Über das dritte Lebensalter
In "Über Glück und Unglück des Alters" geht es um das Glück jener älteren Menschen, die sich eigentlich noch gar nicht zu den Alten zählen und ein gesünderes, aktiveres und autonomeres Leben als gleichaltrige Generationen vor ihnen anstreben.
Um es vorweg zu sagen: In diesem Band geht es nicht um das von "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher geforderte Methusalemkomplott gegen jüngere Generationen, die den älteren ihr Recht auf ein würdiges Leben bestreiten wollen. Dafür ist der Theologe Graf nicht nur nicht militant genug.
Er weiß auch genau, dass die Diskussion, aus der Schirrmachers Forderung hervorsticht, schon seit fünf Jahrzehnten geführt wird und die Alten von heute vielleicht eines Komplotts nicht mehr bedürfen, um sich gegen Negativbilder des Alters zur Wehr zu setzen. Was jedoch damit zusammenhängen dürfte, dass bestimmte Schlachten schon geschlagen worden sind. So heißt es in Grafs Einleitung:
"Die moderne Altersforschung zeichnet sehr viel differenziertere Bilder des Alterns und hebt insbesondere die hohe Pluralität ganz unterschiedlicher und je eigener Entwürfe des Lebens im Alter hervor. Sie findet darin Unterstützung durch diverse Seniorenorganisationen, die, ausgehend von den USA ( ... ), den Kampf gegen ‘Ageism’, die Altenfeindschaft, aufgenommen haben."
Ganz ohne Kampf geht es nicht ab. Hier interessiert den gelehrten Theologen aber nicht so sehr das Unglück, sondern das Glück jener älteren Personen, die sich eigentlich noch gar nicht zu den Alten zählen, weil sie ein gesünderes, aktiveres und autonomeres Leben als gleichaltrige Generationen vor ihnen anstreben. Es handelt sich um das dritte Lebensalter zwischen 60 und 80, um die sogenannten "jungen Alten". Davon sind die Hochaltrigen zu unterscheiden, die sogenannten alten Alten ab 80. Angesichts größerer Bedrohung durch Krankheiten, besonders der Demenz, versuchen sie offenbar zunehmend, die autonome Lebensführung der jüngeren Alten auf ihren Tod zu übertragen:
"Sie erfahren das Ganz-alt-Werden oft als Unglück und wissen nicht, wie sie den Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben in die Tat umsetzen sollen. Sie erfahren die Extension der Lebenszeit jedenfalls nicht mehr als einen Gewinn, als ein gutes Leben. Daher muss verstärkt über Lebensqualität nachgedacht werden. Zu erinnern ist insbesondere an die weise Einsicht, dass Lebensqualität nicht darin besteht, mehr Zeit ans Leben zu fügen, sondern genau umgekehrt, mehr Lebensintensität in allemal begrenzter Zeit zu erfahren."
Warum Zeit im Alter nicht nur begrenzt, sondern auch verkürzt wahrgenommen wird, dafür liefert der mit den verschiedensten Ehrenpreisen bedachte politische Philosoph Hermann Lübbe in seinem Beitrag eine Erklärung. Sie verblüfft, weil sie so naheliegt, dass man nicht selbst darauf kommt. Lübbe wählt dazu das Beispiel des Zurücklegens eines Weges:
"Wege, die wir zu einem gegebenen Ziel zum ersten Mal passieren, ziehen sich in die Länge, nämlich zeitlich. Durcheilen wir sie als altvertraute Wege zum zahllos wiederholten Mal, so ist die Wegzeit zusammengeschrumpft, und es lässt sich genau sagen, warum das so ist. Es beruht auf dem Faktum, dass der noch unbekannte Weg unsere Erwartungen ins Unbestimmte sich ausdehnen lässt ( ... )."
Die Zeit dehnt sich für den jungen Menschen aufgrund seiner Erwartungshaltung. Alles, was vor ihm liegt, ist noch unvertraut, er weiß noch nicht, worauf es ankommt. Das Ungewohnte ist zeitintensiv, das Gewohnte zeitraffend. Zwar breitet sich Langeweile aus, aber die Zeit wird dabei totgeschlagen. Lübbe begreift sein Beispiel als Metapher:
"Auf den Lebensweg übertragen heißt das: Seine Überraschungsträchtigkeit nimmt gegen sein Ende hin ab. Große Änderungen sind nicht mehr in Aussicht. Die noch unbekannten Möglichkeiten, die man in jungen Jahren vor sich hatte, sind gleichsam konsumiert."
Diese Einsicht bekümmert Lübbe jedoch nicht im Mindesten, da ihm eine andere zu Hilfe kommt, nach der im hohen Alter die Bedrohlichkeit des zeitlich näherliegenden Todes, anders als man denkt, keineswegs zunimmt. Dafür müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Die erste ist gute Gesundheit. Die zweite, die Lübbe nennt, klingt ebenso verblüffend wie seine Wege-Metapher: Es ist die Voraussetzung vollbrachten Lebens – eine geradezu theologische Pointe, die man von einem politischen Philosophen nicht erwartet hätte, wüsste man nicht, dass er sich zugleich große Verdienste um eine moderne Deutung von Religion und Christentum erworben hat. Vollbrachtes Leben tröstet den alten Menschen über sein nahes Ende hinweg, da seine Zeit erfüllt ist.
Graf hat in dem vorliegenden Band nicht nur Theologen versammelt. Während die Schriftstellerin Gerlind Reinshagen in einem nahegehenden Text ihre Wut über das Alter hinausschreit, beklagt der in seiner Generation führende Kunsthistoriker Willibald Sauerländer eindringlich das Verschwinden des Alters in einer transzendenzfreien Wellnesskultur, die alle auf jung trimmt. Und der bekannte Bildhauer Hubertus von Pilgrim widerlegt glänzend das selbst von angesehenen Künstlern gehegte Vorurteil, die Kunst alternder Künstler sei eher bedeutungslos.
Die Hälfte der Beiträge berührt jedoch theologische Fragen. So auch der des prominenten evangelischen Theologen Eberhard Jüngel. Er befasst sich besonders mit der christologisch begründeten Hoffnung für das Alter. Sofern dies christlich inspiriert ist, erkennt es die Endlichkeit des Lebens als Gewissheit an und setzt sein Hoffen auf niemand anderen als auf Gott. Durch ihn ist es dem alternden Christen möglich, jeden Lebensabschnitt gerade in seiner Begrenztheit zu bejahen. Der letzte Abschnitt belohnt zudem mit einer intensiveren Wahrnehmung, die an Lübbes erfüllte Zeit erinnert und sie zugleich mit einem kostbaren Aspekt, dem der Dankbarkeit, Lateinisch: "Gratia", bekrönt.
"Wenn dem alten Menschen dieselbe Hoffnung zugesprochen wird wie dem jungen Menschen, dieselbe Hoffnung vom alten Menschen aber eben in der Weise eines alten Menschen rezipiert wird, dann wird es dem alten Menschen möglich, ‘die Dinge der Jugend mit Grazie aufzugeben’."
Jüngel borgt die Grazie von dem theologischen Philosophen Schleiermacher, bei dem man nach Beendigung der Lektüre dieses Bandes am liebsten weiterlesen würde. Ein graziöses Alter – welch göttliche Wendung! Das übertrumpft jeden Gedanken an ein Komplott.
Friedrich Wilhelm Graf: Über Glück und Unglück des Alters
Verlag C. H. Beck
Er weiß auch genau, dass die Diskussion, aus der Schirrmachers Forderung hervorsticht, schon seit fünf Jahrzehnten geführt wird und die Alten von heute vielleicht eines Komplotts nicht mehr bedürfen, um sich gegen Negativbilder des Alters zur Wehr zu setzen. Was jedoch damit zusammenhängen dürfte, dass bestimmte Schlachten schon geschlagen worden sind. So heißt es in Grafs Einleitung:
"Die moderne Altersforschung zeichnet sehr viel differenziertere Bilder des Alterns und hebt insbesondere die hohe Pluralität ganz unterschiedlicher und je eigener Entwürfe des Lebens im Alter hervor. Sie findet darin Unterstützung durch diverse Seniorenorganisationen, die, ausgehend von den USA ( ... ), den Kampf gegen ‘Ageism’, die Altenfeindschaft, aufgenommen haben."
Ganz ohne Kampf geht es nicht ab. Hier interessiert den gelehrten Theologen aber nicht so sehr das Unglück, sondern das Glück jener älteren Personen, die sich eigentlich noch gar nicht zu den Alten zählen, weil sie ein gesünderes, aktiveres und autonomeres Leben als gleichaltrige Generationen vor ihnen anstreben. Es handelt sich um das dritte Lebensalter zwischen 60 und 80, um die sogenannten "jungen Alten". Davon sind die Hochaltrigen zu unterscheiden, die sogenannten alten Alten ab 80. Angesichts größerer Bedrohung durch Krankheiten, besonders der Demenz, versuchen sie offenbar zunehmend, die autonome Lebensführung der jüngeren Alten auf ihren Tod zu übertragen:
"Sie erfahren das Ganz-alt-Werden oft als Unglück und wissen nicht, wie sie den Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben in die Tat umsetzen sollen. Sie erfahren die Extension der Lebenszeit jedenfalls nicht mehr als einen Gewinn, als ein gutes Leben. Daher muss verstärkt über Lebensqualität nachgedacht werden. Zu erinnern ist insbesondere an die weise Einsicht, dass Lebensqualität nicht darin besteht, mehr Zeit ans Leben zu fügen, sondern genau umgekehrt, mehr Lebensintensität in allemal begrenzter Zeit zu erfahren."
Warum Zeit im Alter nicht nur begrenzt, sondern auch verkürzt wahrgenommen wird, dafür liefert der mit den verschiedensten Ehrenpreisen bedachte politische Philosoph Hermann Lübbe in seinem Beitrag eine Erklärung. Sie verblüfft, weil sie so naheliegt, dass man nicht selbst darauf kommt. Lübbe wählt dazu das Beispiel des Zurücklegens eines Weges:
"Wege, die wir zu einem gegebenen Ziel zum ersten Mal passieren, ziehen sich in die Länge, nämlich zeitlich. Durcheilen wir sie als altvertraute Wege zum zahllos wiederholten Mal, so ist die Wegzeit zusammengeschrumpft, und es lässt sich genau sagen, warum das so ist. Es beruht auf dem Faktum, dass der noch unbekannte Weg unsere Erwartungen ins Unbestimmte sich ausdehnen lässt ( ... )."
Die Zeit dehnt sich für den jungen Menschen aufgrund seiner Erwartungshaltung. Alles, was vor ihm liegt, ist noch unvertraut, er weiß noch nicht, worauf es ankommt. Das Ungewohnte ist zeitintensiv, das Gewohnte zeitraffend. Zwar breitet sich Langeweile aus, aber die Zeit wird dabei totgeschlagen. Lübbe begreift sein Beispiel als Metapher:
"Auf den Lebensweg übertragen heißt das: Seine Überraschungsträchtigkeit nimmt gegen sein Ende hin ab. Große Änderungen sind nicht mehr in Aussicht. Die noch unbekannten Möglichkeiten, die man in jungen Jahren vor sich hatte, sind gleichsam konsumiert."
Diese Einsicht bekümmert Lübbe jedoch nicht im Mindesten, da ihm eine andere zu Hilfe kommt, nach der im hohen Alter die Bedrohlichkeit des zeitlich näherliegenden Todes, anders als man denkt, keineswegs zunimmt. Dafür müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein. Die erste ist gute Gesundheit. Die zweite, die Lübbe nennt, klingt ebenso verblüffend wie seine Wege-Metapher: Es ist die Voraussetzung vollbrachten Lebens – eine geradezu theologische Pointe, die man von einem politischen Philosophen nicht erwartet hätte, wüsste man nicht, dass er sich zugleich große Verdienste um eine moderne Deutung von Religion und Christentum erworben hat. Vollbrachtes Leben tröstet den alten Menschen über sein nahes Ende hinweg, da seine Zeit erfüllt ist.
Graf hat in dem vorliegenden Band nicht nur Theologen versammelt. Während die Schriftstellerin Gerlind Reinshagen in einem nahegehenden Text ihre Wut über das Alter hinausschreit, beklagt der in seiner Generation führende Kunsthistoriker Willibald Sauerländer eindringlich das Verschwinden des Alters in einer transzendenzfreien Wellnesskultur, die alle auf jung trimmt. Und der bekannte Bildhauer Hubertus von Pilgrim widerlegt glänzend das selbst von angesehenen Künstlern gehegte Vorurteil, die Kunst alternder Künstler sei eher bedeutungslos.
Die Hälfte der Beiträge berührt jedoch theologische Fragen. So auch der des prominenten evangelischen Theologen Eberhard Jüngel. Er befasst sich besonders mit der christologisch begründeten Hoffnung für das Alter. Sofern dies christlich inspiriert ist, erkennt es die Endlichkeit des Lebens als Gewissheit an und setzt sein Hoffen auf niemand anderen als auf Gott. Durch ihn ist es dem alternden Christen möglich, jeden Lebensabschnitt gerade in seiner Begrenztheit zu bejahen. Der letzte Abschnitt belohnt zudem mit einer intensiveren Wahrnehmung, die an Lübbes erfüllte Zeit erinnert und sie zugleich mit einem kostbaren Aspekt, dem der Dankbarkeit, Lateinisch: "Gratia", bekrönt.
"Wenn dem alten Menschen dieselbe Hoffnung zugesprochen wird wie dem jungen Menschen, dieselbe Hoffnung vom alten Menschen aber eben in der Weise eines alten Menschen rezipiert wird, dann wird es dem alten Menschen möglich, ‘die Dinge der Jugend mit Grazie aufzugeben’."
Jüngel borgt die Grazie von dem theologischen Philosophen Schleiermacher, bei dem man nach Beendigung der Lektüre dieses Bandes am liebsten weiterlesen würde. Ein graziöses Alter – welch göttliche Wendung! Das übertrumpft jeden Gedanken an ein Komplott.
Friedrich Wilhelm Graf: Über Glück und Unglück des Alters
Verlag C. H. Beck