Über die Gleichgültigkeit
Sie sind weder gut noch böse und leben ohne Schmach und ohne Ehre. Die Welt spricht nicht von ihnen, dem Recht und Mitleid sind sie gleich verhasst. Zu Laster oder Tugend fehlt ihnen die Energie. Sie entschließen sich weder für noch gegen etwas. Sie weigern sich nämlich, ein Gut zu wählen aus Angst, ein anderes dadurch zu versäumen.
Ihre Sinne sind blind, ihre Moral ist stumpf. Was immer geschieht, es kümmert sie wenig. Dies sind die Lauen und Unentschlossenen im Lande, die Menschen ohne Leidenschaft, die Gleichgültigen. Der Ort ihrer Bestimmung ist übervölkert, denn ihre Zahl ist unermesslich. In der Vorhölle gehen sie hinter einer Standarte her - unablässig im Kreise. Sie bringen nichts zustande, und sie kommen nirgendwo an.
Man trifft die Gleichgültigkeit, wo die Routine vorherrscht und Risiken verpönt sind. In den Amtsstuben wird Fall für Fall der Aktenberg abgearbeitet. In den Werkshallen wird nach derselben Schablone Stück für Stück gefertigt. In Schulen und Hochschulen wird Jahr für Jahr derselbe Lehrplan absolviert. Manche Medien langweilen ihr Publikum tagtäglich mit den gleichen Belanglosigkeiten. Und von der Politik vernimmt man allezeit dieselben Floskeln. Die Gleichgültigkeit kennt keine politische Farbe. Sie ist weder ein Luxus- noch ein Armutsphänomen. Sie durchzieht alle Klassen und Parteien.
Zweifellos entlastet die Routine Körper und Geist. Sie erspart neue Gedanken und Taten. Aber endlose Gewohnheiten lassen Sinne und Affekte verkümmern. Gleicht ein Tag dem anderen, dann ist alles gleich wenig wert. In der leeren Zeit erregt nichts die Aufmerksamkeit, denn die Hauptquelle der Gleichgültigkeit ist der Überdruss. Dieses Übel liegt weniger am Zustand der Welt als in den Menschen selbst. Sie erkennen immer nur die Wiederkehr des Gleichen.
Nicht äußere Reizüberflutung erzeugt ihren Widerwillen, sondern das Gefühl des Stillstands, der Wiederholung im Leerlauf. Überdruss ist keine Faulheit, denn diese ist dem Eifer entgegengesetzt. Der Indifferente erfüllt durchaus die Vorschrift, weil Fehler ihm zusätzliche Korrekturarbeit machen würden. Das Gegenteil der Indifferenz ist der wache Sinn, die Courage des Urteilens und Handelns.
Gleichgültigkeit kommt selten allein. Sie gebiert Tochtersünden, mit denen sie sich zu einem Syndrom vereint. Ein finsterer Groll bemächtigt sich des Gemüts, lähmende Verzagtheit paart sich mit einer Gefühllosigkeit, welche die Gedanken immerzu abschweifen lässt, weil der Geist von nichts mehr gefesselt wird.
Zum ästhetischen Stumpfsinn gesellt sich die moralische Verödung. Geschieht nebenan eine Untat oder ein Unglück, zuckt der Gleichgültige resigniert die Schultern und geht weiter. Er will so bleiben, wie er ist. Man könne ohnehin nichts ändern, lautet seine Ausrede. Fremdes Unglück beobachtet er aus sicherer Entfernung, von der Gegenfahrbahn, hinter vorgezogenen Gardinen, vor dem Fernseher, aber es berührt ihn nicht. Mit Kaltschnäuzigkeit hat das nichts zu tun.
Ein Zyniker, der noch über das ärgste Unheil Witze reißt, sucht sich die Sache vom Leib zu halten. Dem Gleichgültigen indes fehlt die Kälte des Beobachters, dem nichts entgeht. Er ist bereits von einem Panzer umschlossen, durch den kaum etwas hindurchdringt. Ihm ist alles gleich. Das Unheil ist ihm nur ein Geräusch im Hintergrund.
Gelegentlich macht Gleichgültigkeit Arbeit. Zwar sind Indifferenz und Ignoranz unverzichtbar, um sich auf etwas konzentrieren oder sich überhaupt für etwas entscheiden zu können. Wer alle Folgen seines Tuns bedächte, der müsste das Handeln sofort einstellen. Wer sich für die gesamte Menschheit verantwortlich fühlt, vergisst meist seine Nachbarn. Die Rüstung des Unbeteiligten jedoch, der nichts bemerken will, was ihn selbst betreffen könnte, muss häufig ausgebessert und verstärkt werden.
Um sich herauszuhalten, muss man so tun, als sei man blind. Dafür aber muss man sehen, was man nicht sehen will. Der Gleichgültige ist mitnichten ahnungslos. Er weiß so viel, wie er wissen will. Was er nicht weiß, das will er nicht wissen. Das aber heißt, dass er sehr wohl genug weiß, um zu wissen, was er nicht wissen will.
Bevor jeder moralische Sinn dahin ist, muss das Gewissen, dieses Sensorium für Pflicht, Schuld und Verpflichtung, gedämpft, beruhigt, betäubt werden. Hierzu eignen sich zwei Maßnahmen, die sich großer Beliebtheit erfreuen: die Spende und der erregte Alarmruf. Wohltätigkeit wird so dosiert, dass sie nichts kostet, dafür aber den eigenen Helferstolz aufbessert.
Niemand will sich Hartherzigkeit oder fehlende Menschenliebe nachsagen lassen. In Wahrheit ist das pekuniäre Mitleid weniger eine Herzenssache als ein Elixier sozialer Imagepflege und eigener Seelenhygiene. Trotz großer Worte hält sich die Nächstenliebe in Grenzen. Chronische Katastrophen wie Hungersnöte, Seuchen oder Bürgerkriege pflegt man kaum wahrzunehmen. Sie berühren die Bewohner der Wohlstandsinseln nicht im geringsten. Zehntausend Tote irgendwo – wen kümmert's? Das gilt dem Gleichgültigen als normale Verlustquote des Gattungswesens.
Die Spende beruhigt das Gemüt nachträglich, der Alarmruf warnt vor naher Gefahr, damit man sich rechtzeitig taub stellen kann. Die vorgespiegelte Entrüstung dient auch dazu, die eigene Selbstgerechtigkeit aufzurüsten. An den großen und kleineren Übeln des Globus sind stets die anderen, sind böse, unsichtbare Großmächte schuld. Doch kaschiert die weithin gepflegte Empörungsbereitschaft nur die Gleichgültigkeit. Entrüstung kostet nichts, und die Anklage rechtfertigt eigene Untätigkeit.
In die Grauzone der Wirklichkeit, wo nur wenig mit rechten Dingen zugeht, aber alles auf das eigene Tun ankommt, begibt man sich erst gar nicht. Lieber legt man erschüttert die sauberen Hände in den Schoß. Feige Passivität erhält so die Weihe moralischer Lauterkeit. Am Ende entpuppt sich der Gleichgültige als Heuchler und Lügner. Für ihn ist in der Hölle längst der achte Kreis reserviert.
Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u. a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".
Man trifft die Gleichgültigkeit, wo die Routine vorherrscht und Risiken verpönt sind. In den Amtsstuben wird Fall für Fall der Aktenberg abgearbeitet. In den Werkshallen wird nach derselben Schablone Stück für Stück gefertigt. In Schulen und Hochschulen wird Jahr für Jahr derselbe Lehrplan absolviert. Manche Medien langweilen ihr Publikum tagtäglich mit den gleichen Belanglosigkeiten. Und von der Politik vernimmt man allezeit dieselben Floskeln. Die Gleichgültigkeit kennt keine politische Farbe. Sie ist weder ein Luxus- noch ein Armutsphänomen. Sie durchzieht alle Klassen und Parteien.
Zweifellos entlastet die Routine Körper und Geist. Sie erspart neue Gedanken und Taten. Aber endlose Gewohnheiten lassen Sinne und Affekte verkümmern. Gleicht ein Tag dem anderen, dann ist alles gleich wenig wert. In der leeren Zeit erregt nichts die Aufmerksamkeit, denn die Hauptquelle der Gleichgültigkeit ist der Überdruss. Dieses Übel liegt weniger am Zustand der Welt als in den Menschen selbst. Sie erkennen immer nur die Wiederkehr des Gleichen.
Nicht äußere Reizüberflutung erzeugt ihren Widerwillen, sondern das Gefühl des Stillstands, der Wiederholung im Leerlauf. Überdruss ist keine Faulheit, denn diese ist dem Eifer entgegengesetzt. Der Indifferente erfüllt durchaus die Vorschrift, weil Fehler ihm zusätzliche Korrekturarbeit machen würden. Das Gegenteil der Indifferenz ist der wache Sinn, die Courage des Urteilens und Handelns.
Gleichgültigkeit kommt selten allein. Sie gebiert Tochtersünden, mit denen sie sich zu einem Syndrom vereint. Ein finsterer Groll bemächtigt sich des Gemüts, lähmende Verzagtheit paart sich mit einer Gefühllosigkeit, welche die Gedanken immerzu abschweifen lässt, weil der Geist von nichts mehr gefesselt wird.
Zum ästhetischen Stumpfsinn gesellt sich die moralische Verödung. Geschieht nebenan eine Untat oder ein Unglück, zuckt der Gleichgültige resigniert die Schultern und geht weiter. Er will so bleiben, wie er ist. Man könne ohnehin nichts ändern, lautet seine Ausrede. Fremdes Unglück beobachtet er aus sicherer Entfernung, von der Gegenfahrbahn, hinter vorgezogenen Gardinen, vor dem Fernseher, aber es berührt ihn nicht. Mit Kaltschnäuzigkeit hat das nichts zu tun.
Ein Zyniker, der noch über das ärgste Unheil Witze reißt, sucht sich die Sache vom Leib zu halten. Dem Gleichgültigen indes fehlt die Kälte des Beobachters, dem nichts entgeht. Er ist bereits von einem Panzer umschlossen, durch den kaum etwas hindurchdringt. Ihm ist alles gleich. Das Unheil ist ihm nur ein Geräusch im Hintergrund.
Gelegentlich macht Gleichgültigkeit Arbeit. Zwar sind Indifferenz und Ignoranz unverzichtbar, um sich auf etwas konzentrieren oder sich überhaupt für etwas entscheiden zu können. Wer alle Folgen seines Tuns bedächte, der müsste das Handeln sofort einstellen. Wer sich für die gesamte Menschheit verantwortlich fühlt, vergisst meist seine Nachbarn. Die Rüstung des Unbeteiligten jedoch, der nichts bemerken will, was ihn selbst betreffen könnte, muss häufig ausgebessert und verstärkt werden.
Um sich herauszuhalten, muss man so tun, als sei man blind. Dafür aber muss man sehen, was man nicht sehen will. Der Gleichgültige ist mitnichten ahnungslos. Er weiß so viel, wie er wissen will. Was er nicht weiß, das will er nicht wissen. Das aber heißt, dass er sehr wohl genug weiß, um zu wissen, was er nicht wissen will.
Bevor jeder moralische Sinn dahin ist, muss das Gewissen, dieses Sensorium für Pflicht, Schuld und Verpflichtung, gedämpft, beruhigt, betäubt werden. Hierzu eignen sich zwei Maßnahmen, die sich großer Beliebtheit erfreuen: die Spende und der erregte Alarmruf. Wohltätigkeit wird so dosiert, dass sie nichts kostet, dafür aber den eigenen Helferstolz aufbessert.
Niemand will sich Hartherzigkeit oder fehlende Menschenliebe nachsagen lassen. In Wahrheit ist das pekuniäre Mitleid weniger eine Herzenssache als ein Elixier sozialer Imagepflege und eigener Seelenhygiene. Trotz großer Worte hält sich die Nächstenliebe in Grenzen. Chronische Katastrophen wie Hungersnöte, Seuchen oder Bürgerkriege pflegt man kaum wahrzunehmen. Sie berühren die Bewohner der Wohlstandsinseln nicht im geringsten. Zehntausend Tote irgendwo – wen kümmert's? Das gilt dem Gleichgültigen als normale Verlustquote des Gattungswesens.
Die Spende beruhigt das Gemüt nachträglich, der Alarmruf warnt vor naher Gefahr, damit man sich rechtzeitig taub stellen kann. Die vorgespiegelte Entrüstung dient auch dazu, die eigene Selbstgerechtigkeit aufzurüsten. An den großen und kleineren Übeln des Globus sind stets die anderen, sind böse, unsichtbare Großmächte schuld. Doch kaschiert die weithin gepflegte Empörungsbereitschaft nur die Gleichgültigkeit. Entrüstung kostet nichts, und die Anklage rechtfertigt eigene Untätigkeit.
In die Grauzone der Wirklichkeit, wo nur wenig mit rechten Dingen zugeht, aber alles auf das eigene Tun ankommt, begibt man sich erst gar nicht. Lieber legt man erschüttert die sauberen Hände in den Schoß. Feige Passivität erhält so die Weihe moralischer Lauterkeit. Am Ende entpuppt sich der Gleichgültige als Heuchler und Lügner. Für ihn ist in der Hölle längst der achte Kreis reserviert.
Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u. a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".