Der Glücksatlas
Heute, am 20. März, ist der Weltglückstag. Wir schauen auf Versuche, das Glück in unserem Land zu messen. Jedes Jahr erscheint dazu in Deutschland der "Glücksatlas", der neueste wurde Ende 2019 veröffentlicht, also noch deutlich vor der Coronapandemie.
Der "Glücksatlas" ist eine Untersuchung zur Zufriedenheit, zum Glück der Deutschen. Dazu wird jedes Mal auch eine Art Hitparade der Bundesländer erstellt.
Seit Jahren ist da ein Land ganz oben: Schleswig-Holstein. Und ebenfalls seit Jahren ist ein Land ziemlich weit unten: Mecklenburg-Vorpommern. Im Glücksatlas kommt das Land aktuell auf Platz 17 von 18, ganz unten steht Brandenburg.
Das Ergebnis überrascht, denn auf den ersten Blick sind Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern doch sehr ähnlich. Flächenländer, wenig Industrie, viel Landwirtschaft, Wälder, Felder, keine Berge und das Meer. Dazu sind die Menschen allesamt Norddeutsche, die Bundesländer benachbart.
Das Geheimnis des "Moin Moin"-Grußes
12:42 Minuten
Der "Glücksatlas" gibt Rätsel auf. Beim Wohlbefinden toppen die Norddeutschen in Schleswig-Holstein die Norddeutschen in Mecklenburg-Vorpommern deutlich. Warum ist das so? Unser Reporter Matthias Schümann wollte es genauer wissen.
Unterschiedliche Mentalitäten
Vielleicht sind es nur kleine, unscheinbare Gesten, die den Unterschied machen. Der US-Amerikaner Gary Baker ist Literaturprofessor in Granville, Ohio. Gerade hat er ein paar Wochen auf dem Darss in Mecklenburg-Vorpommern gearbeitet, zuvor war er in Flensburg, Schleswig-Holstein.
Der Unterschied zwischen den Bundesländern ist für ihn ganz offensichtlich:
"In Schleswig-Holstein hat man jeden begrüßt. In Mecklenburg grüßt man nicht. 'Moin Moin' zu sagen, das macht Spaß. Es war immer schön, das zu sagen. Und dann, das zurückzuhören. Egal wann. 23 Uhr abends auf dem Fahrradweg: Moin Moin! Aber hier gehen die Leute vorbei, und da wird nix gesagt."
Irgendwo zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern verliert sich das freundliche "Moin Moin". Für Gary Baker ein Zeichen für die unterschiedlichen Mentalitäten der benachbarten Norddeutschen.
Aufgeschlossen und hilfsbereit
Aber wie sehen das eigentlich die Schleswig-Holsteiner?
Wochenmarkt auf dem Blücherplatz im Nordwesten von Kiel. An mobilen Ständen gibt es Fisch, Wurst und Fleisch, Blumen, Gemüse und Kaffee.
Der Blücher, wie der Platz genannt wird, ist umgeben von schicken Bürgerhäusern. Ein Akkordeonspieler hat sich am Rand des Marktes niedergelassen. Vor einem Stand mit Bio-Brot sitzt eine Gruppe junger Leute in der Frühlingssonne.
"Moin!"
"Moin!"
"Moin!"
Lea, Nele und Tade kommen aus Schleswig-Holstein und wollen auch hier bleiben. Gefragt, warum sie und die Menschen in ihrer Heimatregion so zufrieden, ja geradezu glücklich sind, müssen sie nicht allzu lange überlegen.
"Hier sind schon alle ziemlich aufgeschlossen, auch bei uns im Freundeskreis, natürlich auch dadurch, dass wir aus Kiel kommen. Aber wir haben hier auch viele, die durchs Studium hergekommen sind. Und das schätzen die Leute, dass sie relativ schnell Anschluss finden."
"Im Allgemeinen finde ich schon, dass Menschen gerade in Kiel sehr hilfsbereit sind, wenn es denn Not tut. Nicht aufdringlich, aber wenn sie merken, jemand braucht Hilfe, dann helfen sie auch gerne."
Griesgrämiger und älter
Die Zufriedenheitslücke zwischen Schleswig-Holstein und dem Nachbarbundesland Mecklenburg-Vorpommern überrascht die drei Kieler nicht.
"Ich hab’ in Greifswald studiert, und das ist schon was anderes. Ich hab’ das deutlich gemerkt, dass die Leute dort ein Stück griesgrämiger sind und allgemein alle auch viel älter, auch wenn Greifswald eine Studentenstadt ist. Man sagt ja häufig, dass die Norddeutschen irgendwie trocken sind. Aber das ist schon eine andere Mentalität."
Diesen gefühlten Unterschied beschreibt ein Experte von der Christian-Albrechts-Universität, nicht allzu weit entfernt vom Blücherplatz. Dort arbeitet Uwe Jensen, Glücksforscher.
"Glücksforscher, da bin ich so reingerutscht. Ich biete eine Vorlesung an in Arbeitsökonometrie. Und in der Arbeitsökonometrie geht es um mikroökonomische Fragen des Arbeitsmarktes: Wer wird arbeitslos und warum? Wer kriegt mehr Einkommen als andere? Und da ist auch ein Kapitel drin, wo es auch um Glück geht, um Zufriedenheit."
Glücksforschung mit Zahlen
Uwe Jensen ist eigentlich Mathematik-Professor. Geboren wurde er in Hamburg, seit seinem vierten Lebensjahr ist er Schleswig-Holsteiner.
In diesen Tagen sind wegen der Corona-Pandemie wohl alle Menschen angespannt, nervös oder hektisch, zumindest verunsichert, nicht nur die Schleswig-Holsteiner. Deren Grundgefühl aber ist eigentlich ein anderes: Sie sind ausgeglichen und zufrieden. Für den Wissenschaftler Uwe Jensen sind Glück und Zufriedenheit in erster Linie Zahlen.
Grundlage seiner und der Analysen vieler anderer Glücksforscher ist die riesige Datensammlung des sozio-ökonomischen Panels für Deutschland.
Jedes Jahr werden dafür rund 30.000 Menschen befragt. Sie geben Auskunft über ihre Lebenssituation, über Familie, Gesundheit, Arbeit und darüber, wie zufrieden sie sich fühlen. Mit Hilfe dieser Angaben kann Jensen die Mentalität der Schleswig-Holsteiner im Vergleich zu den Mecklenburg-Vorpommern beschreiben.
"Eine der wichtigen Größen in diesem Zusammenhang ist die emotionale Stabilität, kurz gesagt, wenn etwas Schlimmes passiert: Wie gelassen gehe ich damit um? Da hat Schleswig-Holstein einen deutlich besseren Wert als Mecklenburg-Vorpommern, das ist relativ drastisch."
Die Sache mit der Ex-DDR
Warum dieser Unterschied so groß ist, kann auch Glücksforscher Jensen nicht zweifelsfrei erklären. Aber er kann weitere Zahlen bemühen. Und die belegen, dass die Schleswig-Holsteiner mehr Sport treiben als Mecklenburger und Vorpommern, sie verdienen mehr Geld und sie arbeiten weniger, haben also mehr Freizeit.
Zufriedenheit ist für Uwe Jensen aber auch eine relative Größe, die davon abhängig ist, mit wem man sich vergleicht. Im Fall Mecklenburg-Vorpommerns hat sie auch noch eine historische Dimension.
"Was ja auch in der Geschichte der Wiedervereinigung eine Rolle gespielt hat, die Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern ist erst einmal stark nach unten gegangen, weil die Vergleichsgruppe sich gewandelt hat. Vorher war die Vergleichsgruppe alle anderen in der Ex-DDR, und plötzlich - nach Öffnung der Grenze - haben sich die Vergleichsmaßstäbe drastisch gewandelt. Und das ist halt ein großes Problem gewesen."
Das gilt bis heute, denn noch immer sind Ostdeutsche unzufriedener als Westdeutsche. Allerdings wird der Abstand immer geringer, sagt Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Freiburg und ebenfalls Glücksforscher:
"Vor zehn, vor fünf Jahren auch noch, gab es signifikante Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Das hat sich in den letzten Jahren angeglichen. Und eigentlich ist es zufällig, dass noch kein ostdeutsches Bundesland, was die Zufriedenheit angeht, ein westdeutsches Bundesland überholt hat. Aber mit Sicherheit wird das nächstes Jahr oder übernächstes Jahr auftreten."
Geld, Gesundheit, Gemeinschaft und Genetik
Bernd Raffelhüschen ist zusammen mit dem Soziologen Robert Grimm Herausgeber des Glücksatlas. Glück und Zufriedenheit lassen sich für ihn in vier große Bereiche einteilen, die vier "Gs", wie er sie nennt: Geld, Gesundheit, Gemeinschaft und Genetik.
"Das Glück hat nicht einen Grund, es ist nicht monokausal. Glück ist die Zusammensetzung von vielen - subjektiven und objektiven - Lebensumständen. Und der vermögendste Mensch der Welt kann aus seinem Geld nicht viel ziehen, wenn die anderen Gs nicht klappen.
Glück ist etwas Multiplikatives, es heißt nämlich nicht G1 plus G2 plus G3 plus G4, sondern es heißt 'mal'. Wenn irgendwie was nicht stimmt, nützt mir der Rest auch nichts."
Bernd Raffelhüschen gehört als gebürtiger Friese übrigens selber zu den glücklichen Norddeutschen und praktiziert seinen typischen Gruß – in Freiburg.
"Das ist etwas, das wir Schleswig-Holsteiner immer mit uns tragen. Und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich hier im Badischen anstoße, wenn ich hier zu jeder Tageszeit jeden mit 'Moin!' begrüße."
Nah dran an Dänemark
Dabei bedeutet "Moin" eben nicht "Morgen", sondern "gut", erklärt Raffelhüschen. Der Glücksforscher führt wie sein Kieler Kollege Jensen die Unterschiede zwischen den benachbarten Norddeutschen vor allem auf das vierte G wie Genetik zurück.
"Die Frage, ob ich ein halbvolles Glas als halbleer oder halbvoll ansehe. Obwohl objektiv der Zustand des Glases exakt derselbe ist, empfinde ich das halbleere natürlich anders als das halbvolle. Und genau diese Sache scheint irgendwo im Norden, irgendwo in Dänemark, zu kulminieren. Dort haben wir die zufriedensten Menschen der Welt, und in Schleswig-Holstein haben wir ähnliche Zufriedenheiten wie oben in Dänemark."
Der fröhliche genetische Fingerabdruck verliert sich auf dem Weg Richtung Mecklenburg-Vorpommern. Dass die dänische Zufriedenheit aber auch dort ansteckend sein kann, zeigt sich derzeit im Rathaus der Hansestadt Rostock.
"Mein Papa sagt immer, dumme Menschen sind immer glücklich. Das wäre jetzt übelst, wenn man das auf Dänemark bezieht, und das ist ja so auch gar nicht gemeint. Da liegt vielleicht viel tiefer drin: Sorge dich nicht um morgen."
Alle könnten mehr "hygge" sein
Claus Ruhe Madsen ist Däne, er lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland und seit dem vergangenen Jahr residiert er im Rathaus der Hansestadt Rostock. Als erster Oberbürgermeister Deutschlands mit einem ausländischen Pass.
"Ein bisschen mehr diese Mentalität der hygge, der Gemütlichkeit, wir müssen uns nicht um morgen sorgen. Aber es gibt auch einen Begriff, der ist noch nicht so bekannt geworden, der heißt pyt. Pe-Ypsilon-Te. Wenn man das mal googelt, wird man feststellen, das ist so etwas wie: Ach, ist egal. Ach, kümmer' dich nicht drum. Mach dich keine Sorgen. Ich glaube, die Deutschen sind da viel stärker in dem Bereich von: Wir machen uns Sorgen! 95 Prozent aller Probleme und Sorgen stellen sich nie ein! Ich glaube, wir müssen viel mehr lernen, einfach im Jetzt zu leben, das so hinnehmen, wie es kommt, glücklich sein und sich nicht verrückt machen."
Die Menschen müssen sich auf ihre eigenen Qualitäten besinnen, sagt Madsen. Das relativ schlechte Image der Nordostdeutschen sei vor allem ein von außen aufs Land projiziertes Bild. Statt dessen sollten es die Menschen mal mit Humor versuchen und sich selber nicht so ernst nehmen. Madsen zum Beispiel stört es nicht, dass alle Welt seinen Namen falsch ausspricht, Madsen heißt eigentlich - gesprochen - "Mäßen".
"Nee, das macht doch gar nichts. Ich glaube, wenn den einer jetzt richtig aussprechen würde, dann würde ich gar nicht hinhören. Über 20 Jahre gewöhnt man sich auch daran, dass es anders ausgesprochen wird. Ich hoffe dann immer nur auf Verzeihung, wenn ich auch alle anderen Wörter nicht korrekt ausspreche. Dann kann ich das damit verteidigen, dass man meinen Namen ja auch falsch ausspricht."
Der dänische Oberbürgermeister von Rostock sorgt auch dafür, dass sich der Schleswig-Holsteiner Gruß in Mecklenburg-Vorpommern ausbreitet.
Madsen: "Statt 'Sehr geehrte Damen und Herren' schreibe ich 'Moin'. Ich weiß auch nicht, ob es 'Sehr geehrte' oder 'Sehr geehrter' heißt, und dann hab ich wenigstens keinen Schreibfehler. Moin ist easy."
"Die strahlenden Augen, das ist das Wichtigste"
Brunhilde Kluge geht grüßend durch eine Lagerhalle im Rostocker Stadtteil Schutow. Auf Packtischen werden die Nahrungsmittel sortiert, die später an Ausgabestellen an Bedürftige verteilt werden. Sie arbeitet bei der Rostocker Tafel.
"Die Leute, die dort draußen stehen, die tun weh. Wenn die jetzt mehr Hartz IV kriegen würden oder mehr Geld kriegen würden, dann würde das ja alles nicht sein. Aber das tut weh, wenn Sie rausgehen und Sie hören von allen Seiten: Mir ist das passiert und das muss ich machen ... Dann sag ich mir immer: Bruni, gut, dass du den Absprung damals geschafft hat. Ich war ja selbst in der Situation."
"Damals", das war gleich nach Wende und Wiedervereinigung, als Brunhilde Kluge mit Anfang 40 als Köchin keinen Job mehr fand. Über die Arbeit für einen Frauenhilfeverein kam sie zur Rostocker Tafel, für die sie seit 22 Jahren arbeitet. Ehrenamtlich.
"Wie soll man sagen, man macht ja die Leute glücklich. Sie kommen rein, holen sich ihr Zeug. Guten Tag. Dankeschön. Wir haben auch Süßigkeiten. Die Kinder freuen sich dann, wenn wir denen auch mal Bonbons oder was anderes geben können, die strahlenden Augen, das ist das Wichtigste, und ein kleines bisschen Danke. Das hilft schon weiter."
Die Glücksforscher sind sich einig, dass Menschen im Ehrenamt glücklicher sind als andere. Tatsächlich arbeiten in Schleswig-Holstein mehr Menschen in einem Ehrenamt als in Mecklenburg-Vorpommern. Dabei ist gerade eine Frau wie Brunhilde Kluge ein Beispiel dafür, dass ein G, in diesem Fall die Gemeinschaft, die anderen Gs aufwiegen kann, das Geld zum Beispiel. Denn die Rostockerin bekommt mit ihren 72 Jahren nur eine schmale Rente.
"Mein Glück ist, dass ich bei der Tafel bin, dass ich hier arbeite, dass ich mit den Kollegen scherzen kann, das ist mein Glück. Und dass ich eine Familie habe zu Hause, das ist mein Glück. Und da lass ich mir auch nicht reinreden. Von keinem."
Glück entsteht nicht im Vergleich
Brunhilde Kluge hat verstanden, dass sie ihr Glück aus sich selber heraus leben muss, nicht im Vergleich zu anderen. Arme Menschen und Tafeln, die die Bedürftigen versorgen, gibt es schließlich auch in Schleswig-Holstein. Außerdem sind auch im glücklichsten Bundesland die Einkommensunterschiede vor allem zwischen Stadt und Land beträchtlich.
In Sachen Gesundheit stehen die Mecklenburger und Vorpommern sogar ein wenig besser da, die Zahl der Arztbesuche ist geringer als in Schleswig-Holstein. Mit Zahlen lässt sich eben nicht alles erklären.
Vielleicht gehören auch ganz einfache Gesten dazu, die das G wie Gemeinschaft und damit die gesamte Zufriedenheit fördern.
Vielleicht hat der Amerikaner Gary Baker recht, und es hilft schon, wenn sich die Menschen einfach öfter grüßen.
"Ich denke, was fehlt in Mecklenburg, ist Moin Moin. Das macht gute Laune. Vielleicht müssen sie mehr Moin Moin sagen. Mecklenburger sollten auch Moin Moin sagen."