Michael Seemann ist Kulturwissenschaftler, Autor und mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv.
Er gründete twitkrit.de und die Twitterlesung, betreibt den populären Podcast wir.muessenreden.de
Wahr ist, was gut für uns ist!
Es war eines der großen Versprechen der digitalen Kultur, dass die Organisation von Wissen demokratisiert wird. Es ist anders gekommen. Man trennt sich einfach von denen die anderer Meinung sind. Das ist technisch einfach, hat aber weitreichende Folgen, sagt der Kulturwissenschaftler Michael Seemann.
Softwareentwickler benutzen eine Software namens Git, um mit anderen Programmierern an dem neusten Status ihrer Projekte zusammenzuarbeiten. Git funktioniert so, dass sich jeder Mitarbeiter eine komplette Kopie des Projektes aus dem Zentralverzeichnis auf den Arbeitsrechner lädt. Hat er seine Kopie entsprechend verändert, speist er sie wieder zurück zur Zentrale, die dafür sorgt, dass die geänderte Version mit der Stammversion verschmilzt. Das nennt man "Merge".
Statt Debatte lieber Abspaltung
Nun kann man das Zurückspielen auf das Zentralverzeichnis auch einfach sein lassen. Stattdessen kann man die editierte Version als neue Stammversion verfügbar machen und mit anderen Entwicklern daran weiterarbeiten. Nun gibt es zwei Versionen derselben Software, die sich in völlig unterschiedliche Richtungen weiterentwickeln können. Das nennt man dann "Fork" - eine Gabelung. Die Idee des Forks begeisterte mich früh. Es war der Inbegriff von digitaler Freiheit. Wer einen Fork macht, braucht sich nicht mehr einigen.
Der Fork ist das Ende der Politik, des Streits und des Kompromisses. Wem etwas nicht passt, der forkt einfach. So schlug ich vor, die Wikipedia auf Git-Basis umzustellen. All die Streitereien - die sogenannten Edit-Wars - gehörten auf einen Schlag der Vergangenheit an. Ihr glaubt, der Dreißigjährige Krieg ist ganz anders verlaufen? Macht doch einen Fork! Ihr glaubt, Globuli helfen gegen Depressionen? Mach doch einen Fork!
Parallele Realitäten und ideologischen Spaltung
Mein Traum ist wahr geworden. Und ich bereue ihn. Zwar wurde die Wikipedia nicht auf git-basis gestellt aber heute gibt es die Conservapedia, ein Wikipedia-Fork, mit unterschiedlichen Ansichten zu Abtreibung, Waffengesetzen und Klimawandel. Und es gibt Infogalicatic, der Wikipedia-Klon der Alt-Right, in der sie all ihre "alternativen Fakten" festhalten.
Der wesentlichere Grund für diese parallelen Realitäten ist natürlich die tiefe, ideologische Spaltung in den USA. Mit Fox News, Breitbart und hunderten anderen "right wing" Medien, hat sich in den letzten 20 Jahren eine breite, alternative Medienlandschaft gebildet, die nie den Anspruch hatte, überparteilich zu sein. Im Gegenteil, sie versteht sich als Opposition zu dem von ihnen als zu links empfundenen Mainstream.
In den USA, so scheint es, hat sich die gesamte Gesellschaft geforked. Es ist die dystopische Version von der Utopie der digitalen Freiheit.
Fake News als soziales Schmiermittel
Auch in Deutschland beginnt der Fork. Das zeigt sich, wenn man die Netzwerkstrukturen von Twitteraccounts untersucht, die Fake News verbreiten. Leute, die Fake News verbreiten sind vom Rest des Netzwerkes abgekoppelt und folgen sich fast ausschließlich untereinander. Bei der Analyse ihrer Tweets wurde ersichtlich, dass sie ein konzentriertes, geschlossenes Weltbild unterhalten, in dem es fast nur um die Gefahr des Islam, sowie Flüchtlinge und deren Kriminalität geht. Technische und sozialpsychologische Prozesse greifen ineinander und generieren einen "digitalen Stamm". Netzwerktechnisch verwoben, identitär eingebunden, ideologisch abgegrenzt.
Fake News sind nicht der Grund für solche Weltbilder, sondern digitale Stämme sind der Grund für Fake News. Fake News sind nicht, wie es oft angenommen wurde, die Produkte sinisterer Manipulatoren, die damit die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung lenken wollen. Sie sind vielmehr das Futter für bestätigungshungrige Stämme. Die Nachfrage macht hier das Angebot, nicht andersrum. Fake News sind der identitätsstiftende Treibstoff, der als Abgrenzungsmarkierung nach außen und als soziales Schmiermittel nach innen wirkt.
"Gut für uns" = "Wahr"
Der Psychologe Dan M. Kahan spricht von einer "Identity Protective Cognition", einer Identitätsbeschützenden Kognition, einer Art evolutionionsbedingtem Defekt im menschlichen Gehirn, der bewirkt, dass wir immer der Wahrheit der eigenen Gruppe folgen und die Wahrheit der gegnerischen Gruppe ablehnen. "Gut für uns" und "Wahr" werden eins.
In den USA leben bereits ein Drittel der Menschen in einer tribalen Parallelrealität. Davon ist Deutschland noch entfernt, aber wir sind auf dem Weg.