschen Geld auf dem Markt bringen könnte, seit Mais und Bohnen aus Mexiko wegen der übermächtigen, subventionierten und gentechnisch modifizierten Konkurrenz aus den USA immer weniger verkäuflich sind. Ein gemeinsames Gebet eröffnet jede Versammlung, nicht nur in schlechten Zeiten wie diesen. Heute ist mit Osvaldo Velazco ein Vertreter eines Kleinbauernverbandes geladen. Der erläutert ökologische Alternativen zu teuren Dünge- oder Pflanzenschutzmitteln und wie mit einfachen Mitteln Speisepilze gezüchtet werden können, die auf dem Markt akzeptable Preise erzielen. Große Hoffnung kann er den Bauern von Joctitlán aber auch nicht machen.
"Die Regierung hat das Land abgeschrieben. Wir wissen ja, wie der Neoliberalismus funktioniert. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft taugt nichts, also wird sie aufgegeben, Programme werden eingestampft oder es werden hohe Ausbildungshürden gesetzt, die die Menschen hier niemals überspringen können. Wir bräuchten aber staatliche Unterstützung, vor allem für die Jugend. Damit die Gemeinde als Ganze weiterkommt. So wandern vor allem die Jungen ab und gehen in die Stadt, weil sie hoffen, dort vorankommen zu können."
Oder gleich in die USA. Obwohl NAFTA den Mexikanern eigentlich bessere Perspektiven daheim eröffnen sollte. Die Migrationszahlen haben sich in den 90er-Jahren auf fast eine halbe Million Menschen pro Jahr fast verdoppelt und bleiben seitdem hoch. Aber nicht das ganze ländliche Mexiko blutet aus: Während in der kleinbäuerliche Wirtschaft eine halbe Millionen Existenzen vernichtet worden sein sollen, geht es den landwirtschaftlichen Großbetrieben prächtig. Sie produzieren Obst und Gemüse für den riesigen US-amerikanischen Markt, profitieren von zollfreiem Marktzugang, extrem niedrigen Lohnkosten und von mitunter fast sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen. Die Jobs, die das Freihandelsabkommen mit Nordamerika schaffen sollte, sie sind bislang ausgeblieben, über die Hälfte der Bevölkerung geht informeller Arbeit nach, die Arbeitslosigkeit ist sogar leicht angestiegen. Der Mindestlohn, der für die Mehrheit der Mexikaner den Regellohn bedeutet, hat in den 90er-Jahren über die Hälfte seiner Kaufkraft verloren und stagniert im neuen Jahrhundert bestenfalls noch.Um das Existenzminimum zu verdienen, braucht eine mexikanische Familie inzwischen mindestens zwei, besser drei Jobs.
Hartes Leben auch in großen Städten
Auch in den großen Städten bleibt das Leben hart. Im Herzen von Mexiko-Stadt, nördlich und östlich vom Zocalo, dem zentralen Platz mit Kathedrale und Nationalpalast, geht es zünftig zu: auf einer Straße Sanitärläden und Klempner, auf der nächsten Fotoarbeiten, Lampen und Brautkleider eine Ecke weiter. Auf der Straße werden Lose und Raubkopien verkauft.
Der Platz vor der großen Kirche von Santo Domingo ist das Terrain der Drucker.Unter den Arkaden stehen zwei Dutzend Stände im Format alter Telefonhäuschen. Darin stehen kleine, alte Pressen und auf Barschemeln warten Drucker wie Jorge auf Kundschaft. Der 60-Jährige mit dem ebenfalls in die Jahre gekommenen, ausgebeulten Pulli und dem schütteren Haar arbeitet schon seit fast 40 Jahren als Angestellter hier. Sein Lohn reicht gerade zum Leben, weil Jorge mit seiner Familie gute zwei Stunden außerhalb wohnt, wo die Mieten noch erschwinglich sind. Um sechs aus dem Haus zu gehen und erst um neun wieder zu Hause sein, dass ist für viele in Mexiko-Stadt normal.
"Was wir hier an Lohn bekommen, ist schon sehr wenig. Früher war das Geld wenigstens mehr wert, heute reicht der Lohn kaum noch zum Leben. Hier gibt es nur einen kleinen Grundlohn, der Rest läuft auf Provision, was Du rausbekommst, hängt also davon ab, wie das Geschäft läuft. Selten sind das mehr als 250 Dollar im Monat. Ich hoffe, dass es langsam mal besser wird. Aber wirtschaftlich und politisch ist alles ein großes Durcheinander. Mit einem einzigen Job kommt keiner mehr über die Runden, alle müssen schauen, wo sie bleiben."
Unternehmen, die höher qualifizierte Arbeit schaffen, die Mehrwert generieren und zukunftsträchtige Technologien entwickeln, die gibt es durchaus: In Queretaro, 150 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt, haben sich Flugzeughersteller wie Bombardier und Airbus angesiedelt; neben Puebla entstehen in diesem Jahrzehnt weitere Zentren der Automobilindustrie. Alle begründen ihre Entscheidung mit dem durch NAFTA erleichterten Zugang zum nordamerikanischen Markt. Doch noch sind diese Leuchttürme zu wenig, um sichtbar etwas zu verändern. Die soziale Ungleichheit in Mexiko ist zwar gesunken. Aber nicht in dem Sinne, wie man es erwarten würde: Das Credo, dass Investitionen in Bildung schnell zu einem Aufschwung führen, in Mexiko geht es laut der Ökonomin Alicia Puyana bislang nicht auf:
"In den letzten 20 Jahren ist das Angebot an mittel- und hochqualifizierten Arbeitsplätzen ganz erheblich gewachsen. Und zwar weitaus mehr als die Nachfrage! In einer Marktwirtschaft bedeutet das eben, dass die Gehälter für höherqualifiziertes Personal real gesunken sind. Wenn also die Ungleichheit in Mexiko geringer geworden ist, dann hat das nicht damit zu tun, dass die untersten Lohngruppen heute mehr verdienen, sondern dass die gut Ausgebildeten heute auf Positionen arbeiten müssen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Ich habe viel mit der Automobilindustrie zusammen gearbeitet, in den großen US-Werken im Norden Mexikos, die sagen mir: Für das, was wir hier machen, Teile zusammenschrauben, dafür reichen vier, fünf Jahre Schulbildung. Das ist die Nachfrage in Mexiko."