Zwischen Mitleid, Anerkennung und Entwertung
Bezeichnet sich heute jeder als Opfer, wenn ihm ein Unrecht angetan wurde? Historikerin Svenja Goltermann hält das für "Nonsens". Der Begriff "Opfer" werde heute häufiger und anders verwendet als im 19. Jahrhundert. Von einer "Leidenskultur" könne keine Rede sein.
Joachim Scholl: Heute steht unser Programm im Zeichen der Opfer – ein Thementag hier im Deutschlandfunk Kultur, an dem Svenja Goltermann nicht fehlen darf. Die Historikerin lehrt in Zürich und erforscht diesen Komplex. 2009 hat sie ein preisgekröntes Buch über "Die Gesellschaft der Überlebenden" geschrieben. Es ging um deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Erfahrungen in Bezug auch auf die Opferthematik, und jetzt gibt es eine neue Studie von Svenja Goltermann, in der es wiederum um Krieg und Gewalt geht: "Opfer", so der schlichte Titel dieser Studie. Willkommen in der Lesart, Frau Goltermannn!
Svenja Goltermann: Danke für die Einladung!
Scholl: Die ganze Ambivalenz des Themas wird schon im Titelbild Ihres Buches deutlich, wie ich finde. Man sieht eine Gruppe von schwarzen, vermutlich afrikanischen Kindern mit Waffenattrappen, ein Junge im Vordergrund hält eine wohl echte Kalaschnikow in der Hand. Das sind offensichtlich Kindersoldaten. Was hat Ihnen dieses Bild gesagt?
Goltermann: Ich fand dieses Bild eigentlich für das Buch gut, weil es eben die Ambivalenz des Opferbegriffs deutlich macht oder schon darauf hindeutet, dass wir manche Personen – in diesem Fall diese Kinder oder diese jungen Menschen, die da stehen mit diesen Attrappengewehren –, dass wir heute eigentlich denken, das sind eigentlich Opfer, aus denen werden Opfer gemacht, und gleichzeitig wissen wir, dass sie Morde begehen, dass sie, wenn sie etwas ältere Jugendliche sind, an Vergewaltigungen teilhaben. Es stehen auch Kriegsverbrecher vor Gericht heute in Den Haag, die früher mal Kindersoldaten waren und wo sofort die Frage auftaucht, sind sie jetzt eigentlich Opfer oder sind sie Täter oder sind sie beides, und manchmal können wir nicht mehr genau trennen, ob es jetzt eigentlich Täter oder Opfer sind, und das hat mich bei diesem Bild angesprochen.
Warum der Opferbegriff so populär wurde
Scholl: Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Thematik als Wissenschaftlerin. Was hat Sie grundsätzlich eigentlich interessiert, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, was wollten Sie wissen?
Goltermann: Ich glaube, da kommt dreierlei zusammen: Als ich an dem letzten Buch saß, das Sie erwähnt haben, über die Kriegsheimkehrer nach 1945, war ich automatisch mit dem Opferthema befasst, weil Historiker, aber auch in den Medien, viel darüber geschrieben wird, dass es nach 1945 einen Viktimisierungsdiskurs gab, das heißt, Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge neigten sehr dazu, sich als Opfer zu bezeichnen – das ist auf jeden Fall die Annahme. Das ist problematisch, wie wir wissen, jedenfalls in Deutschland. Insofern war ich damit befasst, und gleichzeitig musste ich mir bei dem letzten Thema immer überlegen, wie kann man trotzdem über Leiden von Kriegsheimkehrern schreiben, ohne sie als Opfer darzustellen oder als Opfer sogar zu bezeichnen. Insofern war ich in der Thematik drin, und es kam aber noch hinzu, 2009, 2010, als ich mit dem neuen Buch anfing, dass ich selber den Eindruck hatte, der Opferbegriff wird so häufig verwendet, dass es eine Erklärung braucht, warum man ihn heute so häufig verwendet und warum er als eine Form der Selbstbeschreibung oder auch als Zuschreibung für andere so populär geworden ist.
Scholl: Weil der Blick in die Geschichte ja etwas völlig anderes lehrt, wie Ihr Buch zeigt. Also wenn man unter Gewalt zu leiden hat, wenn man ihr ausgesetzt ist, wenn man verletzt, getötet, traumatisiert wird, dann ist man ein Opfer, das Anteilnahme, Schutz, Trauer, Respekt, auch Wiedergutmachung verdient, und ich hätte gedacht, Frau Goltermann, dass diese Sicht so etwas allgemein Menschliches, Zivilisatorisches, historisch auch Überzeitliches hat, als humanistische Einsicht und vielleicht auch christliche Erkenntnis, und die historischen Fakten sagen da etwas völlig anderes.
Goltermann: Wir sehen das heute häufig so, nicht in jedem Fall, dass Menschen, die verletzt werden, die psychisch verletzt werden, körperlich verletzt werden in Kriegen, dass sie Wiedergutmachung verdienen oder eine Rente verdienen, aber wenn Sie zurückschauen in das 19. Jahrhundert, werden Sie feststellen, dass es den Opferbegriff zwar gibt, aber er wird häufig verwendet, sehr viel häufiger in der Form, dass Menschen ein Opfer für etwas erbringen oder es von ihnen erwartet wird, dass sie ein Opfer für etwas bringen. Das ist das Dominante, während die Bezeichnung eines Opfers, das man geworden ist, ganz selten aufzufinden ist.
Zäsur Erster Weltkrieg
Scholl: Sie zitieren verschiedene belletristische Literatur zum Beleg, etwa bei Tolstoi in seinem großen Roman "Krieg und Frieden", also der Epochenkriegsschau des napoleonischen Feldzugs in Russland mit hunderttausenden von Toten auf beiden Seiten – keine Rede von Opfern.
Goltermann: Ich musste dieses Buch gewissermaßen mit hineinnehmen, weil mir bei Vorträgen oder wenn ich über das Thema was erzählt habe, so oft gesagt wurde: "Ja, aber bei Tolstoi …" Und dann habe ich gedacht, das muss ich jetzt mal nachschauen, und Sie werden bei Tolstoi den Opferbegriff in dem Sinne, wie er heute verwendet wird, dass man ein Opfer von etwas geworden ist, einfach nicht finden. Das ist eine Projektion von heute auf die damalige Zeit, wenn es um massenhafte Tote geht.
Scholl: Seit wann gibt es denn aber dann das Opfer als Chiffre für den leidenden Menschen?
Goltermann: Die Bezeichnung, dass jemand ein Opfer geworden ist, können wir Ende des 19. Jahrhunderts finden, und zwar dann, wenn der Staat es versäumt hat, die Armeen hinreichend mit medizinischen Artikeln oder auch mit Kleidung so auszustatten, dass die Leute nicht erkranken und dann daran sterben. Was dieser Begriff dieses Opfers Ende des 19. Jahrhunderts meinte, das war im Grunde genommen ein Hinweis darauf, dass Menschen, dass Soldaten unnötig gestorben sind.
Scholl: Ab wann gibt es den Begriff des unschuldigen Opfers, also die Metapher für den Zivilisten, die Frauen, die Kinder, die im Krieg eben umkommen und zu Opfern werden?
Goltermann: Anfang des 20. Jahrhunderts bildet sich das heraus. Das hat was mit völkerrechtlichen Veränderungen zu tun, wo die Figur des unschuldigen Zivilisten, der nicht angegriffen werden darf, aufkommt. Insofern ist diese Verschiebung eine, die man Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich erkennen kann. Erster Weltkrieg ist ein Paradebeispiel dafür, wo dann über die Zivilisten als unschuldige Opfer gesprochen wird.
Scholl: Inwieweit haben denn diese exorbitanten im 20. Jahrhundert, also zwei Weltkriege, Völker-, Massenmorde, wie haben denn diese Hekatomben von Opfern den entsprechenden Diskurs geprägt dann?
Goltermann: Das ist nicht ganz einfach zu sagen. Mein Ansatzpunkt war die Feststellung, dass Millionen von Toten nicht ausreichen, um das Sprechen über Opfer zu befördern. Das finde ich einen ganz wichtigen Befund. Wenn Sie ins 19. Jahrhundert gehen, gibt es zigtausende an Toten in den Kolonien, und Sie werden nicht als Opfer bezeichnet. Im 20. Jahrhundert haben Sie Millionen von Toten, und es ist nicht selbstverständlich, dass die als Opfer des Krieges bezeichnet werden. Es gibt keinen Deutungsautomatismus für Gewalthandlungen. Das finde ich was ganz Wichtiges.
Ein Begriff wird zum Problem
Scholl: Sie haben vorhin schon den Begriff der Viktimisierung benutzt, Frau Goltermann. Wir haben ja unseren Thementag hier im Deutschlandfunk Kultur – er ist auch nicht nur aus empathisch-humanitären Gründen konzipiert, sondern gerade, weil sich etwas getan hat mit dem Opferbegriff und der Rede vom Opfer. Da scheint sich nämlich eine Form des Widerwillens dagegen auszuprägen. Es wird immer häufiger kritisiert, dass Menschen sich als Opfer bezeichnen. Auch Sie, Frau Goltermann, verstehen Ihr Buch wörtlich in einer Passage als Intervention in diesem Prozess. Wo greifen Sie hier ein?
Goltermann: Ich verstehe es als eine Intervention in eine Diskussion, in der doch zunehmend kritisiert wird, dass Menschen sich als Opfer bezeichnen, bis hin zu dem Vorwurf oder zu der Behauptung, dass Menschen sich ja nur noch als Opfer bezeichnen würden, sobald ihnen irgendetwas widerfährt. Das halte ich, kurz gesagt, für ziemlichen Nonsens. Es ist auf der einen Seite zwar richtig, dass sich Menschen heute viel häufiger als Opfer bezeichnen als im 19. Jahrhundert oder auch Anfang des 20. Jahrhunderts, aber empirisch gibt es überhaupt keine Grundlage, zu sagen, dass sich heute jeder als Opfer bezeichnen würde und dass es im Grunde genommen so etwas gäbe wie eine Leidenskultur, oder Menschen bezeichnen sich als Opfer, um damit irgendwie eine Position der Stärke irgendwie über andere auszuüben und andere verantwortlich zu machen. Das halte ich für verkürzt. Was ich als Problem sehe dabei ist, dass sobald heute jemand sagt, dass ihm ein Unrecht geschehen ist, dass ihm dann sofort gesagt wird, er würde sich als Opfer bezeichnen, und das sehe ich als Problem.
Die Rückkehr des Stigmas
Scholl: Ich meine, jeder human denkende und fühlende Mensch schmerzt so dieser Schnodderslang der Jugendlichen, die so "du Opfer" sagen als Schimpfwort. Mich schüttelt es da immer. Sind das Zeichen einer Art von Enthumanisierung, einer Entsolidarisierung, oder ist das einfach nur Gedankenlosigkeit?
Goltermann: Ich würde sagen, da ist natürlich viel Gedankenlosigkeit dabei. Ich meine, wie viele Jugendliche verwenden Begriffe, von denen sie nicht so richtig wissen, was sie da eigentlich tun damit. Was ich aber schon denke, ist, dass diese Jugendlichen, und manchmal auch Kinder, die greifen ja was auf, was da ist. Die erfinden das ja nicht, diese negative Konnotation eines Opferbegriffs. Der Opferbegriff hat im 20. Jahrhundert über lange Zeit eine negative Konnotation gehabt und hat sie im Grunde genommen für einen relativ kurzen Zeitraum Ende des 20. Jahrhunderts vielleicht nicht gänzlich verloren, aber es war möglich, sich als Opfer zu bezeichnen, ohne stigmatisiert zu werden, ohne dass einem deswegen eine Mitschuld an dem Ereignis gegeben wurde. Das hat sich Ende des 20. Jahrhunderts geändert, aber ich würde sagen, für einen kurzen Zeitraum, weil an der Wende zu den Nullerjahren kippt das im Grunde genommen schon wieder um.
Scholl: Dankeschön, Svenja Goltermann, für Ihren Besuch!
Goltermann: Ich danke, dass ich hier sein durfte!
Scholl: "Opfer: Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne" – das Buch von Svenja Goltermann ist im Verlag S. Fischer erschienen, mit 336 Seiten zum Preis von 23 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.