Über die Feigheit
Ohne Courage keine Tugend; Mut ist die Voraussetzung aller Tugend. Nur wer sich aus dem behaglichen Zustand seines Sentiments herauswagt, kann sich überhaupt als gerecht, besonnen oder wohlwollend beweisen. Regiert dagegen die Feigheit, kann man auf moralische Fortschritte lange warten.
Feigheit ist kein Laster, sondern eine Untugend, ein Mangel an moralischer Willensstärke. Laster entspringen der animalischen Natur des Menschen, Untugenden haben ihren Grund in fehlender Selbstbeherrschung. Der Feigling meidet jedes Hindernis. Wo es darauf ankommt, sucht er das Weite. Er weicht aus, duckt sich ab, sucht zu verschwinden. Entbrennt ein Streit, gibt er Fersengeld. Wittert er Widerspruch, flüchtet er in Lügen und Beschönigung. Entscheidungen vertagt er, und falls sie nicht mehr zu vermeiden sind, wartet er ab, bis alle zugestimmt haben. Auf Angriffe reagiert er mit Wehgeheul. Sich selbst als Opfer zu stilisieren, taugte schon immer zur Maskierung des Kleinmuts.
Feigheit ist ein Zustand tiefster Unfreiheit. Sie liefert den Menschen der Angst aus. Wer die Courage diffamiert, rechtfertigt das Zwangsgehäuse der Angst. Wie bescheiden die moralischen Ansprüche gegenwärtig sind, lässt sich schon daraus ersehen, dass Feigheit häufig zum Beweis von Klugheit umgedeutet wird. Auf dem aktuellen Markt der Moral muss ein Hasenherz kaum Verachtung fürchten. Ritterlichkeit gar, diese Tugend der Ehre, kennt man nicht einmal mehr vom Hörensagen. Man hält sie für ein Relikt des Ancien Regime. Aber alles Gerede von Solidarität oder Gerechtigkeit ist nichts wert, wenn niemand bereit ist, für den Schwachen etwas zu riskieren. Immer sollen es die anderen richten: die Gesellschaft, der Staat, die Schule. Und immer sind andere schuld am erbärmlichen Zustand des Gemeinwesens: die Regierung, die Rebellen von einst, die Reichen von heute.
Im System der Natur ist der Mensch ein Wesen von geringer Bedeutung. Mit vielen Tieren teilt er die Kriecherei auf Bodenhöhe. Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, und sei es aus Demut vor himmlischen Gegenständen, ist der Menschenwürde zuwider. Aufrechten Gang erlangt das Lebewesen erst als Person, die sich selbst Pflichten auferlegt. Indem der Mensch Abstand zu sich, zu seinen Affekten und Leidenschaften gewinnt, erlangt er innere Freiheit. Indem er seinen Fluchtimpuls überwindet, zeigt er Würde. Einbilden braucht er sich darauf nichts. Zu Tugendstolz besteht kein Anlass. Selbstgerechtigkeit kaschiert meist nur Duckmäusertum.
Feigheit und Faulheit sind die Ursachen aller Unmündigkeit. Nicht bösartige gesellschaftliche Verhältnisse, nicht das marode Erziehungswesen, nicht die säkulare Entwertung christlicher Werte sind dafür verantwortlich, dass Menschen in den Dämmerschlaf des Konformismus sinken. Unmündigkeit ist selbstverschuldet. Viele Menschen bevorzugen die bequeme Unselbständigkeit. Sie sind zu faul, sich ihrer Verstandesgaben zu bedienen; und sie sind zu feige, einen eigenen Gedanken gegen Widerspruch zu verteidigen. Ohne Übung im Gebrauch der Vernunft, in der Kunst des Streits, ist keine Mündigkeit zu haben. Keine Änderung der Sitten und keine Schulreform wird jemals die Feigheit vertreiben, sondern nur eine persönliche Revolution der Gesinnung. Gewiss sind feige Hunde oft mit dem Maul am freiesten. Sie kuschen sofort, wenn das Handeln beginnt. Aber wer kein freies Maul vorweisen kann, ist nicht einmal ein feiger Hund.
Die unerfreulichste Folge der Feigheit ist ihr Hang zur Grausamkeit. Mit besonderer Vorliebe tobt sie sich an Schwachen und Außenseitern aus. In der Horde der Prügler, in der Masse der Johlenden finden viele Feiglinge zusammen. Gemeinsam fühlen sie sich stark, und oft tut sich unter dem Schutzschirm der Vielen derjenige besonders hervor, der es allein niemals wagen würde, auch nur den Arm zu heben. In der Menge gleicht der Feigling fehlende moralische Willenskraft durch brutale Körperkraft aus. Ein großer Haufen Hasenfüße, sagt ein chinesisches Wort, vollbringt niemals eine Heldentat; aber unter ihresgleichen, so muss man hinzufügen, vollbringen Angsthasen jede Schandtat.
Feigheit wird begünstigt durch unklare Erwartungen. Ohne Widerspruch, ohne Barrieren kommt niemand zu Willenskräften. Wer nur unter Gleichgesinnten und Gleichgestellten verkehrt, wird rasch zum Jasager. Homogene soziale oder intellektuelle Milieus lassen die Urteilskraft verkümmern. Der populäre Hedonismus verachtet ohnehin jede moralische Nötigung. Er verwechselt Glück mit promptem Lustgewinn. Dabei ist das wahre Ziel jedes Hedonismus nicht das Vergnügen, sondern die Freiheit von Schmerz, jenes Gefühl innerer Ruhe, das sich einstellt, wenn man sich eins weiß mit dem Gesetz, das man sich selbst auferlegt hat. Lust ist weder Lohn noch Beweggrund der Tugend, sondern allenfalls eine angenehme Zugabe.
Demokratien können die Feigheit unmöglich eindämmen. Sie begünstigen die Anpassung an die Mehrheit. Diejenige politische Fraktion hat auf Dauer Erfolg, die dem Volke nach dem Munde redet. Zwar ersparen Demokratien große Heldentaten des Widerstands. Aber die Herrschaft der Mehrzahl fördert Passivität und Kleinmut. Die Risiken des Streits sind nur Sache weniger. Unpopuläre Argumente kosten Geld, Karriere und Ansehen. Zwar reklamiert jeder für sich Originalität und Verlässlichkeit. Doch wenn es zur Entscheidung kommt, flüchtet die Mehrheit in den Hort umfassender Allianzen, in die Gemeinschaft der Demokraten, der Rechtgläubigen und Wohlgesonnenen, in die große Koalition aller Mutlosen, die, anstatt die Übel an der Wurzel zu packen, gemeinsam die bängliche Litanei anstimmen vom Niedergang der Tugend.
Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".
Feigheit ist ein Zustand tiefster Unfreiheit. Sie liefert den Menschen der Angst aus. Wer die Courage diffamiert, rechtfertigt das Zwangsgehäuse der Angst. Wie bescheiden die moralischen Ansprüche gegenwärtig sind, lässt sich schon daraus ersehen, dass Feigheit häufig zum Beweis von Klugheit umgedeutet wird. Auf dem aktuellen Markt der Moral muss ein Hasenherz kaum Verachtung fürchten. Ritterlichkeit gar, diese Tugend der Ehre, kennt man nicht einmal mehr vom Hörensagen. Man hält sie für ein Relikt des Ancien Regime. Aber alles Gerede von Solidarität oder Gerechtigkeit ist nichts wert, wenn niemand bereit ist, für den Schwachen etwas zu riskieren. Immer sollen es die anderen richten: die Gesellschaft, der Staat, die Schule. Und immer sind andere schuld am erbärmlichen Zustand des Gemeinwesens: die Regierung, die Rebellen von einst, die Reichen von heute.
Im System der Natur ist der Mensch ein Wesen von geringer Bedeutung. Mit vielen Tieren teilt er die Kriecherei auf Bodenhöhe. Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, und sei es aus Demut vor himmlischen Gegenständen, ist der Menschenwürde zuwider. Aufrechten Gang erlangt das Lebewesen erst als Person, die sich selbst Pflichten auferlegt. Indem der Mensch Abstand zu sich, zu seinen Affekten und Leidenschaften gewinnt, erlangt er innere Freiheit. Indem er seinen Fluchtimpuls überwindet, zeigt er Würde. Einbilden braucht er sich darauf nichts. Zu Tugendstolz besteht kein Anlass. Selbstgerechtigkeit kaschiert meist nur Duckmäusertum.
Feigheit und Faulheit sind die Ursachen aller Unmündigkeit. Nicht bösartige gesellschaftliche Verhältnisse, nicht das marode Erziehungswesen, nicht die säkulare Entwertung christlicher Werte sind dafür verantwortlich, dass Menschen in den Dämmerschlaf des Konformismus sinken. Unmündigkeit ist selbstverschuldet. Viele Menschen bevorzugen die bequeme Unselbständigkeit. Sie sind zu faul, sich ihrer Verstandesgaben zu bedienen; und sie sind zu feige, einen eigenen Gedanken gegen Widerspruch zu verteidigen. Ohne Übung im Gebrauch der Vernunft, in der Kunst des Streits, ist keine Mündigkeit zu haben. Keine Änderung der Sitten und keine Schulreform wird jemals die Feigheit vertreiben, sondern nur eine persönliche Revolution der Gesinnung. Gewiss sind feige Hunde oft mit dem Maul am freiesten. Sie kuschen sofort, wenn das Handeln beginnt. Aber wer kein freies Maul vorweisen kann, ist nicht einmal ein feiger Hund.
Die unerfreulichste Folge der Feigheit ist ihr Hang zur Grausamkeit. Mit besonderer Vorliebe tobt sie sich an Schwachen und Außenseitern aus. In der Horde der Prügler, in der Masse der Johlenden finden viele Feiglinge zusammen. Gemeinsam fühlen sie sich stark, und oft tut sich unter dem Schutzschirm der Vielen derjenige besonders hervor, der es allein niemals wagen würde, auch nur den Arm zu heben. In der Menge gleicht der Feigling fehlende moralische Willenskraft durch brutale Körperkraft aus. Ein großer Haufen Hasenfüße, sagt ein chinesisches Wort, vollbringt niemals eine Heldentat; aber unter ihresgleichen, so muss man hinzufügen, vollbringen Angsthasen jede Schandtat.
Feigheit wird begünstigt durch unklare Erwartungen. Ohne Widerspruch, ohne Barrieren kommt niemand zu Willenskräften. Wer nur unter Gleichgesinnten und Gleichgestellten verkehrt, wird rasch zum Jasager. Homogene soziale oder intellektuelle Milieus lassen die Urteilskraft verkümmern. Der populäre Hedonismus verachtet ohnehin jede moralische Nötigung. Er verwechselt Glück mit promptem Lustgewinn. Dabei ist das wahre Ziel jedes Hedonismus nicht das Vergnügen, sondern die Freiheit von Schmerz, jenes Gefühl innerer Ruhe, das sich einstellt, wenn man sich eins weiß mit dem Gesetz, das man sich selbst auferlegt hat. Lust ist weder Lohn noch Beweggrund der Tugend, sondern allenfalls eine angenehme Zugabe.
Demokratien können die Feigheit unmöglich eindämmen. Sie begünstigen die Anpassung an die Mehrheit. Diejenige politische Fraktion hat auf Dauer Erfolg, die dem Volke nach dem Munde redet. Zwar ersparen Demokratien große Heldentaten des Widerstands. Aber die Herrschaft der Mehrzahl fördert Passivität und Kleinmut. Die Risiken des Streits sind nur Sache weniger. Unpopuläre Argumente kosten Geld, Karriere und Ansehen. Zwar reklamiert jeder für sich Originalität und Verlässlichkeit. Doch wenn es zur Entscheidung kommt, flüchtet die Mehrheit in den Hort umfassender Allianzen, in die Gemeinschaft der Demokraten, der Rechtgläubigen und Wohlgesonnenen, in die große Koalition aller Mutlosen, die, anstatt die Übel an der Wurzel zu packen, gemeinsam die bängliche Litanei anstimmen vom Niedergang der Tugend.
Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".