Über die Habgier

Von Wolfgang Sofsky |
Gierig und vergnügungssüchtig war der König, als er sich von seinem Gott erbat, dass alles, was sein Leib berührte, zu Gold werden solle. Da verwandelte sich der Zweig, den er vom Baum brach, augenblicklich in zartes Blattgold; ein Stein, den er von der Erde hob, ward zum funkelnden Klumpen.
Beim Festmahl griff er nach dem Brot - es war steinhart; das Fleisch im Munde klirrte zwischen den Zähnen, der Wein rann ihm als flüssiges Gold in die Kehle. Auf einmal konnte er Hunger und Durst nicht mehr stillen. Ein elender Tod wäre ihm gewiss gewesen, hätte Dionysos die Bitte des reumütigen Toren nicht erhört und ihn vom Fluch der Habsucht befreit.

Dass König Midas der Hungertod erspart blieb, lag nicht nur an der Gnade der alten Götter. Die Habgier war noch keine Todsünde, kein böser Tanz um irdische Götzen, kein Verstoß wider die soziale Gerechtigkeit, sondern nur eine persönliche Narretei. Dem Süchtigen drohten keine Höllenqualen, keine öffentliche Schändung und keine üble Nachrede. Er war nicht des Teufels, und er verstieß auch nicht gegen die Gesetze der Gleichheit. Nur von Torheit war er geschlagen, denn er verkannte den Wert von Dingen, die sich nicht in Geld verwandeln und in Schatztruhen horten lassen.

Die spätchristliche und postsozialistische Polemik der Gegenwart ist mit der Habgier weniger nachsichtig. Sie stellt die Übeltäter an den Pranger: erfolgreiche Manager, korrupte Beamte und Funktionäre, überbezahlte Ex-Kanzler, Fußballstars oder müßige Partygänger. Unerbittlich ist Volkes Meinung. Wer mehr hat als der Durchschnitt, gerät sogleich in den Verdacht persönlicher Habsucht.

Wo die Ideologie der Gleichheit regiert, gilt die Verteilung des Reichtums als moralische Grundsatzfrage. Sogar den Kapitalismus hält man für ein System der Habgier, obwohl seine Triebfeder nicht persönliche Gewinnsucht, sondern die Angst vor dem ökonomischen Tod, der Zwang zur unendlichen Akkumulation ist.

Habgier ist unersättlich. Sie kennt kein Ende. Die Sammlung ist niemals vollständig, die Schatztruhe niemals groß genug. Der Geldprotz will immer mehr, will sich alles einverleiben. Habsucht ist nichts anderes als Völlerei mittels unverdaulicher Güter. Eine heimliche Angst treibt den Gierigen an, die Angst, es könne ihm etwas entgehen, er könne zu kurz kommen, er verlöre allen Grund unter den Füßen, wenn er sich nicht rechtzeitig alles gesichert hat. Die ungewisse Zukunft schürt die Versorgungsgier. All seine Energie verwendet der Habsüchtige auf die Sicherung des künftigen Daseins. Um dem befürchteten Elend zu entkommen, hetzt er sich zu Tode. Aber über der Vorsorge für alle Möglichkeiten vergisst er das Leben in der Wirklichkeit.

Habsucht kostet Arbeit und Mühe. Sie ist eine ziemlich aktive Untugend. Während Geiz und Knauserei nur Entsagung und Unterlassung verlangen, fordert Raffgier ständiges Handeln. Der Habsüchtige will nicht behalten, was er hat, er will das Erlangte vermehren. Was immer in seiner Reichweite liegt, er verschmäht nichts. Gezielter Erwerb ist ihm fremd. Denn dies verlangte ein klares Bewusstsein vom Wert des Unterschieds. Der Habgierige indes hortet wahllos. Der Wert der Dinge ist ihm gleichgültig. Daher rührt seine Vorliebe für das Geld, dieses Medium ohne Eigenschaften, für das man alles haben kann.

Gefördert wird Raffgier durch soziale Rivalität. Da er selbst nur wenig vorzuweisen hat, befriedigt der Prahlhans seine sozialen Sehnsüchte durch die Anhäufung materieller Güter. Der Anschein des Kostspieligen ersetzt ihm Status und Anerkennung. Die gute Gesellschaft hat den Emporkömmling zwar immer verachtet, doch war der demonstrative Konsum stets mehr als die Selbstdarstellung von Reichtum. Im Parvenu nagt das Ressentiment dessen, der zu kurz gekommen ist. Auch wenn er oben anlangt, kann er nicht aufhören, "kann er den Hals nicht voll genug bekommen". Die Sucht hält ihn weiter im Griff.

Die populäre Ächtung der Habsucht verkleidet sich heute gerne als Kritik des Massenkonsums. Die Rhetorik mag wechseln, doch der Vorwurf ist stets derselbe: Konsum korrumpiere die Menschen, zerstöre die Moral, lenke sie ab vom heiligen Dienst an Gott, der Natur oder der Gerechtigkeit. Die Prediger der Bescheidenheit zeichnen nicht mehr das plumpe, meist antisemitische Bild der nach Gold grapschenden Spinnenfinger vor den gierig funkelnden Augen. In tiefer Sorge ums Gemeinwohl prangern sie die Fetische des Wohlstands an, die großen Autos und die kleinen Diamanten, Überfluss, Wachstum und Eigentum.

Doch anders als die asketischen Bettelmönche von einst predigen die Kritiker des Konsumismus nicht Armut, sondern höhere Werte. Sie selbst sammeln wertvolle Antiquitäten, teure Rotweine und esoterische Torheiten. Ihnen dient die Kritik der Habgier zur Abgrenzung nach unten. Die derbe Freude an Besitz und Vergeudung ist ihnen suspekt. Sie pflegen feinsinnige Genüsse und fühlen sich als die Besseren, nicht weil sie weniger haben, sondern weil sie die Nase etwas höher tragen.

Im Verteilungskampf dient der Vorwurf der Habgier als moralische Waffe. Die Mündung weist stets von unten nach oben. Habgierig sind immer nur die Begüterten. Aber Habsucht ist keine Klassenfrage. Menschen können auch ohne Geldhunger zu Wohlstand gelangen, und Habenichtse können verschleudern, was sie zuvor zusammengerafft haben. Nicht selten ist es blinde Kaufwut, welche Privatleute mit schmalem Budget in den Ruin treibt.

Über der heuchlerischen Propaganda vergisst man leicht die Raffgier der größten Institution, welche die Geschichte hervorgebracht hat: den modernen Steuerstaat. Ungestraft betrügt er die Untertanen um den Lohn ihrer Arbeit, den Wert ihres Eigentums und die Zukunft ihrer Hoffnungen. Habsucht von Amts wegen ist weit fataler als die persönliche Torheit des alten Königs. Sie erstickt nicht das Leben eines einzelnen mit Geld und Gold. Sie treibt die gesamte Gesellschaft in den öffentlichen Bankrott. Ein Heer argloser Beamter steht im Dienste der verstaatlichten Habsucht. Kein gnädiger Gott wird sie je von dieser Torheit erlösen.


Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte unter anderem: 'Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager' (1993), 'Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition' (mit Rainer Paris, 1994) und 'Traktat über die Gewalt' (1996). 2002 erschien 'Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg', und zuletzt der Band 'Operation Freiheit. Der Krieg im Irak'.