(Über-)Leben in der Wohnmaschine

Von Christoph Richter |
Wände können sprechen. Zumindest im Berliner Kunst- und Erinnerungsprojekt "Das Wort haben die Benutzer", für das Künstler Erinnerungen der Bewohner der vom Architekten Le Corbusier gestalteten Häuser in Berlin und Marseille zusammengetragen haben.
"Ich kam aus einer ganz kleinen Wohnung, ich hab dreißig Jahre bei meinen Eltern gewohnt. Da war das hier ein Traum!"

Am 01. Dezember 1967 zieht Verkäuferin Jutta Hermes ins Corbusierhaus. Sieht aus wie ein riesiges, auf Stelzen errichtetes plattes Betonregal und sollte der Anfang für die Stadt von morgen sein. Errichtet wurde es 1957 im Rahmen der Interbau, der Internationalen Bauausstellung im hügelig grünen Berliner Westend in direkter Nachbarschaft zum Olympiastadion. Nach Marseille und Nantes war der Berliner Bau Le Corbusiers dritte Unite d’Habitation. Zu deutsch: Wohneinheit, oft abfällig als Wohnmaschine bezeichnet:

"Wie meine Mutter hierher kam, hat sie gesagt, das gibt’s ja gar nicht, wo du hier wohnst. Vor allen Dingen die großen Fenster. Die haben mich fasziniert. So was kannte ich gar nicht."

Fast alle der 530 Wohnungen sind über zwei Stockwerke angelegt, haben einen Balkon. Die fensterlosen Flure – die hier Straßen genannt werden – sind bis zu 130 Meter lang. Es riecht muffig, eine Tür reiht sich an die Andere. Alles sieht gleich aus, fast wie im Gefängnis. Egal. Denn im zerbombten Nachkriegs-Berlin waren die zwischen 30 und 100 Quadratmeter großen Wohnungen mit Innenklo und Einbauküche für Viele ein unvorstellbarer Segen:

"Das war sozialer Wohnungsbau, da sind ihnen die Wohnungen zugewiesen worden. Also das konnte man sich nicht aussuchen."

Erzählt die 85jährige Gisela Machinek, eine der ältesten Bewohnerinnen des Hauses.

"Für uns waren es jetzt am 3. August 54 Jahre, die wir hier drin wohnen."

Vertikale Stadt nannte Le Corbusier seine Vision modernen Wohnens, weil eine umfassende Infrastruktur - vom Frisör bis zum Kindergarten - dafür sorgte, dass man das Haus gar nicht mehr verlassen musste:

"Doktor oben. Und Zahnarzt oben. Das war natürlich toll. Man konnte praktisch im Morgenrock raufgehen, wenn was war. War eine eigene Stadt."

Persönliche Geschichten. Stehen im Mittelpunkt des audiovisuellen Kunstprojekts "Das Wort haben die Benützer", dass das Alltags-Leben in Le Corbusiers "Wohnmaschinen" in Berlin und Marseille thematisiert. Dazu bekommen die Besucher kleine Lautsprecher in die Hand, mit denen sie Gespräche, die Lieblingsmusik der Bewohner oder einfach nur die Umgebungs-Geräusche hören. Eine Idee der Bühnenbildnerin und Architekturliebhaberin Janina Janke und des aus Arizona stammenden Komponisten Bill Dietz:

"Die Klänge bewegen sich. Also irgendwie zwei Sekunden des Interviews hier, nächste zwei da, nächste zwei da. Was auch dazu führt, dass die Gruppe zusammen bleiben muss. Wenn einer wegbleibt, fehlt ein Teil der Geschichte."

Und: Durch das Lautsprechernetzwerk sind die Besucher - für eine gewisse Zeit zumindest - aneinander gefesselt. Ein performativer Akt, der auch ein bisschen von der Enge des Hauses erzählt, in dem seit 1958 über 1000 Menschen Wand an Wand wohnen. Durchschnittsalter der Bewohner: Zwischen 50 und 60.

Mittels diverser Tonspuren heben Janina Janke von der Dynamo Oper West und Bill Dietz, als Leiter des Ensemble Zwischentöne verschollene Geschichten und Geräusche aus der Versenkung. Um herauszufinden, wie es ist, wenn man in einer städtebaulichen Utopie lebt. Man will einen Abgleich zwischen der Vision Le Corbusiers, dem mitunter totalitär anmutenden Fortschrittsglauben. Das sich im Ideal eines ornamentlosen und rein funktionalen Wohnhauses ausdrücken sollte und der alltäglich erlebten Lebenswirklichkeit der einzelnen Bewohner.
Besonders interessant wird es, wenn man an Türen vorbeigeht und plötzlich völlig überraschend undeutliche Gesprächsfetzen oder Musiksplitter hört:

"Das verteilt sich über mehrere Wohnungen, bewegt sich überall hin."

Eine Referenz an die Hellhörigkeit des Hauses, das auch die soziale Kontrolle in so einem totalitären Hochhaus-Ungetüm unangenehm deutlich macht. Denn wer auch nur ein Loch bohrt, jeder bekommt es mit:

"…das ist ein perfektes Beispiel. Das passiert überall im Haus, das würde niemand bestreiten. Wenn jemand bohrt, dann hört man durch das ganze Haus."

Eingerahmt wird das sinnliche Erinnerungsprojekt von zwei Videoinstallationen:

"Für mich war es interessant wieder zurückzugreifen, auf ein Moment, wo man dachte in der Architektur, dass man das Leben irgendwie anders machen könnte."

Doch gerade das schien die Bewohner in Berlin meistens überhaupt nicht zu interessieren. Und es tut sich eine große Kluft auf: Zwischen den ganz lebenspraktischen Wünschen der Menschen, die sich lediglich eine lebenswerte und bezahlbare Wohnung wünschten; während Architekten-Ikone Le Corbusier bahnbrechende sozialreformerische Ideen des Zusammenlebens, die Versuchszelle neuen Wohnens im Kopf hatte. In der die Architektur dazu beitragen sollte, neue und besser arbeitende Menschen zu formen.
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