Droht Mallorca der Touristen-Infarkt?
Die Rekorde purzeln: Mallorca erlebt in diesem Jahr einen heftigen Urlauber-Ansturm. Wie viele Touristen kann die beliebte Baleareninsel verkraften und was denken die Bewohner darüber? Marc Dugge und Oliver Neuroth haben sich vor Ort umgesehen.
Hier, in dieser Halle, beginnen die Ferien. Für so ziemlich alle Mallorca-Urlauber. Die Ankunftshalle im Flughafen von Palma de Mallorca. Jetzt, im Sommer, schieben sich Menschenmassen durch den Saal. Eben sind kurz hintereinander Flugzeuge aus Bremen, Zürich, Manchester und Düsseldorf gelandet. In der letzten Maschine saßen auch Marion und Sascha:
"Wir mussten ein bisschen lange gehen bis zum Kofferband, aber dann ging alles ganz schnell bei uns."
"Wir waren jetzt vielleicht zehn Minuten hier - und sind jetzt schon am Ausgang!"
"Wir waren jetzt vielleicht zehn Minuten hier - und sind jetzt schon am Ausgang!"
So reibungslos klappt es nur, weil der Flughafen das Personal kräftig aufgestockt hat: Allein 4000 Mann arbeiten aktuell in der Gepäckabfertigung, doppelt so viele wie in der Nebensaison.
Arbeit im Akkord bei der Gepäckabfertigung
Einer von ihnen ist Francisco: Ihm stehen Schweißperlen auf der Stirn. Zusammen mit seinen Kollegen der Tagschicht kümmert er sich um das Gepäck von 30 Flügen. Die Koffer gelangen von den Check-In-Schaltern über Förderbänder in eine große Halle. Dort werden sie auf kleine Wagen verladen.
"Im Schnitt sind in einem Flugzeug 180 Koffer. Da vorne auf den Wagen liegen die Koffer für einen Flug nach Köln, der ist verspätet."
Ein kleiner Traktor bringt die Wagen dann zum Flugzeug. Was dort passiert, erinnert Franciso an ein berühmtes Computerspiel:
"Das ist wie Tetris: Du musst schauen, dass der Raum für die Koffer perfekt genutzt wird, keine großen Lücken entstehen. Das heißt: Wir schieben die Koffer vertikal und horizontal so zusammen, dass es perfekt passt. Ein bisschen wie ein Spiel."
Nicht nur bei der Gepäckabfertigung wird am Flughafen Palma gerade im Akkord gearbeitet, auch an den Check-In-Schaltern und an der Sicherheitskontrolle. Wer das als Mitarbeiter einen Sommer lang durchsteht, ist für alles gewappnet, sagt Mar Badia von der Flughafenbetreibergesellschaft Aena:
"Man lernt hier alle Abläufe sehr schnell. Dieser Flughafen ist extremer als die anderen. Die Direktoren aller Flughäfen in Spanien haben hier schon gearbeitet. Deshalb nennen wir ihn die 'Flughafenuniversität'."
Am letzten Juli-Wochenende hat der Flughafen Palma einen neuen Rekord verzeichnet: Zum ersten Mal wurden 180.000 Passagiere abgefertigt, an einem einzigen Tag.
Rekorde bei Passagierzahlen und Mietautos
Und auch die Zahl der Mietwagen dürfte in diesen Tagen ein Rekordniveau erreichen. Die Inselregierung schätzt, dass in diesem Jahr etwa 100.000 Mietautos auf den Straßen Mallorcas fahren. Sie verstopfen die Straßen, sorgen für Staus – und für Frust. Etwa bei der Mallorquinerin Clara. Sie erzählt, wie sie im Bergdorf Sóller kürzlich fast verzweifelt wäre:
"An Tagen, die etwas bewölkt sind, gehen die Leute nicht an den Strand, sondern stürzen sich auf den Ort. Das führt zu einem Kollaps der Straßen, nirgendwo findet man mehr einen Parkplatz. Ein Desaster. Ich musste letztens zum Zahnarzt und aus dem Auto in der Praxis anrufen, dass ich zu spät komme - wegen der Parkplatzssuche."
Ein anderes Reizthema auf Mallorca sind die Ferienapartments. Zehntausende Touristen kommen in solchen Wohnungen unter, die meistens nicht als solche registriert sind. Die Folge: Echter Wohnraum wird für die Einwohner immer knapper – und damit auch teurer. Die Mieten in Palma de Mallorca sind im vergangenen Jahr im Schnitt um mehr als sieben Prozentpunkte gestiegen. Pera lebt in der Altstadt von Palma. Er engagiert sich für eine Anwohner-Initiative:
"Alle Wohnungen in diesem Haus hier sind Ferienapartments. Und in meinem ebenso. Vermieter und Mieter treffen sich gar nicht mehr persönlich: Hier ist so eine Box, in die immer die Schlüssel gelegt werden – und die dann mit einem Code geöffnet wird."
Der Touristenansturm habe die Atmosphäre in seiner Straße sehr verändert, sagt Pera. Große Ketten hätten alteingesessene Läden verdrängt, die die Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Sicher, es sei schön, dass Touristen nach Palma kommen und die Stadt beleben. Aber es dürfe eben nicht zu viel werden:
"Wenn mich jemand fragt, was das typische Geräusch meiner Straße ist, dann muss ich sagen: Der Lärm der Rollkoffer auf dem Pflaster, ab sechs Uhr morgens. Das ist wirklich so! Ziemlich vielsagend, oder?"
Neues Tourismus-Gesetz verabschiedet
Die Inselregierung will etwas gegen die Urlaubermassen tun und hat vor wenigen Tagen ein neues Tourismus-Gesetz durchs Parlament gebracht: Es sieht unter anderem vor, dass erst einmal keine neuen Hotels mehr gebaut werden – die Zahl der Betten auf der Insel also nicht weiter steigt. Das gilt auch für Ferienapartments: Ein Jahr lang darf kein Wohnungsbesitzer einen Antrag stellen, seine Zimmer an Touristen zu vermieten. Wer es trotzdem tut, soll Strafen von mehreren Zehntausend Euro zahlen müssen. Die Touristen-Obergrenze auf Mallorca läge damit bei etwa 430.000 – so viele Hotel- und offizielle Apartment-Betten gibt es insgesamt.
Ein Projekt, das auch der neue Bürgermeister von Palma de Mallorca, Antoni Noguera, unterstützt. Er will nicht, dass seine Stadt überrannt wird von Touristen – wie zum Beispiel Barcelona:
"Ich mag Barcelona sehr, eine tolle Mittelmeer-Metropole. Aber wir in Palma sollten ein bisschen besser kontrollieren, wer zu uns kommt."
Palma ist aber auch einfach schön. Die 450.000-Einwohner-Stadt hat sich in den vergangenen Jahren aufgefrischt, ist hip und jung geworden.
Mallorquinisches Club-Sandwich mit konfierter Hühnerbrust, knuspriger mallorquinischer Wurst und Mayonnaise der Insel. Oder: Mallorquinische Satay-Spieße mit Mandelsoße und Sesam. Der Deutsche Helmut Clement versucht in seinem Restaurant "Es Rebost" Spezialitäten der Insel neu zu interpretieren. Und das auf eine leichte Art – als Snacks. Das Motto "Fast Slow Food":
"Es wird etwas anderes gefragt, sowohl von den Lokalen als auch von den Touristen. Und man merkt ganz deutlich, dass ein Wandel stattfindet in der Gastronomie. Es gibt inzwischen Läden, die sehr gute lokale Küche machen, sehr kreativ sind – und das gab es vor zehn Jahren noch nicht."
Kulinarischer Umschwung in Palma
Vor zehn Jahren stand das kulinarische Palma noch für die schwere, traditionelle Küche Mallorcas: Mittags ein Drei-Gänge-Menü in teils etwas muffigen Restaurants – Spanferkel, Kaninchen in Zwiebelsoße, Schweinebraten mit Kohl. Nach einem solchen Essen war definitiv eine Siesta fällig. Heute blühen Viertel wie Sant Jaume oder Sant Nicolao auf: Moderne Bars und Restaurants in den kleinen Gassen und auf Plätzen locken jüngere Gäste an, frischen Palma und seine Altstadt auf.
"Nach und nach wacht sie aus ihrem Dornröschenschlaf auf. Bisher war Palma nicht eine Destination an sich, sondern man kam am Flughafen von Palma an und ging dann nach Cala Ratjada, nach Pollenca. Inzwischen hat sich Palma entwickelt zu einer 'All-Year-Round-Destination', wo Touristen also das ganze Jahr über hinkommen."
Das freut auch Bürgermeister Antoni Noguera. Er hat die Hoffnung, dass die Stadt weiter aufblüht, der Modernisierungsprozess noch nicht zu Ende ist:
"Unsere Stadt ist modern, europäisch, lebenswert. Kultur und Gastronomie sind auf hohem Niveau. All das tut der Wirtschaft gut – außerdem spornt das sozusagen den Geist der Stadt an."
Allerdings: Dass Palma jetzt hip und modern ist, hat sich inzwischen bei vielen Urlaubern herumgesprochen, auch bei Touristikkonzernen. Gerade jetzt im Sommer ist die Stadt voll.
Belastungsprobe für die Infrastruktur
Der Anstum stellt Palma und die gesamte Insel vor eine Belastungsprobe. Das gilt für die Straßen ebenso wie für die Wasserressourcen. Und für die Müllverbrennungsanlage.
Die Müllwagen kommen im Fünf-Minuten-Takt. Nacheinander fahren sie in eine große Halle der Verbrennungsanlage "Son Reus" und laden tonnenweise Abfall ab. Es stinkt bestialisch. Jeder, der in diese Zone der Anlage will, muss einen Spezialanzug tragen – dazu Schutzhelm und Atemmaske. Doch der stechende Geruch liegt trotzdem in der Nase. Für Joan Mateo von der Betreiberfirma ist das Alltag, ebenso wie die riesigen Mengen Müll im Sommer:
"Die Daten, die uns vorliegen, zeigen, dass im Juli und im August auf Mallorca fast doppelt so viel Müll anfällt wie in der Nebensaison – genau 1,8 Mal so viel."
Der Müll kommt vor allem von Hotels, von denen jetzt im Sommer viele ausgebucht sind. Im Moment werden in der Anlage pro Tag etwa 2000 Tonnen Müll verbrannt, also zwei Millionen Kilogramm. Alle vier Brennöfen laufen, sie sind zu 90 Prozent ausgelastet. Viel mehr Müll kann die Anlage also nicht verarbeiten.
Die Müllverbrennungsanlage "Son Reus" ist immerhin eine der modernsten in ganz Spanien – und eine der größten. Trotz Hochbetrieb kommt aus den Schornsteinen kein sichtbarer Rauch. Entsprechende Partikel werden herausgefiltert und gesammelt. Doch was passiert damit? Umweltschützer Joaquin Validivieso von der Gruppe "Terrajerida":
"Die Betreiberfirma weiß nicht, was sie mit den Resten der Verbrennung anstellen soll, Asche und Schlacke. Es ist ein riesiger Berg aus diesen Reststoffen entstanden, gleich neben der Verbrennungsanlage."
Vom Anlagenbetreiber heißt es dagegen: Es gebe sehr wohl eine Verwendung für die Überbleibsel der Müllverbrennung. Sie könnten zum Beispiel für die Produktion von Baustoffen verwendet werden. Doch darüber macht sich Joan Mateo von der Betreiberfima im Moment keine Gedanken – er muss zusehen, dass jetzt in der Hochsaison in der Anlage alles funktioniert.
Pannen wären schlecht, dann bliebe Müll liegen. Joan blickt schon auf die entspanntere Zeit nach dem Touristenansturm:
"November, Dezember, bis in den Februar hinein laufen nur zwei der vier Brennöfen. Dann haben wir Kapazität für Wartungsarbeiten. Damit alles perfekt läuft, wenn die Urlauber wieder kommen."
Doch erstmal müssen Joan und seine Kollegen den aktuellen Ansturm bewältigen. Und dafür müssen Mallorcas Müll-Leute schon sehr früh aufstehen.
Straße des Glücks für Ballermann-Touristen
Gegen 7 Uhr morgens drückt die Playa de Palma kollektiv den Reset-Knopf. Alles zurück auf Null. Eine Kehrmaschine fegt die Reste der vergangenen Nacht weg, ein Straßenreiniger spritzt die Straße ab, ein Bagger kippt Haufen aus leeren Dosen und Flaschen auf die Ladefläche eines LKW. Und für eine Gruppe aus Trier geht ein langer Tag zu Ende. Einer von ihnen zeichnet noch mal den Abend nach:
"Erst Hotel, dann Zwischentrinken, dann Bierkönig. Nach dem Bierkönig sind wir jetzt am Meer. Jetzt gehen wir erst mal Frühstücken, vielleicht schaffen wir es später zum Freibier im Megapark."
Für den Ballermann-Touristen ist die Schinkenstraße die Straße des Glücks. Für Mallorcas neuen Bürgermeister dagegen die Verkörperung allen Übels. Zumindest in ihrer jetzigen Form. Antoni Noguera:
"Diese Zone ist der Schandfleck der Playa de Palma. Wo Alkohol in rauen Mengen ausgeschenkt wird, wo im Juni auch eine Gruppe von Neonazis untergekommen ist. Wir müssen die Veranstalter dazu bringen, dass sie ihr Geschäftsmodell ändern und auf Qualitätstourismus setzen."
Jahrelang haben Politiker und Polizisten am Ballermann beide Augen zugedrückt - unter anderem auf Druck von mächtigen Nachtclub-Betreibern. Bürgermeister Noguera will am Ballermann aufräumen, den Sauf-Exzessen ein Ende bereiten. In einem Interview kurz nach seinem Amtsantritt schimpfte er auf die schlimmen Touristen aus Deutschland. Um nachher einzuräumen, dass er von einer kleinen Minderheit sprach, die ausschließlich zum Besäufnis nach Mallorca kommt:
"Ich will nicht, dass Palma in der Welt dafür berühmt wird."
Bierkönig-Sängerin Mia Julia:
"Dass der Bürgermeister dann da irgendwann einen Riegel vorschiebt, dafür habe ich Verständnis."
Vor fünf Jahren hat sie am Ballermann angefangen. Ein Bekannter brachte sie dazu. Am Anfang stand sie noch mit zitternden Knien auf der Bühne. Heute kann sie nicht mehr ohne.
Für ihre Shows pendelt sie zwischen Deutschland und Mallorca. Die Atmosphäre im Bierkönig sei aber besonders, sagt sie. Schon allein wegen der Urlaubsstimmung.
"Man war vielleicht tagsüber noch am Strand, man ist nicht zu Hause – man ist einfach weg. Man ist auf Mallorca im Bierkönig, das ist einfach einmalig, diese Stimmung!"
Mia Julia sitzt auf der Terrasse eines Cafés in El Arenal. Es ist vier Uhr nachmittags, die Augen sind noch etwas klein – und die Stimme noch etwas heiserer als sonst. Im Gegensatz zu ihren Fans trinkt sie kaum Alkohol, sagt sie. Sonst würde sie den Job nicht durchhalten. Und wohl auch nicht kühlen Kopf bewahren, wenn es drauf ankommt. So wie kürzlich, als sie sah, dass Neonazis auf der Bühne eine Reichsflagge gehisst hatten. Sie unterbrach das Konzert:
"Wenn ich etwas unfair finde, dann sage ich: 'Hey Leute, was ist denn los mit Euch? Nein, Stop!' Wenn ich merke, dass Sachen rumgeworfen oder Leute weggeschubst werden, dann sage ich: Alles klar bei Dir?"
Schmaler Grat zwischen Euphorie und Gewalt
Mia Julia weiß, dass die Stimmung schnell kippen kann. Der Grat ist schmal zwischen Euphorie und Gewalt, zwischen einem Rempler und einer Schlägerei:
"Wenn da draußen jemand was kaputt schlägt, da habe ich kein Verständnis für. Was hat das mit Urlaubsfeeling zu tun, mit Party machen? Wir sind hier alle zu Gast in einem fremden Land. Wir wollen auch, dass sich die Gäste bei uns ordentlich benehmen!"
Aber genau das machen viele eben nicht. Biel Barceló ist eigentlich ein ziemlich ruhiger, gelassener Mensch. Aber beim Thema Tourismus kommt er schnell in Fahrt:
"Es gibt Touristen, denen es Spaß macht, das Eigentum von anderen zu zerstören. Denen es Spaß macht, andere zu beleidigen, in unsere Straßen zu pinkeln und sich dort zu prügeln."
Barceló wirft den Behörden vor, zu häufig wegzuschauen in El Arenal. Um keinen Unfrieden zu säen. Barceló kennt sein Viertel ziemlich gut. In einem großen Hotel arbeitet der 53-Jährige als Hausmeister. Und außerdem ist er Anwohner. Ja, es gibt tatsächlich Menschen, die hier wohnen und schlafen, direkt am Ballermann:
"La noche funciona..sin dormir."
Biel Barceló schläft nicht mehr, sagt er. Er hat es satt: Den Lärm, die Exzesse, den Gestank. Sein Viertel mag er aber zu sehr, um wegzuziehen. Seit längerem engagiert er sich für einen Anwohnerverein. Er will Druck auf die Inselpolitiker ausüben. Sie dazu bringen, dass sie ernstmachen mit ihren Versprechen: Aus dem Ballermann-Tourismus einen Qualitäts-Tourismus zu machen. Dass sie jene Hoteliers bremsen, die weiterhin vor allem mit saufenden deutschen Jugendlichen Geld verdienen wollen. In El Arenal werde es von Jahr zu Jahr schlimmer, auch in seinem Hotel:
Jeden Tag gibt es Probleme, musst Du die Polizei rufen, zerstören sie Zimmer ... Du kannst Dir das gar nicht vorstellen..."
Ruhe und Frieden im Hinterland
Vielleicht sollte Biel Barceló doch noch mal über einen Umzug nachdenken. Denn Ruhe und Frieden sind nur ein paar Kilometer entfernt. Im Hinterland von Mallorca.
Trotz allem Urlauberansturm gilt immer noch: Mallorca ist groß und sehr vielfältig. Genau das macht ja den Reiz der Insel aus. Ein Reiz, der noch immer nicht verblasst ist. Trotz elf Millionen Besuchern pro Jahr.