Über den Freiheitsverlust der Großparteien

Von Norbert Seitz |
Man reibt sich die Augen, wenn man in diesen Tagen die Debatten um ein neues Grundsatzprogramm in den beiden großen Parteien verfolgt. Denn vieles bei Sozial- und Christdemokraten klingt ähnlich, die ganz große Alternative sucht man vergeblich.
Die zentralen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind identisch, auch wenn auf unterschiedliche Quellen und interpretatorische Nuancen verwiesen wird.

Während sich dabei die CDU auf ein christliches Menschenbild und die katholische Soziallehre beruft, hat die Sozialdemokratie des legendären Godesberger Programms immer auf die Betonung unterschiedlicher sozialphilosophischer Ursprünge Wert gelegt.

Zu denken gibt aber vor allem, dass beide Generalsekretäre, Hubertus Heil wie Ronald Pofalla, nicht müde werden, geradezu rituell darauf hinzuweisen, dass es keine Hierarchie unter den Grundwerten geben könne, sondern nur eine wechselseitige Bedingtheit.

Aber sind Freiheit und Gerechtigkeit oder Freiheit und Solidarität tatsächlich gleich zu behandeln? Hat die Freiheit in Zeiten der Globalisierung ihren Vorrang eingebüßt?

Willy Brandt betonte noch in seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender 1987, dass die drei Grundwerte der SPD in Wahrheit "Freiheit, Freiheit, Freiheit" zu heißen hätten?

Und gab Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung nicht die Losung aus, dass es vor der Schließung aller klaffenden Gerechtigkeitslücken in unserer Gesellschaft darauf ankomme, "mehr Freiheit zu wagen"?

Es lässt sich kaum leugnen, dass der heutige Begriff von der Freiheit des Handelns durch Gerechtigkeitspostulate, ökonomische Verkürzungen und Sicherheitsdogmen den Rückzug angetreten hat.

Bei näherem Hinsehen versteht man in Unionskreisen unter "mehr Freiheit" betriebliche Bündnisse anstelle von Flächentarifverträgen, einen gelockerten Kündigungsschutz, Kombilöhne und eine neue Unternehmensbesteuerung zur Entlastung des Mittelstandes.

Demgegenüber reduziert die Sozialdemokratie ihr Freiheitsverständnis fast vollständig auf eine Teilhabegerechtigkeit, die sie "soziale Freiheit" nennt.

Nach der kristallklaren Definition des liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf meint Freiheit im Kern die Abwesenheit von Zwang, das heißt die Fähigkeit und den Willen, zu tun und zu lassen, was man möchte.

Dabei lautet ein Wegweiser: Je größer die Nichteinmischung von draußen, desto größer die persönliche Freiheit. Dass es freilich als praktischer Konsequenz einer Verfassung in Gestalt einer liberalen Ordnung bedarf, wird ernsthaft von niemandem bestritten.

Dennoch hält Dahrendorf den Begriff der "sozialen Freiheit" für einen terminologischen Missbrauch, der von einer Erweiterung des individuellen Handlungsspielraums durch den Staat ausgeht.

Natürlich stellt auch der Nestor der Soziologie nicht in Frage, dass es sehr wohl soziale Voraussetzungen einer für alle zugänglichen Freiheit gibt.

Aber man sollte sie nach seiner Ansicht nicht Freiheit nennen. Und schon gar nicht gegen andere Grundwerte wie Gerechtigkeit oder Solidarität aufwiegen. Denn – so Dahrendorf - die Freiheit ist eines, und Gerechtigkeit ist ein anderes.

In der Tat hat sich die Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit durch die grenzensprengende Globalisierung verschoben, sind doch horrende neue Ungleichheiten in einem bislang nicht gekannten Ausmaß entstanden.

Neben der sozialen Inanspruchnahme freiheitlicher Grundsätze gibt es freilich auch die entgegengesetzte Gefahr eines allzu ökonomisch reduzierten Freiheitsverständnisses, das sich weitgehend in Verschlankungsparolen und Deregulierungsgeboten erschöpft.

Die größeren Bedrohungen der Freiheit in der jüngeren Zeit sind aber nicht nur mit der Globalisierung der Wirtschaft sondern ebenso sehr mit der weltweiten Terrorismusgefahr verbunden.

Es gibt nämlich neben der Balance zwischen >Freiheit und Gerechtigkeit< auch die zwischen>Freiheit und Sicherheit <.

Dabei hat sich durch die Herausforderung des Terrorismus die Perspektive auf die Individualrechte dramatisch verschoben.

So behauptete der britische Premierminister Tony Blair nach den Bombenattentaten in London, die erste Freiheit des Bürgers sei seine Sicherheit.

Eine Auffassung, die bei Bürgerrechtlern blankes Entsetzen hervorruft. Vertreten sie doch die Überzeugung, dass die ganze Sicherheit nichts taugt, wenn sie um den Preis der Freiheit erkämpft wird.

So müssen sich die Karlsruher Verfassungshüter von ministerieller Seite den nassforschen Vorwurf der Weltfremdheit gefallen lassen, wenn sie der Legalisierung von Folter, dem Luftsicherheitsgesetz oder dem großen Lauschangriff einen Riegel vorschieben.

Machen wir uns also nicht vor: Trotz aktueller Bedrohungen der Freiheit befinden sich deren Verteidiger in der Defensiven. Wer dennoch - wie die Parteien der Großen Koalition - die programmatische Gleichwertigkeit von Freiheit behauptet, betreibt in Wahrheit deren Nachrangigkeit.


Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, promovierter Politologe, ist verantwortlicher Redakteur der politischen Kulturzeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte"; schreibt u. a. für den "Tagesspiegel", die "Frankfurter Rundschau" und verschiedene Magazine. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung" (2005).