Überfüllte Hörsäle, überladene Lehrpläne

Von Philip Kovce |
Es ist höchste Zeit, an den Hochschulen neue Formen des Lehrens zu etablieren, findet Philip Kovce, der am Philosophicum in Basel forscht. Professoren und Studierende sollten sich beim Lehren und Lernen wechselseitig stimulieren. Und zwar über die engen Grenzen der eigenen Fachwelt hinaus.
Der Philosoph Richard David Precht, der Sozialpsychologe Harald Welzer, der Neurowissenschaftler Gerald Hüther – die Liste prominenter Schulkritiker ist lang. Sie fordern, Fächergrenzen aufzulösen, Frontalunterricht abzuschaffen oder die Benotung auszusetzen. Wenn sie auch nicht breite Zustimmung finden, so doch zumindest Gehör. Schulkritik ist bestsellertauglich geworden.

Ganz anders die Hochschulkritik: Entweder gibt es sie nicht, oder sie vermag keine gesellschaftlichen Debatten auszulösen. Zwar gehört es zum guten Ton akademischer Intelligenz herumzunörgeln: am Bologna-Prozess, am Alltag von Forschung und Lehre, am leidigen Etat. Doch wirklich kritisch setzen sich Professoren lieber mit Schulen als mit Universitäten auseinander.

Dabei sind die Zustände gleichermaßen himmelschreiend. Wird diskutiert, ob Lehrer schon mit 20 oder erst mit 30 Schülern überfordert seien, so interessiert es niemanden, dass Studenten zu Hunderten auf Treppen vollbesetzter Hörsäle lungern, während der Professor zum x-ten Mal seine Einführungsvorlesung abspult. Erkenntnisgewinn: Fehlanzeige.

Überfüllte Hörsäle, überladene Lehrpläne, übertriebene Prüfungsorgien – all diese Unsäglichkeiten rechtfertigen es, auch für die Hochschule zu fordern: Schluss mit starrer Fächertrennung, Schluss mit sinnlosen Vorlesungen, Schluss mit nichtssagenden Noten!

Die Grenzen seines Faches markieren für den Gelehrten die Grenzen seiner Welt. Doch längst schwindet die Legitimation, sich in die schöne, heile Fachwelt zurückzuziehen. Denn es reicht nicht mehr aus, Wirtschaft zu studieren, um die Finanzkrise zu verstehen; Politik zu pauken, um Europa zu begreifen; Chemie zu büffeln, um den Klimawandel einzuschätzen.

Die Vorlesung hat überlebt, die Zukunft gehört dem Kolloquium
Neue Fragen rufen alle Forscher auf, sich in ihren Dienst zu stellen. Diese Herausforderungen, nicht die tradierten Fächer, sind die Disziplinen der Zukunft.

Die klassische Vorlesung, die auf Wissensvermittlung abzielt, hat sich überlebt. Fachliches Grundwissen lässt sich heute aus Büchern ebenso gut gewinnen wie aus enzyklopädischen Angeboten des digitalen Zeitalters. Dafür muss niemand in übervollen Auditorien hocken.

Die Zukunft gehört dem Kolloquium, in dem sich Professoren und Studenten lernend und lehrend wechselseitig stimulieren. Grundwissen wird mehr und mehr fragil, wenn es heißt, komplizierte Einzelfälle zu lösen. Wo diese gemeinsam forschend erschlossen werden, wird eine Lehre, die vor Massenpublikum die Mär vom gesicherten Grundwissen verbreiten will, überflüssig.

Die Spuren, die ein Student auf seinem Bildungsweg hinterlässt, gilt es, sinnvoll aufzuzeichnen. Je individueller dieser Weg, desto individueller seine Dokumentation. Noten helfen dabei nicht weiter.

Was sagen skalierte Werte von 1 bis 6 über menschliche Fähigkeiten aus? Nichts und wieder nichts. Sie lassen im Dunkeln, was sie zu erhellen vorgeben. Sie schweigen sich über die Individualität aus und suggerieren eine Objektivität und Vergleichbarkeit, die so nicht besteht. Es werden also bessere Formen der Bewertung zu finden sein – von Fall zu Fall unterschiedliche.

Das ist überhaupt der Kernpunkt: Es geht ja nicht darum, alte Statuten durch neue zu ersetzen – also am Reißbrett Fächergrenzen einzureißen, Frontalunterricht zu verbieten oder Noten unter Strafe zu stellen. Es geht vielmehr darum, Freiräume einzufordern, die es ermöglichen, von Fall zu Fall nach dem Richtigen zu suchen.

Dafür gilt es, die Bildungsplanwirtschaft aufzugeben. Schulkritiker und Hochschulkritiker, sie könnten sich bei dieser Forderung zusammenfinden.

Denn es ist so überflüssig wie hinderlich, dass unzählige Stunden und Euros verschlungen werden von einer Bildungsverwaltung, die vielleicht keinen schlechten, jedoch den falschen Job macht; die meint, stützen zu müssen, was sich nur frei entfalten kann: der freie Geist.


Philip Kovce, Jahrgang 1986, studiert Wirtschaftswissenschaften, Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke, forscht am Philosophicum in Basel und arbeitet als freier Autor für Presse und Rundfunk.
Philip Kovce
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