Gedenken mit Geschichtslücken
Vor 75 Jahren überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion. In Moskau haben die Gedenkfeiern in der Nacht mit einer Mischung aus Volksfest, Militärspektakel und Andacht begonnen. Doch gerade unter den jungen Leuten gibt es im geschichtlichen Rückblick große Lücken.
Musik und Tanz am Ufer der Moskwa - so ging es heute bis zum Morgengrauen. Die Moskauer begingen die Nacht vor dem großen Jahrestag, mit einem eigentümlichen Fest: einer Mischung aus Vergnügung, Gedenkfeier und Militärspektakel. Wjatscheslaw Fomitschow, 77 Jahre alt, wischt sich über die Stirn. Gerade hat er noch wie ein Junge zum Akkordeon getanzt:
"Der 22. Juni vor 75 Jahren: Das ist für uns hier ein Datum, dass wir nie vergessen werden. Um vier Uhr morgens überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion. Früher haben wir diesen Jahrestag nicht so groß begangen. Aber jetzt haben wir so einen hervorragenden Präsidenten, Wladimir Putin, der alles tut für sein Land, für seine Landsleute."
Wjatscheslaw Fomitschow ist hier weit und breit der Älteste. Als einer der wenigen erinnert er sich noch, wie die Wehrmacht auf Moskau vorrückte, wie im Westen der Stadt deutsche Flugzeuge abgeschossen wurden.
Vor allem patriotische Jugendorganisationen und Vereine sind mit ihren Mitgliedern hierher an die Moskwa gekommen. Ein paar Jugendlichen in Tarnanzügen setzten sich auf einen musealen Panzer und jubeln. Sie spielen schon die Eroberung von Berlin nach. Die 29-jährige Anastassija Woronko dagegen ist besonders fasziniert vom Schießstand:
"So ein großes, schweres Gewehr bekommt man da in die Hand, mein Arm hat richtig gezittert. Da hinten ist das, wo die Schlange ist. Außerdem bin ich restlos begeistert von diesem Hindernislauf hier."
Beim Hindernislauf musste Anastassija erst unter gespannten Schnüren hindurchkriechen, dann mit einem Bajonett in einen Sandsack stechen und schließlich mit einer Gasmaske auf dem Kopf rennen. Im Hintergrund, auf der großen Leinwand, lief derweil ein Film über die heldenhafte Verteidigung der Stadt Brest in Weißrussland.
22. Juni gilt als Beginn des Großen Vaterländischen Krieges
"Der Krieg ist für uns immer noch ein wichtiges Ereignis. Wir kümmern uns um die Veteranen, die noch leben und werden uns immer erinnern."
Für die hier Versammelten ist der 22. Juni nicht nur der Tag, an dem sich der Überfall der Wehrmacht jährt. Es ist der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Was vor 1941 passierte, spielt im offiziellen russischen Geschichtsverständnis dagegen kaum eine Rolle.
Die wenigsten wissen etwas darüber. Auch Sergej nicht, obwohl der 23-Jährige ein paar Kilometer flussaufwärts ein offizielles Projekt zum Jahrestag leitet. Immer wieder unterstreicht er, wie wichtig er historische Bildung findet. Ja, 1939 habe der Zweite Weltkrieg begonnen, sagt er. Aber:
"In diesen Krieg waren erst einmal nur die Länder Europas verwickelt, nicht die Sowjetunion."
Dass die Sowjetunion 1939 den östlichen Teil Polens besetzte, weiß Sergej also nicht.
Seine Aktion, die heute Nacht begann: Mitglieder der offiziellen Jugendorganisation der Stadt Moskau stellten für jeden Tag, den der Große Vaterländische Krieg dauerte, eine brennende Kerze auf die Flussmauer. 1418 Kerzen.