"Über den gesamten Arbeitsprozess nachdenken"
In der Debatte um die Rente mit 67 hält der Soziologe Stephan Lessenich einen flexibleren Lebensarbeitsprozess für den richtigen Ansatz. Dieser sei aber in der Praxis schwer umzusetzen.
Ulrike Timm: Die SPD will die Rente mit 67 erst mal aussetzen, die Union hält derzeit eisern daran fest und arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitute fordern: Reicht alles nicht, Rente erst mit 70! Derweil ist aber nur jeder fünfte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte tatsächlich über 60. Genug der Zahlen, sagen sie doch vor allem: Jeder hat seine, und sehr verlässlich wirken sie alle nicht. Wir wollen einen anderen Blick auf die Rentendiskussion werfen gemeinsam mit dem Soziologen Stephan Lessenich, Soziologe der Uni Jena, und uns fragen: Warum ändern sich die Vorstellungen vom älteren Arbeitnehmer eigentlich so rasend schnell und wie wird unsere Welt aussehen, wenn die Rente deutlich später kommt? Herr Lessenich, ich grüße Sie!
Stephan Lessenich: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Lessenich, lassen Sie uns mit etwas beginnen, das uns heute fast skurril erscheint: Noch vor ganz wenigen Jahren wurden viele Endfünfziger mit goldenem Handschlag aus den Firmen komplimentiert, um Platz zu machen für die innovativen jungen Leute. Und heute reden wir darüber, welchen Job ein Dachdecker mit 65 machen könnte. Warum ändert sich der Blick auf ältere Arbeitnehmer so dermaßen schnell?
Lessenich: Ich glaube, da trägt einerseits das Bewusstsein mit zu bei, dass wir vor einem radikalen demografischen Wandel stehen. Dieses Bewusstsein ist relativ spät gewachsen hierzulande in der Öffentlichkeit und in der Politik. Und gleichzeitig spielen natürlich eine zentrale Rolle die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung, also zumal der Rentenversicherung unter neuen Altersstrukturbedingungen. Und ich glaube, die Entdeckung des ja fitten, jungen, agilen und produktiven älteren Arbeitnehmers hat mit diesen beiden Strukturwandelsprozessen zu tun.
Timm: Was sind denn nun ältere Arbeitnehmer: Belastung oder Potenzial?
Lessenich: Na ja, sie werden gerne mittlerweile als Potenzial gesehen. Das Interessante ist, dass ältere Arbeitnehmer schon als alt gezeichnet werden in der Debatte, aber sozusagen als Komplement zu den Jungen dann doch ganz gerne gesehen werden und den Unternehmern und Unternehmerinnen suggeriert wird, eine altersgemischte Belegschaft ist eigentlich die beste aller Welten.
Denn seltsamerweise wird den ja doch irgendwie noch jungen älteren Arbeitnehmern dann trotzdem unterstellt, sie seien nicht innovativ, ja sie seien nicht so agil und flexibel wie die Jüngeren, aber sie hätten Erfahrungswissen, sie haben viel gesehen im Betrieb, sie kennen Abläufe, sie haben Ruhe, Gelassenheit und so weiter. Und insofern werden sie schon als Ältere gezeichnet, aber als welche, die im Betrieb durchaus auch noch Funktionen erfüllen können – und das ist eine seltsame Mischung von jungem Alter, aber von jungen Alten, die dennoch als Alte gezeichnet werden, obwohl sie das häufig in der Tat gar nicht sind.
Timm: Machen wir es mal dingfest: Ab wann ist man älter oder alt im Betrieb: 45, 50, 55, 60? Wann geht das los?
Lessenich: Ja das hängt ein bisschen von der Branche ab. Also in der IT-Branche oder in der Medienindustrie ist man deutlich früher alt als in anderen Branchen, also insofern ist das einigermaßen flexibel. Dann muss man natürlich sehen: Es gibt einerseits die Fremdwahrnehmung, also wann halten Betriebe ihre Belegschaft für alt oder Mitglieder ihrer Belegschaft, ab wann wird keine Weiterbildung mehr angeboten oder nicht mehr finanziert? Und die Selbstbeschreibung, ab wann sehen sich die Arbeitnehmerinnen selber als alt? Und das kann mit unterschiedlichen Ereignissen zusammenhängen, dass jemandem eine andere Person vor die Nase gesetzt wird, man keine Aufstiegschancen mehr sieht und deswegen sich als alt fühlt, oder dass die Tätigkeitsprofile sich ändern und man deswegen sich alt fühlt … Also man kann glaube ich nicht einheitlich sagen, ab 45, 50 oder 55 fängt das an.
Timm: Aber Sie haben mit vielen Menschen gesprochen, also jenseits von politischen Vorgaben und Betriebsstrukturen. Wann haben die denn für sich selbst entdeckt: Wir sind alt beziehungsweise wir sind noch nicht alt?
Lessenich: Wir haben in zwei Forschungsprojekten in Jena mit vielen jüngeren Alten und alten Alten gesprochen. Es geht darum, genau zu eruieren, inwiefern sozusagen in Vorausschau die Menschen denken, ab wann werden sie alt sein, und in der Retrospektion, ab wann bin ich denn eigentlich alt gewesen? Und auch das hängt ganz stark mit den individuellen Biografien und Erfahrungen zusammen.
Es gibt dennoch sozusagen einen Konvergenzpunkt, nämlich um die 60. Tatsächlich ist sozusagen von unten gesehen, von den Jüngeren her, wie auch von oben gesehen, von den Älteren, wird häufig um die 60 so dieser Wendepunkt markiert. Das hat einerseits mit Erlebnissen in der Erwerbsarbeit zu tun, andererseits in den Familienverhältnissen.
Und häufig wird gesagt: Ab 60 schaut man in den Spiegel und sieht sich sozusagen altern und fühlt sich innerlich noch jung, hat aber eine Maske des Alters sozusagen, und dann ist es irgendwann unabweisbar, dass man auch von außen als alt wahrgenommen wird.
Timm: Aber das ist doch eigentlich erstaunlich: Da steht doch die heutige Arbeitswelt der heutigen Lebenswelt entgegen, in der kein Mensch alt sein will. Wenn man auf die Werbung guckt, ist man Best Ager, und wenn es dann über 60 geht, ist man vielleicht noch Silver Ager, aber alt ist man nie.
Lessenich: Na ja es gibt Verlogenheiten in dieser Debatte, möchte ich mal sagen, auf allen Ebenen. Also bei den Subjekten selbst, bei den Menschen, weil natürlich möchte jeder alt werden, aber alt sein nicht wirklich, also auch nicht sich alt fühlen und all das zu fühlen, was man damit verbindet. Es gibt Verlogenheiten in dieser Rentendebatte, weil einerseits sieht es so aus, als wäre das eine unabweisbare Wahrheit: Klar, wenn wir älter werden, dann sollten wir auch länger arbeiten.
Aber eigentlich geht es ja um die Frage: Wie viel Jahre soll jemand in seiner Biografie arbeiten, 35, 40, 45, und das kann ja über die Lebenszeit auch durchaus flexibel verteilt sein, also man müsste über den gesamten Arbeitsprozess eigentlich nachdenken, und nicht nur übers Rentenalter. Und auch bei der Frage, wo das Alter anfängt, habe ich ja eben schon mal betont, gibt es unglaubliche Zweideutigkeiten, dass nämlich die älteren Arbeitnehmer irgendwie schon als jung, aber trotzdem auch als alt und andersartig gesehen werden.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", der Soziologe Stephan Lessenich hat intensiv über ältere Erwerbstätige geforscht. Im Gespräch mit Ihnen, Herr Lessenich, stellen wir uns mal vor, wir hätten sie schon die Rente mit 67 oder mit 70 – darüber wollen wir uns jetzt nicht streiten … Wie müsste man denn die Arbeitswelt und vor allen Dingen auch die Gesellschaft umbauen, damit das überhaupt lebbar wäre?
Lessenich: Na ja, ich würde mal sagen, dass vor der Rente – egal ob mit 65, 67, 70, oder vielleicht kommt später auch mal 75 ins Gespräch – niemand Angst haben muss, der in seinem Erwerbsleben gut verdient hat, der noch gesund ist – und das geht ja mit Einkommen jetzt in der statistischen Relation auch einher –, der noch gesundheitlich fit ist wie gesagt, der auch über gute soziale Netzwerke verfügt und so weiter und so fort. Aber all diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist, die müssen sich schon Sorgen machen vor einer Rente mit 67, 70, 75. Deswegen muss man genau schauen, es gibt durchaus privilegierte Schichten, die im Alter gut leben und für die es auch anregend ist, vielleicht sogar erfüllend, länger zu arbeiten.
Und wir müssen nicht nur den Dachdecker bemühen, sondern aus unseren Interviews ergibt sich, dass viele Menschen froh waren, als sie ihren Job verlassen konnten, gerade weil es in den letzten zehn, 15 Jahren Veränderungen im Arbeitsleben gegeben hat, also Beschleunigung, kurzfristigere Taktung von Arbeitsaufgaben, höhere Belastungen, mehr Eigenverantwortung, in Anführungszeichen, was häufig eigentlich auch heißt, mehr Schuldzuschreibung bei der Nichtrealisierung von Unternehmenszielen und so weiter.
Es gab und gibt viele, die auch gerne ausgeschieden sind, die unter anderen Bedingungen, unter anderen Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhältnissen auch gerne länger arbeiten würden. Aber ich denke, wir müssten uns über die Qualität der Arbeit und der Arbeitsbedingungen unterhalten, wenn wir über die Verlängerung der Arbeitszeit sprechen.
Timm: Lassen Sie uns einen Moment noch mal sprechen über die Strukturen! Sie haben vorhin gesagt: Lebensarbeitszeit umbauen. Wäre es nicht auch denkbar, dass man dann in 2025 oder wann immer sagt, okay, jemand, der 30 ist, Kinder hat, vielleicht ein Haus bauen will, unglaublich intensiv damit beschäftigt ist, sein Leben aufzubauen, steckt zurück zugunsten eines Älteren, der sagt, okay, meine Lebenserwartung beträgt ungefähr 85 Jahre, ich bin fit, ich hab Lust, ich mach bis ja 68, 70 oder wie auch immer. Ist so was denkbar oder heißt es dann im Endeffekt doch wieder, es wird schematisch durchgezogen und wer 68 ist, muss sehen, wie er durchkommt?
Lessenich: Also selbstverständlich ist so was denkbar. Ich denke, das steht aber sozusagen unter der Begrenzung von Unternehmensgewinnzielen. Und wir müssten eigentlich eine gesellschaftliche Debatte führen nicht über die Frage, mit 65, 67 oder 68 in Rente, sondern wie gestalten wir das gesamte Erwerbsleben der Menschen? Wir wollen ja auch – oder die Politik will –, dass die Jugendlichen schneller in den Arbeitsmarkt einmünden, deswegen werden Studienzeiten reduziert, die ganze Bachelorreform beruht darauf, dann münden die mit 22 Jahren ein. – Warum sollen die nicht mit 30 oder 35 eine Auszeit nehmen in der Familiengründungsphase und dann später wieder einsetzen?
Also wir sollten uns über diese Flexibilisierung der Gesamtlebensarbeitszeit unterhalten und nicht auf einzelne Daten im Leben schauen. Aber ich glaube, was machbar wäre, ist deswegen nicht machbar, weil hier natürlich nicht eine Debatte über Qualität von Leben geführt wird, sondern über die Produktivität der Wirtschaft und wie können Menschen noch produktiv in die Ökonomie eingebunden werden?
Timm: Qualität von Leben – schönes Stichwort! Viele Menschen über 65, die noch … von denen noch viele schöne Jahre vor sich haben, die arbeiten ehrenamtlich, die hüten die Kinder, die engagieren sich sozial in der Kirche … Das wird doch dann alles sehr viel schmaler sein, wenn sie länger erwerbstätig bleiben?
Lessenich: Gut, wenn wir jetzt über ein, zwei Jahre längere Erwerbstätigkeit reden würden und dann entsprechend verlängerte Lebenserwartung auch bei guter Gesundheit, dann würde sich das einfach nur ein bisschen im Lebenslauf nach hinten verschieben. Das Interessante ist ja tatsächlich, dass es so ist, wie Sie sagen. Einerseits ist es allerdings auch sozialstrukturell unterschiedlich, also gerade die Besserverdienenden machen mehr Ehrenamt und so weiter und so fort.
Aber tatsächlich wird ja in der Politik häufig so getan, dass die Alten nach Erreichen des Ruhestandes tatsächlich dann auch zur Ruhe sich setzen und gar nicht mehr aktiv sind. Und alle Daten zeigen eigentlich, in wie vielfältigen Bereichen die Menschen auch nach ihrer Verrentung noch aktiv sind. All diese Leistungen, die Sie genannt haben, erbringen sie und viele mehr. Und ich denke, da gibt es auch eine bestimmte Schieflage der Debatte, dass jetzt eingefordert wird, die Älteren müssten mehr beitragen zum gesellschaftlichen Gemeinwohl. Sie tun das schon und sie sind nicht nur Empfänger von Rentenzahlung.
Timm: Ganz kurz, Herr Lessenich, zum Schluss: Wo sehen Sie sich mit 70? Arbeitend oder in Rente?
Lessenich: Also ich bin ja Beamter, deren Arbeitsbedingungen werden, auch wenn man das nicht meint, immer schlechter. Das heißt, ich sehe mich mit 70 am Ende meiner Erwerbsarbeitszeit, dann schon ziemlich ausgelaugt, ohne Ideen, dann werde ich glaube ich zwei, drei Jahre eine Auszeit nehmen müssen und dann schaue ich mir das Alter noch mal sozusagen in der Selbstwahrnehmung auch an und befrage mich selbst darauf, ob meine Befunde über die Alten, die wir heute erheben, auch tatsächlich hieb- und stichfest waren.
Timm: Bis dahin ist noch eine ganze Weile hin und wird noch viel geknobelt um die Rente mit 60, 65, 67 oder 70. Stephan Lessenich war das, Soziologe der Uni Jena. Danke für Ihren Besuch im Studio!
Lessenich: Ich bedanke mich!
Stephan Lessenich: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Lessenich, lassen Sie uns mit etwas beginnen, das uns heute fast skurril erscheint: Noch vor ganz wenigen Jahren wurden viele Endfünfziger mit goldenem Handschlag aus den Firmen komplimentiert, um Platz zu machen für die innovativen jungen Leute. Und heute reden wir darüber, welchen Job ein Dachdecker mit 65 machen könnte. Warum ändert sich der Blick auf ältere Arbeitnehmer so dermaßen schnell?
Lessenich: Ich glaube, da trägt einerseits das Bewusstsein mit zu bei, dass wir vor einem radikalen demografischen Wandel stehen. Dieses Bewusstsein ist relativ spät gewachsen hierzulande in der Öffentlichkeit und in der Politik. Und gleichzeitig spielen natürlich eine zentrale Rolle die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung, also zumal der Rentenversicherung unter neuen Altersstrukturbedingungen. Und ich glaube, die Entdeckung des ja fitten, jungen, agilen und produktiven älteren Arbeitnehmers hat mit diesen beiden Strukturwandelsprozessen zu tun.
Timm: Was sind denn nun ältere Arbeitnehmer: Belastung oder Potenzial?
Lessenich: Na ja, sie werden gerne mittlerweile als Potenzial gesehen. Das Interessante ist, dass ältere Arbeitnehmer schon als alt gezeichnet werden in der Debatte, aber sozusagen als Komplement zu den Jungen dann doch ganz gerne gesehen werden und den Unternehmern und Unternehmerinnen suggeriert wird, eine altersgemischte Belegschaft ist eigentlich die beste aller Welten.
Denn seltsamerweise wird den ja doch irgendwie noch jungen älteren Arbeitnehmern dann trotzdem unterstellt, sie seien nicht innovativ, ja sie seien nicht so agil und flexibel wie die Jüngeren, aber sie hätten Erfahrungswissen, sie haben viel gesehen im Betrieb, sie kennen Abläufe, sie haben Ruhe, Gelassenheit und so weiter. Und insofern werden sie schon als Ältere gezeichnet, aber als welche, die im Betrieb durchaus auch noch Funktionen erfüllen können – und das ist eine seltsame Mischung von jungem Alter, aber von jungen Alten, die dennoch als Alte gezeichnet werden, obwohl sie das häufig in der Tat gar nicht sind.
Timm: Machen wir es mal dingfest: Ab wann ist man älter oder alt im Betrieb: 45, 50, 55, 60? Wann geht das los?
Lessenich: Ja das hängt ein bisschen von der Branche ab. Also in der IT-Branche oder in der Medienindustrie ist man deutlich früher alt als in anderen Branchen, also insofern ist das einigermaßen flexibel. Dann muss man natürlich sehen: Es gibt einerseits die Fremdwahrnehmung, also wann halten Betriebe ihre Belegschaft für alt oder Mitglieder ihrer Belegschaft, ab wann wird keine Weiterbildung mehr angeboten oder nicht mehr finanziert? Und die Selbstbeschreibung, ab wann sehen sich die Arbeitnehmerinnen selber als alt? Und das kann mit unterschiedlichen Ereignissen zusammenhängen, dass jemandem eine andere Person vor die Nase gesetzt wird, man keine Aufstiegschancen mehr sieht und deswegen sich als alt fühlt, oder dass die Tätigkeitsprofile sich ändern und man deswegen sich alt fühlt … Also man kann glaube ich nicht einheitlich sagen, ab 45, 50 oder 55 fängt das an.
Timm: Aber Sie haben mit vielen Menschen gesprochen, also jenseits von politischen Vorgaben und Betriebsstrukturen. Wann haben die denn für sich selbst entdeckt: Wir sind alt beziehungsweise wir sind noch nicht alt?
Lessenich: Wir haben in zwei Forschungsprojekten in Jena mit vielen jüngeren Alten und alten Alten gesprochen. Es geht darum, genau zu eruieren, inwiefern sozusagen in Vorausschau die Menschen denken, ab wann werden sie alt sein, und in der Retrospektion, ab wann bin ich denn eigentlich alt gewesen? Und auch das hängt ganz stark mit den individuellen Biografien und Erfahrungen zusammen.
Es gibt dennoch sozusagen einen Konvergenzpunkt, nämlich um die 60. Tatsächlich ist sozusagen von unten gesehen, von den Jüngeren her, wie auch von oben gesehen, von den Älteren, wird häufig um die 60 so dieser Wendepunkt markiert. Das hat einerseits mit Erlebnissen in der Erwerbsarbeit zu tun, andererseits in den Familienverhältnissen.
Und häufig wird gesagt: Ab 60 schaut man in den Spiegel und sieht sich sozusagen altern und fühlt sich innerlich noch jung, hat aber eine Maske des Alters sozusagen, und dann ist es irgendwann unabweisbar, dass man auch von außen als alt wahrgenommen wird.
Timm: Aber das ist doch eigentlich erstaunlich: Da steht doch die heutige Arbeitswelt der heutigen Lebenswelt entgegen, in der kein Mensch alt sein will. Wenn man auf die Werbung guckt, ist man Best Ager, und wenn es dann über 60 geht, ist man vielleicht noch Silver Ager, aber alt ist man nie.
Lessenich: Na ja es gibt Verlogenheiten in dieser Debatte, möchte ich mal sagen, auf allen Ebenen. Also bei den Subjekten selbst, bei den Menschen, weil natürlich möchte jeder alt werden, aber alt sein nicht wirklich, also auch nicht sich alt fühlen und all das zu fühlen, was man damit verbindet. Es gibt Verlogenheiten in dieser Rentendebatte, weil einerseits sieht es so aus, als wäre das eine unabweisbare Wahrheit: Klar, wenn wir älter werden, dann sollten wir auch länger arbeiten.
Aber eigentlich geht es ja um die Frage: Wie viel Jahre soll jemand in seiner Biografie arbeiten, 35, 40, 45, und das kann ja über die Lebenszeit auch durchaus flexibel verteilt sein, also man müsste über den gesamten Arbeitsprozess eigentlich nachdenken, und nicht nur übers Rentenalter. Und auch bei der Frage, wo das Alter anfängt, habe ich ja eben schon mal betont, gibt es unglaubliche Zweideutigkeiten, dass nämlich die älteren Arbeitnehmer irgendwie schon als jung, aber trotzdem auch als alt und andersartig gesehen werden.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", der Soziologe Stephan Lessenich hat intensiv über ältere Erwerbstätige geforscht. Im Gespräch mit Ihnen, Herr Lessenich, stellen wir uns mal vor, wir hätten sie schon die Rente mit 67 oder mit 70 – darüber wollen wir uns jetzt nicht streiten … Wie müsste man denn die Arbeitswelt und vor allen Dingen auch die Gesellschaft umbauen, damit das überhaupt lebbar wäre?
Lessenich: Na ja, ich würde mal sagen, dass vor der Rente – egal ob mit 65, 67, 70, oder vielleicht kommt später auch mal 75 ins Gespräch – niemand Angst haben muss, der in seinem Erwerbsleben gut verdient hat, der noch gesund ist – und das geht ja mit Einkommen jetzt in der statistischen Relation auch einher –, der noch gesundheitlich fit ist wie gesagt, der auch über gute soziale Netzwerke verfügt und so weiter und so fort. Aber all diejenigen, bei denen das nicht der Fall ist, die müssen sich schon Sorgen machen vor einer Rente mit 67, 70, 75. Deswegen muss man genau schauen, es gibt durchaus privilegierte Schichten, die im Alter gut leben und für die es auch anregend ist, vielleicht sogar erfüllend, länger zu arbeiten.
Und wir müssen nicht nur den Dachdecker bemühen, sondern aus unseren Interviews ergibt sich, dass viele Menschen froh waren, als sie ihren Job verlassen konnten, gerade weil es in den letzten zehn, 15 Jahren Veränderungen im Arbeitsleben gegeben hat, also Beschleunigung, kurzfristigere Taktung von Arbeitsaufgaben, höhere Belastungen, mehr Eigenverantwortung, in Anführungszeichen, was häufig eigentlich auch heißt, mehr Schuldzuschreibung bei der Nichtrealisierung von Unternehmenszielen und so weiter.
Es gab und gibt viele, die auch gerne ausgeschieden sind, die unter anderen Bedingungen, unter anderen Arbeitsbedingungen, Arbeitsverhältnissen auch gerne länger arbeiten würden. Aber ich denke, wir müssten uns über die Qualität der Arbeit und der Arbeitsbedingungen unterhalten, wenn wir über die Verlängerung der Arbeitszeit sprechen.
Timm: Lassen Sie uns einen Moment noch mal sprechen über die Strukturen! Sie haben vorhin gesagt: Lebensarbeitszeit umbauen. Wäre es nicht auch denkbar, dass man dann in 2025 oder wann immer sagt, okay, jemand, der 30 ist, Kinder hat, vielleicht ein Haus bauen will, unglaublich intensiv damit beschäftigt ist, sein Leben aufzubauen, steckt zurück zugunsten eines Älteren, der sagt, okay, meine Lebenserwartung beträgt ungefähr 85 Jahre, ich bin fit, ich hab Lust, ich mach bis ja 68, 70 oder wie auch immer. Ist so was denkbar oder heißt es dann im Endeffekt doch wieder, es wird schematisch durchgezogen und wer 68 ist, muss sehen, wie er durchkommt?
Lessenich: Also selbstverständlich ist so was denkbar. Ich denke, das steht aber sozusagen unter der Begrenzung von Unternehmensgewinnzielen. Und wir müssten eigentlich eine gesellschaftliche Debatte führen nicht über die Frage, mit 65, 67 oder 68 in Rente, sondern wie gestalten wir das gesamte Erwerbsleben der Menschen? Wir wollen ja auch – oder die Politik will –, dass die Jugendlichen schneller in den Arbeitsmarkt einmünden, deswegen werden Studienzeiten reduziert, die ganze Bachelorreform beruht darauf, dann münden die mit 22 Jahren ein. – Warum sollen die nicht mit 30 oder 35 eine Auszeit nehmen in der Familiengründungsphase und dann später wieder einsetzen?
Also wir sollten uns über diese Flexibilisierung der Gesamtlebensarbeitszeit unterhalten und nicht auf einzelne Daten im Leben schauen. Aber ich glaube, was machbar wäre, ist deswegen nicht machbar, weil hier natürlich nicht eine Debatte über Qualität von Leben geführt wird, sondern über die Produktivität der Wirtschaft und wie können Menschen noch produktiv in die Ökonomie eingebunden werden?
Timm: Qualität von Leben – schönes Stichwort! Viele Menschen über 65, die noch … von denen noch viele schöne Jahre vor sich haben, die arbeiten ehrenamtlich, die hüten die Kinder, die engagieren sich sozial in der Kirche … Das wird doch dann alles sehr viel schmaler sein, wenn sie länger erwerbstätig bleiben?
Lessenich: Gut, wenn wir jetzt über ein, zwei Jahre längere Erwerbstätigkeit reden würden und dann entsprechend verlängerte Lebenserwartung auch bei guter Gesundheit, dann würde sich das einfach nur ein bisschen im Lebenslauf nach hinten verschieben. Das Interessante ist ja tatsächlich, dass es so ist, wie Sie sagen. Einerseits ist es allerdings auch sozialstrukturell unterschiedlich, also gerade die Besserverdienenden machen mehr Ehrenamt und so weiter und so fort.
Aber tatsächlich wird ja in der Politik häufig so getan, dass die Alten nach Erreichen des Ruhestandes tatsächlich dann auch zur Ruhe sich setzen und gar nicht mehr aktiv sind. Und alle Daten zeigen eigentlich, in wie vielfältigen Bereichen die Menschen auch nach ihrer Verrentung noch aktiv sind. All diese Leistungen, die Sie genannt haben, erbringen sie und viele mehr. Und ich denke, da gibt es auch eine bestimmte Schieflage der Debatte, dass jetzt eingefordert wird, die Älteren müssten mehr beitragen zum gesellschaftlichen Gemeinwohl. Sie tun das schon und sie sind nicht nur Empfänger von Rentenzahlung.
Timm: Ganz kurz, Herr Lessenich, zum Schluss: Wo sehen Sie sich mit 70? Arbeitend oder in Rente?
Lessenich: Also ich bin ja Beamter, deren Arbeitsbedingungen werden, auch wenn man das nicht meint, immer schlechter. Das heißt, ich sehe mich mit 70 am Ende meiner Erwerbsarbeitszeit, dann schon ziemlich ausgelaugt, ohne Ideen, dann werde ich glaube ich zwei, drei Jahre eine Auszeit nehmen müssen und dann schaue ich mir das Alter noch mal sozusagen in der Selbstwahrnehmung auch an und befrage mich selbst darauf, ob meine Befunde über die Alten, die wir heute erheben, auch tatsächlich hieb- und stichfest waren.
Timm: Bis dahin ist noch eine ganze Weile hin und wird noch viel geknobelt um die Rente mit 60, 65, 67 oder 70. Stephan Lessenich war das, Soziologe der Uni Jena. Danke für Ihren Besuch im Studio!
Lessenich: Ich bedanke mich!