Mit ambulanter Therapie zur gesünderen Lebensweise
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Mobbing, Depressionen, Diabetes: Für übergewichtige und adipöse Kinder und Jugendliche ist der Leidensdruck oft enorm. Dennoch schaffen viele es nicht abzunehmen. Ein ambulantes Therapieprogramm der Uni Köln hilft ihnen, ihren Lebensstil zu ändern.
In einer kleinen Turnhalle in Kölns Univiertel südwestlich der Innenstadt traben fünf Jugendliche im Kreis – drei Mädchen und zwei Jungs.
"Versucht das mal so leise hinzukriegen, dass man hier nichts mehr hört", sagt Natalie Stertz, die mit ihnen läuft. Die Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin trainiert die Gruppe, die heute zum letzten Mal zusammenkommt. Ein sportlicher Abschlusstest steht an.
Sechs Monate lang haben die 14- bis 17-Jährigen miteinander trainiert. Sie alle wollten Gewicht verlieren – oder es zumindest halten. Deshalb kamen sie hierher, zur ambulanten Reha für adipöse Kinder und Jugendliche.
"Nachdem ich hier war, wurde mir klar, dass eigentlich mein Ziel ist, gesünder zu leben, Sport zu machen, aktiver im Leben zu sein."
"Man lernt halt allgemein auch ganz viel anderes dazu, wie man sich zum Beispiel ernähren kann", erzählen Yeter, 17 Jahre, und Jale, 15 Jahre alt.
Über 15 Prozent der Jugendlichen haben Übergewicht
Gut 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig, knapp die Hälfte davon adipös, also extrem übergewichtig. Die zusätzlichen Kilos belasten die jungen Körper: Bluthochdruck, Herzrasen, Hüft- und Knieschmerzen, Diabetes sind nicht selten. Viele Kinder erleben wegen ihres Übergewichts Mobbing, manche ziehen sich zurück, auch Depressionen können entstehen. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig dagegen zu wirken.
"Am überraschendsten war, dass so kleine Ziele, die zum großen Ziel führen… immer so klein anzufangen. Wenn man dann merkt, dass man das schafft, ist man noch motivierter", sagt Jale.
Yater sieht das ganz ähnlich: "Selbst das Einkaufen, Hochtragen, das fällt einem schon leicht, generell macht das Leben mehr Spaß, würde ich sagen, weil man jetzt aktiver ist, weil man mehr Lust hat, etwas zu machen, auch mal längere Wege zu gehen. Es ist einfach so eine komplette Umstellung gewesen."
Jale, Yeter und die anderen Gruppen-Teilnehmer haben Glück, dass sie in Köln wohnen. Zwar gibt es in Deutschland viele stationäre Reha-Maßnahmen für adipöse Kinder und Jugendliche, ambulante Angebote aber sucht man fast vergebens.
"Wir haben uns überlegt, dass es eine gute Ergänzung wäre, wenn es was gibt, wo die Kinder im Rahmen ihres Lebensalltags die Sachen trainieren können und das direkt umsetzen können", sagt Astrid Schirmer-Petri. Sie ist als Psychologin Teil des Reha-Programms. Außerdem gibt es Ernährungswissenschaftler und Kinderärztinnen im Team von AMLOR – der "Ambulanten Medizinisch-Lebenswelt orientierten Rehabilitation". Sechs Monate lang kommen die Jugendlichen nachmittags nach der Schule in die Uniklinik – in Intensivwochen jeden Tag, ansonsten einmal die Woche, erklärt Kinderärztin Miriam Jackels.
"Die Jugendlichen, die kommen oft aus eigener Motivation, weil die möchten, dass sich was ändert, während die kleinen Kinder, die acht- bis zwölfjährigen, keine Eigenmotivation mitbringen und auch noch kein eigenes Ziel haben."
Schulnahe Fast-Food-Restaurants als Ess-Falle
Hier sei es wichtig, dass auch die Eltern mitmachen. Überhaupt ist das Thema Übergewicht im Kinder- und Jugendalter stark mit den Familiengewohnheiten verbunden. Wie viel Zeit verbringt die Familie auf dem Sofa? Gibt es Fahrradausflüge oder Spaziergänge am Wochenende? Was wird gekocht, was eingekauft?
Sportwissenschaftlerin Natalie Stertz besucht deshalb die Teilnehmer:innen auch zu Hause, "wo ich dann nochmal individuell beraten kann, was für Angebote es im häuslichen Umfeld gibt, was sie individuell machen können".
Dabei geht es um Sportangebote in der Nähe, um den Schulweg, der vielleicht auch zu Fuß oder mit dem Rad absolviert werden kann. Außerdem wird geguckt: Wo liegen die Schwierigkeiten? Gibt es zum Beispiel Fast-Food-Restaurants in der Nachbarschaft, die regelmäßig nach der Schule angesteuert werden?
"Ich überlege mit den Kindern und Jugendlichen ganz viel: Was macht ihnen Spaß, was können sie sich vorstellen, längerfristig weiterhin auch zu machen?"
Ernährungslehre gehört in die Schule
Insbesondere wenn es um die längerfristige Perspektive geht, sehen die AMLOR-Mitarbeiter allerdings auch gesellschaftliche Hürden.
"Da können wir ganz viel Reha machen, aber wir entlassen die in ein Umfeld, das eine ganz große Rückfallgefahr birgt", sagt Astrid Schirmer-Petri.
"Im Einzelfall haben wir gute Erfolge, aber das ist natürlich ein gesellschaftliches und politisches Problem, das man ganz anders angehen müsste", ergänzt Miriam Jackels.
Es könne doch nicht sein, dass es in manchen Schulkiosken nur süße Getränke, aber kein Wasser gebe. Auch das Thema Ernährungslehre müsste viel stärker Teil des Stundenplans sein. Die Erfahrung mit den AMLOR-Teilnehmer:innen habe gezeigt: Es mangle nicht an der Motivation, gesund zu leben, sondern häufig am Wissen darüber.
"Das stelle ich durch die Bank weg fest, dass die alle Lust und Spaß haben, sich zu bewegen, wenn man denen die Möglichkeit gibt, frei zu experimentieren, und nicht so viel Wert legt auf Leistung", sagt Sportwissenschaftlerin Natalie Stertz. Sie beobachtet schon länger, "dass es wirklich ein großes Problem damit gibt, die Kinder, ich sage mal, zwischen 8 und 14 irgendwo unterzukriegen, die nicht aus einem Leistungsgedanken heraus Sport machen wollen. Und da denke ich schon, dass das eine gesellschaftliche Aufgabe sein muss, ein anderes System von Breitensport und von Vereinssport aufzubauen."
"Ich habe einen ganz neuen Lifestyle entwickelt"
In der Turnhalle der Unireha Köln testen sich die Jugendlichen mittlerweile in Sit-ups und Balanceübungen. Die 15-jährige Jale ist gerade beim Stand-Weitsprung.
"Ich war hier drin noch nie gut."
"Einmal richtig Schwung holen, und zack ... Ja, sehr gut. 116!"
"Oh mein Gott, ich glaube, ich habe das noch nie so weit geschafft."
Der 14-jährige Timo nickt ihr anerkennend zu. Er wird die Gruppe vermissen, sie hat ihm viel geholfen, erzählt er, vor allem: "Der Zusammenhalt in der Gruppe war sehr stark. Wir haben uns immer gegenseitig unterstützt und immer gegenseitig motiviert."
"Die Zeit war einfach sehr toll, die anderen haben sehr motiviert, auch wenn man einmal nicht mehr konnte oder kaputt war", meint auch Alyna, 15 Jahre alt. Beide hoffen, dranzubleiben, nicht wieder zuzunehmen. Der 14-jährige Maxim ist sich sicher, dass er das jetzt schaffen kann.
"Ich habe hier einen ganz neuen Lifestyle entwickelt. Das wurde mir hier beigebracht, gesund zu leben, regelmäßig essen, Sport machen und das Gleichgewicht halten."