Über die Verrohung der Gesellschaft

Von Gerda Hollunder |
Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Diese Metapher begleitet uns seit langem, seit die wirtschaftlichen Verteilungskämpfe schärfer wurden und seit sehr viele Menschen sie am eigenen Leib spüren.
Ist die Gesellschaft deswegen nun auch roher in den Stürmen von Globalisierung, von Rationalisierung und Umverteilung der Einkommen nach oben? Verroht in der kalten Luft der Ellenbogengesellschaft? Brutalisiert unter lauter vereinsamten, gemeinschaftsunfähigen, empathiearmen Egos? Schlimmer als in Zeiten, in denen es auch schon Klassenkeile, Nachbarschaftskloppereien, Fußballrandale, Straßenkämpfe unter Jugendlichen und Vandalismus gab?

Die Kriminalstatistik sagt nein, die Polizei, die Lehrer, die Psychologen, die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, die meisten von uns erleben die Entwicklung anders. Gewalt an Schulen, nicht nur in den Problemvierteln, nimmt zu. Rechte Gewalt nimmt zu. Verkehrsrowdytum nimmt zu. Gewalt auf Sportplätzen nimmt zu. Die Heftigkeit der Attacken nimmt zu. Das macht Angst.

Politischer Terror macht auch Angst und ist furchtbar, wenn er schießt und bombt. Wir verurteilen ihn, aber wir können ihn wenigstens einordnen, wenn schon nicht verstehen. Da erkennen wir Muster aus Jahrtausenden von Streit und Krieg.

Die Gewalt, für die wir keine Muster haben, beunruhigt und verstört viele von uns sehr viel mehr. Ich meine diese diffusen Gewalteinbrüche in den Alltag, die Bedrohung bürgerlich geordneter Normalität. Woher diese zunehmende kaltblütige, gefühllose Brutalität von jungen Menschen, Kindern manchmal? Vielleicht nur wegen eines Handys hauen sie Wehrlose bis zur Bewusstlosigkeit, treten, stechen, schießen sie? Das ist kein Kräftemessen unter Gleichen, nein, der Stärkere sucht und traktiert den Schwächeren. Was geschieht da bei uns mitten im Frieden?

Alle fragen: Sind die Medien schuld? Berichten sie zu viel? Bieten sie sich zu sehr an als Bühne für verkümmerte, aber monströse Egos? Geht es um kommerzialisierten Voyerismus? Sicher auch. Aber die Medien stellen die wachsende Gewalt nicht wirklich falsch dar oder rufen sie gar hervor. Die Boulevardpresse benutzt offenkundig die Sensationslust ihrer Leser und dramatisiert deswegen gern. Aber sie bleibt trotzdem nur der Bote schlechter Nachrichten, sie ist nicht ihr Verursacher.

Und was ist mit dem Internet, mit den brutalen Spielen? Was ist mit den Erziehern, den Familien, den Lehrern, den Kumpeln und Freunden?

Im vielstimmigen Konzert von Antworten gibt es, wie ich meine, eine Grundmelodie. Ich nenne sie Entgrenzung. Im Dur-Thema schwingen positive Grunderfahrungen mit: Freiheit, grenzenlose, Reisen, wohin man will, Produkte aus aller Welt bei uns, weltweite Vernetzung von individueller und von Massenkommunikation, Wegfall von Kontrolle, anything goes, Freiheit eben. Die Mollsequenzen heißen Globalisierung, Verschwinden von Vertrautem und Sicherheiten in scharfem Tempo, Verlust von anerkannten Autoritäten, Schwund von gemeinsamen Überzeugungen, bei manchen bis hin zur Auflösung der bewährten Grundregel menschlichen Zusammenlebens: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

Da müssten wir den Kontrapunkt setzen. Die Gesellschaft hält die Entgrenzung unserer Lebensbezüge ins Beliebige nicht aus. Sie könnte zerreißen ohne innere Stabilität, ohne verbindliche Regeln, ohne erneuerten Gesellschaftsvertrag. Wir müssen uns über die Eingrenzungen des prinzipiell Möglichen verständigen. In der Gentechnik, in der Benutzung der Umwelt, auch im Umgang der Menschen miteinander. Dafür brauchen wir frische Schubkraft. Worin könnte sie bestehen? Vielleicht doch in der Vernunft, die gebietet, aus Einsicht das Notwendige zu tun? Die gute alte Aufklärung also? Ich weiß, für Pessimisten hat sie versagt. Allerdings, wo wären wir ohne die Idee vom gemeinnützigen Eigennutz? Sie lässt sich zwar nicht einfach genetisch programmieren. Aber die Option ist in uns allen. Gebrauchen wir doch rechten vorderen Hirnlappen, in dem der Verstand wartet. Worauf? Das wissen wir wirklich genau: Alle Kraft gehört in Erziehung und Bildung, die ihren Namen verdienen, die Energie und Geduld brauchen und die viel kosten. Nur Anstrengung kosten gute Beispiele, zuhause, bei der Arbeit, überall. Und Standfestigkeit sollten wir haben und klare Ansagen machen: Das geht, das geht nicht. Das nehmen wir hin, das nicht. Wir sagen: Hier ist die Grenze. Sogar: Das ist ein Tabu! Wir kommen mit wenigen aus, eines wäre: Mit dem Leben anderer spielt man nicht. Ein anderes: Auch mit Toten spielt man nicht, in Afghanistan nicht, im Internet nicht. Man stellt sie nicht aus wie Herr von Hagens in Brandenburg. Und man geht nicht dorthin. Keine schlechten Beispiele, nicht in der Realität, nicht im Spiel.

Verstand haben wir, Vernunft müssen wir lernen und üben, üben, üben. Eine sinnvolle Aufgabe für jeden an seinem Platz, Delegation nicht möglich. Kein Rezept gegen das Böse schlechthin, aber ein gutes Mittel gegen gesellschaftliche Entgleisungen und gegen falsche Angst.

Gerda Hollunder, Jahrgang 1940, in Beuthen/Oberschlesien geboren, Buchhändlerlehre in Essen, Studium der Germanistik u. Geschichte in München, Karriere beim Hörfunk mit den Stationen BR, WDR und DeutschlandRadio Berlin, 1994-2004 Programmdirektorin.