Über das Nicht-Wahrhaben-Wollen

Der Filmemacher im Gespräch mit Waltraud Tschirner |
Nach seinem letzten Film "Sturm", der sich um die Aufarbeitung des Balkankriegs drehte, ist der deutsche Filmemacher Hans-Christian Schmid wieder zu einem kleineren, aber ebenso explosiven Stoff zurückgekehrt, einer Kleinfamilie, die plötzlich mit ihrer ganz eigenen Wahrheit konfrontiert ist.
Waltraud Tschirner: Hans-Christian Schmid – als wir Sie beim Interview zu Ihrem letzten Film "Sturm" gefragt haben, was denn nach diesem wahnsinnig aufwändigen, rechercheaufwändigen anstrengenden Film kommt, haben Sie gesagt: Das wird ein kleiner Film mit wenig Rechercheaufwand. Und es ist jetzt also offenbar "Was bleibt" geworden. Die Frage ist nur: Mit dem Rechercheaufwand, da kann man ja noch mal nachschieben, aber ob der Film wirklich klein ist, das liegt tatsächlich im Auge des Betrachters.

Genau genommen ist es ein ganz großes, ein ganz zentrales Thema, wenn man wirklich von dem Stellenwert Familie ausgeht. Gab es irgendein Ereignis, irgendeine Initialzündung, irgendeinen Grund, warum Sie jetzt diesen traurigen Familienfilm machen mussten?

Hans-Christian Schmid: Ja, wie es immer so ist auf der Suche nach Geschichten bei mir: Es kommen verschiedene Dinge zusammen, und in diesem Fall waren Bernd Lange und ich uns erst mal darüber im Klaren, was wir nicht wollten, ...

Tschirner: Bernd Lange, der Drehbuchautor.

Schmid: … der Drehbuchautor, genau, nämlich einen Film, der so ähnlich also wie bei dem Film davor, bei "Sturm", erst mal sehr viel Zeit braucht, um Zusammenhänge zu erklären – also wie ist es, Tribunal in Den Haag und der Krieg auf dem Balkan –, sondern wir wollten die Zeit nutzen, um über die Figuren erzählen zu können, um in die Tiefe gehen zu können. Und mit klein meine ich dann vom Budget her klein und überschaubar, aber natürlich ist das ein großes Thema: Was die Familie mit uns macht und was die Familie für uns bedeutet, ist ja überhaupt nicht wegzudenken aus dem, wie wir sind. Und dann so beim Drüberdiskutieren und beim Rausfinden, wo wirklich die Probleme liegen, also in unserem Bekannten- oder Freundeskreis, konnten wir, glaube ich, feststellen: Es hat was mit Nicht-mehr-gut-miteinander-reden-Können zu tun. Und das ist vielleicht eigentlich der Kern dieser Geschichte.

Tschirner: Woran liegt das? Gab es da je eine Verständigung? Oder wie kommt es, dass da eigentlich so eine Sprachlosigkeit ist, so eine festgefahrene Rollenverteilung, die Jungs, die auch eigentlich die Jungs bleiben wollen, Fragezeichen, und die Eltern, die nicht loslassen können? Was ist das für eine Mischung?

Schmid: Also ich finde es manchmal gefährlich oder schwierig, zu sagen: Diese Familie ist so und deswegen ist das auch ein gesellschaftliches Phänomen. Wir bemühen keine Statistiken, wir glauben, dass uns dieses Modell öfter begegnet als andere Modelle, deswegen finden wir das unter anderem auch erzählenswert. Aber es geht im Kern natürlich ganz klar um diese eine Familie, die da gemeint ist, und in der auch die Krankheit der Mutter eine wichtige Rolle spielt. Über die müssen wir dann, glaube ich, auch noch mal gesondert reden.

Und weil das eigentlich ein liberales Elternhaus ist – wogegen hätte man rebellieren sollen als Sohn eines Günthers oder einer Gitte? Fehlt vielleicht irgendetwas in dieser Biografie? Und ich glaube, dass diese Freiheit, die es dann gab, zu sagen, das ist jetzt hier gar nicht eilig mit meinem Studium oder mit meinem Beruf oder mit der Familiengründung, und dann ist der eben Mitte, Ende 30, und dann gibt es wenig in seinem Leben, was Spuren hinterlassen hat. Und das, glaube ich, führt in der Figur von Marco zu so einer verdeckten Krise. Dem ist das ja gar nicht bewusst, das er in der Krise steckt, bevor er nicht dieses Wochenende durchlebt im Elternhaus.

Wir spüren als Zuschauer: Marco ist vielleicht stellvertretend für eine Generation nicht mehr ganz junger Menschen, die noch nicht so wirklich Wurzeln schlagen wollten oder konnten im Leben. Und wenn die gucken, was war bei meinen Eltern denn zu der Zeit, als die Mitte 30 waren, da war ein Beruf, ein Haus, eine Familie, zwei Kinder – dann kann sein, dass sie erkennen: Oh, wenn ich nicht aufpasse – es gibt hier einfach ein Defizit.

Tschirner: Und jetzt kommen wir mal zu der Mutter, die Mutter wird dargestellt als manisch-depressiv oder man bildet es sich ein. Sie ist irgendwie krank. Die Frage, die sich mir natürlich aber sofort stellt: Ist die überhaupt krank oder hat diese merkwürdige Konstellation, dieser Macher, patriarchalische Vater am Ende sie einfach so frustriert, dass sie dadurch krank geworden ist?

Und die Frage, die danach kommt: Es ist ja eigentlich toll, sie hat ihre Kinder erzogen, hat ganz viel Zeit für die Kinder gehabt, also da greifen Sie ja auch so aktuelle Debatten auf, Herdprämie, Quoten et cetera – was hat sie versäumt? Wann hätte sie wie diesem Lebensentwurf etwas Eigenes entgegensetzen sollen, um das Problem, das sie heute hat, nicht zu haben?

Schmid: Das war ganz interessant, wie Corinna Harfouch auf diese Rolle reagiert hat, die nämlich eigentlich gesagt hat: Ich verstehe das gar nicht, was Gitte da macht, und das ist mir mit meiner Ostbiografie so fremd. Die Frauen waren selbstständiger, ich hätte mich nie in diesen goldenen Käfig begeben. Und vielleicht ist dann eben Gitte stellvertretend für viele Frauen mit Westbiografie, und das war das Erfolgsversprechen der damaligen Zeit in der Bonner Republik, dass man sich schönen Wohlstand erwirtschaften konnte und meistens – egal, auch wenn es liberal vom Gedankengut her war, das Elternhaus – war klar: Der Mann ist der Berufstätige und die Frau ist dann oftmals zu Hause und kümmert sich um die Kinder.

Und ich glaube, schon bei dieser Weichenstellung hätte wahrscheinlich jemand wie Gitte sagen können: Moment, wir machen das anders, ich möchte das nicht so. Gleichzeitig gibt es eine zweite Wahrheit, finde ich, und das ist, dass wir eine spezifische Geschichte erzählen, und wenn ich das ernst nehme, manisch-depressiv, dann ist es eine wirkliche Krankheit, die möglicherweise auch ausgebrochen wäre, wenn Gitte in einer ganz anderen Konstellation gelebt hätte. Und das erklärt der Film nicht oder er lässt es zumindest offen. Uns hat die Krankheit auch nicht weiter interessiert, außer dass wir sagen: Die hat dazu geführt, dass in der Vergangenheit sehr viel verschwiegen wurde. Das ist ja auch so ein Themenfeld in diesem Film, also die Wahrheit und die Lüge und das Ausblenden und das Nicht-wahrhaben-Wollen – das gibt es, glaube ich, fast in allen Familien, also vor allem, wenn die Familienmitglieder so eben nicht zusammenleben. Also ich würde das immer der Interpretation des Zuschauers überlassen wollen.

Tschirner: Deutschlandradio Kultur, Hans Christian Schmid ist unser Studiogast, sein neuer Film "Was bleibt", eine Familientragödie – so habe ich es zumindest gesehen –, kommt am kommenden Donnerstag in die Kinos.

Für mich taugt der Film und die Familie, die ich da sehe, so als Projektionsfläche. Ich mache mal einen kleinen Bogen, ich habe mich auch gewundert über einige Reaktionen bei der Berlinale von Leuten, die sagten: Also, das hat mit mir und meiner Familie gar nichts zu tun, also mit meiner so eins zu eins auch nicht, aber es regt mich absolut an, darüber nachzudenken, und ich denke, dafür hat der Film ganz viel Potenzial.

Sie haben inzwischen auch eine Familie, Ihre Frau arbeitet mit Ihnen zusammen, Sie haben gemeinsame Projekte, inzwischen gibt es auch ein Kind. Haben Sie so was wie ein Ideal von der tollen, heilen Familie, und wie nah können Sie dem kommen im verrückten Alltag?

Schmid: Nein, dieses Ideal, glaube ich, ist eine Utopie. Also man versucht immer, die Dinge so zu nehmen oder zu meistern, wie sie einem so begegnen. Und so schön ich mir vorstellen könnte, mit verschiedenen Generationen unter einem Dach zu leben, so sehr weiß ich, dass der Lebensentwurf meiner Eltern oder der, den ich selber habe, nicht zusammenpassen würde. Da ist Kleinstadt und Großstadt, da sind viele Reisen und da sind weniger Reisen – also das würde nicht gehen. Gleichzeitig jetzt mit einem eigenen Kind ist die Vorstellung, Großeltern in der Stadt zu haben, natürlich … es wäre ganz schön. Deswegen kann ich beiden Familienmodellen sozusagen was abgewinnen.

Also für meine Eltern oder für Generationen damals war es ganz, ganz wichtig, dass man Kleinfamilie sein konnte. Man wollte nicht mehr aus wirtschaftlicher Not unterm Dach der Eltern leben müssen. Es war so sehr wichtig, was Eigenes zu gründen. Und jetzt kommen einem diese Kleinfamilien manchmal so ein bisschen verloren vor und man wünscht sich die große Familie und weiß in dem Moment aber auch: Wenn die alle mal zu Besuch kämen, dann wird man schon wieder den Moment herbeisehnen, wo man zu dritt sein könnte.

Tschirner: Aber das ist so gesehen, wenn Sie Ihr eigenes Leben dagegenhalten – also jetzt gar nicht unbedingt in der Großfamilie, aber Sie merken ja auch die Zwänge des Alltags, die trotzen einem ganz schön viel Energie ab, ich habe schon gesagt, Ihre Frau ist berufstätig und nicht zu knapp, und letzten Endes ist wahrscheinlich auch bei Ihnen die Decke immer zu kurz. Wie denken Sie über solche Sachen wie Betreuungsgeld und Frauenquote, das, was im Moment halt in den gesellschaftlichen Diskursen aus gutem Grunde gehandelt wird?

Schmid: Also ich finde, dass man, soweit es möglich ist, die Frauen genau gleich berechtigen muss und dass da irgendwie so eine Betreuungs- oder Herdprämie, glaube ich, der falsche Weg ist. Gleichzeitig ist das in jeder einzelnen Familie anders, und oft ist es so oder manchmal ist es so, dass – warum auch immer – ein Mann in dem Moment, wo ein gemeinsames Kind kommt, mitten im Beruf steht, eine Frau möglicherweise nicht, und dann sagt man, okay, wer kann denn jetzt eigentlich das Geld verdienen? Das bin ich, bin der Mann. Und dann wird es in dieser Familie einfach so gehandhabt, weil es anders wahrscheinlich finanziell nicht gehen würde. Bei uns ist es so, dass wir beide freiberuflich sind und selbstständig sind und uns deswegen im Moment so einteilen können, wie wir wollen, und das ist natürlich eine wahnsinnig luxuriöse Situation.

Tschirner: Ich denke, es ist ein Film, der einfach zum Darüber-Reden zwingt. Sind Sie da immer genau so sozusagen als der neue Familienverständige und Sachkundige befragt worden, oder wird der Film wirklich als genau diese eine Familie mit ihrer Geschichte betrachtet?

Schmid: Ich war mit dem Film jetzt eine Woche in Mexiko mit dem Goethe-Institut, und da spricht man natürlich ganz anders über den Film, weil viele in Mexiko gar nicht verstehen, dass diese Familien in Deutschland so fragmentiert sind, dass es so Kleinfamilien gibt, und die denken erst mal per se: Das ist jetzt irgendwie ein Problem, was ist mit dieser Familie? Und wenn man dann erklärt? Nein, nein, das ist eigentlich ganz oft so, bei vielen von meinen Bekannten und Freunden sind die Familien weit, weit weg, spricht man über den Stellenwert von Familie. Und deswegen finde ich es immer auch so schwer, zu sagen: Das ist prototypisch, was hier im Film gezeigt wird.

Ich finde es richtig, zu sagen: Wir haben uns eine bestimmte Familie ausgedacht, bei denen ist das so, wir glauben, dass wir das, was wir dort zeigen, oft beobachten können, aber wir sagen nicht, die müssen jetzt für etwas stehen. Also so lange ein Zuschauer sozusagen anknüpfen kann im Diskurs – und auch, wenn das ist, dass jemand sagt, wie, ich verstehe das nicht, bei mir ist das ganz anders –, wäre für mich schon erreicht, was man mit so einem Stoff eigentlich erreichen kann: das Nachdenken über die eigene Situation in der Gesellschaft.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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