Über die Sprache des jüdischen Alltagslebens

Die Schwierigkeit mit dieser Jiddisch-Enzyklopädie beginnt schon bei ihrem Gegenstand: Viele - auch gebildete - Menschen wissen gar nicht so recht, was das eigentlich ist - die jiddische Sprache. Denn sie gehen davon aus, dass die Muttersprache der Juden in Israel und andernorts auf der Welt das Hebräische sei. Und sie reagieren erstaunt, ja sogar verunsichert, wenn sie erfahren, dass die Umgangssprache der Juden in ihren verschiedenen Lebenswelten nie Hebräisch gewesen ist.
Sondern dass so gut wie alle Migranten, die in Israel einwandern wollen, die National- und Umgangssprache des Staates Israel "Ibrit" (sprich: Iwrit), also Neu-Hebräisch, erst einmal lernen müssen. Und dabei gleich mit lernen, dass Juden, die ihren Glauben auch im synagogalen Gottesdienst oder im heimischen frommen Alltagsleben praktizieren, nur insofern "besser dran" sind, als sie schon ein paar Begriffe und Formulierungen des "klassisch-religiösen" Hebräischs kennen, wie es in den Gesetzen und deren Auslegungen - also in Tora und Talmud oder in Gebeten - geschrieben wurde.

Das Überraschende an dieser Jiddisch-Enzyklopädie ist, wie selbstverständlich und unbefangen auch nach der Schoa Verfasser, Übersetzer und Bearbeiter des
Werks davon sprechen, dass Jiddisch eine "Nahsprache" oder "Schwestersprache" des Deutschen ist, die seit dem 10. Jahrhundert bis heute den Juden aus Ost-, West- und Mitteleuropa sowie aus Amerika weltweite Möglichkeiten geschaffen hat, sich untereinander zu verständigen.

Wozu eben das Hebräische nicht taugte, wie es unter dem Stichwort "jiddisch" in der Enzyklopädie ausdrücklich betont wird: "Das Hebräische war so ausdrücklich ‚geheiligt’, so eng mit den heiligen Schriften, dem Gottesdienst, der Theologie und dem Talmud verbunden, dass es für den Alltag kaum tauglich erschien. Es war die Sprache der frommen Männer, der Rabbiner, Gelehrten und Exegeten, weit entfernt von Schweiß und Tränen, gemütlichen Witzen und Anekdoten, die das jüdische Alltagsleben bestimmen."

Leo Rosten (1908-1997) war aus Lodz, wuchs aber in einem proletarischen Viertel von Chicago auf. Im Schwerpunkt war er Verfasser heiter-nachdenklicher Romane, die in jüdischen Arbeiterfamilien der ersten und zweiten Einwanderergeneration spielen. Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - im Zuge einer verbreiteten Rückbesinnung auf die religiösen und kulturellen Quellen der vor allem osteuropäischen Immigranten - sammelte Rosten jiddische Wörter und Begriffe, Geschichten und Anekdoten zur jüdischen Geschichte in der Diaspora, Bausteine aus weltweiter jüdischer Folklore sowie uralte und brandneue Witze, mischte sie mit Grundelementen der Wissenschaft vom Judentum und ließ daraus ein "vergnügliches Hausbuch" entstehen, das mehr als nur konservatorischen Wert hat. …

In dieser lächelnd-schnurrigen Manier hat der Autor sogar das Vorwort zu seiner Enzyklopädie geschrieben. Er hatte - so sagt er - immer nach etwas dieser Art gesucht, aber nicht gefunden. Also musste er selbst ran! Auch legt er Wert auf die Feststellung, dass er kein Lehrbuch der jiddischen Sprache verfasst hat, sondern ein Buch über eine Sprache, die heutzutage überall gesprochen wird - und die er je nach Entstehen "jinglisch" oder "ameridisch" nennt. Rosten wörtlich: "Wörter mit offensichtlich englischen Wurzeln und jüdischen Nachsilben werden als jinglisch bezeichnet" - Beispiel: lendler, die Verballhornung des englischen landlord. "Ameridisch sind "Wörter, die von amerikanischen Juden geprägt" wurden - Beispiel: kochalayn, Ferienwohnung mit Kochgelegenheit. - 1968 erschien die erste der Rosten-Enzyklopädie "Joys of Yiddish", Freude am Jiddischen. Die bisher letzte, 17. Auflage im Jahre 2001.

Nun liegt endlich - und schon in zweiter Fassung - eine deutsche, um vieles umfangreichere Übersetzung (oder besser: Fassung) vor, die Lutz-W. Wolff mit viel Sprachwitz und jüdischem Feeling besorgt hat. Und der er mit Sachverstand und Gelehrsamkeit manches direkte Beziehen von jiddisch auf deutsch beziehungsweise auch deutsch auf jiddisch hinzugefügt hat. Und es ist durch entsprechende Quer- und Rückverweise mehr geworden als eine heitere Belehrung derer, die Jiddisch, Deutsch, amerikanisches und Oxford-English sprechen beziehungsweise verstehen.

Denn es bleibt bei der einfachen aber überraschenden Feststellung, dass seit Moses Mendelssohn die Sprache der Juden in Deutschland das Hochdeutsche ist wie das US-Amerikanische Englisch - bis hin zum Slang - die Verkehrssprache der amerikanischen Juden. Denn es gilt eben, wie auch die vorliegende Studienundunterhaltungsschrift (sic!) belegt: Überall auf der Welt sprechen Juden in erster Linie die Sprache des Landes, in dem sie leben.

Und wie das Rotbuch der gefährdeten Sprachen der UNESCO schätzt, sind es circa 250.000 Amerikaner, knapp 200.000 Israelis und 150.000 Bürger aus den GUS-Staaten, die zu Hause als mameloschen Jiddisch sprechen. Übrigens: Wussten Sie, dass und wussten sie, wer eine weitere jüdische "lingua franca" spricht? Die jüdisch-spanischen Ladinos des Mittelmeerraumes.

Rezensiert von Jochen R. Klicker


Leo Rosten: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie
Aktualisiert und kommentiert von Lawrence Bush. Übersetzung und deutsche Bearbeitung von Lutz-W. Wolff.
dtv, München 2006. 640 Seiten, 9,90 Euro