Überleben einer herausragenden Kultur

Von Igal Avidan |
Vor der Shoah lebten rund 100.000 Juden in Bukarest, heute sind es nur noch 4000. Dennoch oder vielleicht deswegen war das Interesse am ersten Jüdischen Filmfestival in Bukarest so groß, bei dem 29 neue Filme zur jüdischen Geschichte und Kultur zu sehen waren.
Fast alle 400 roten Plüschsessel im Cinema Studio sind heute Abend besetzt. Festivaldirektor Paul Ghitiu kann aufatmen: alle geladenen Gäste – die älteren vorne, die jüngeren hinten – können einen Sitzplatz finden. In den Gängen platzieren sich die Kameraleute und Pressefotografen. Im Gegensatz zu Deutschland befindet sich die Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Rumänien erst am Anfang. Nur jeder Vierte glaubt nach einer neuen Umfrage, dass die Judenvernichtung auch in Rumänien stattgefunden hat. An diese Geschichte erinnerte bei der Eröffnungsfeier der erst 31-jährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Bukarest, Erwin Shimshenson:

"1941 brannten in Bukarest viele Synagogen, jüdische Bücher und Thorarollen; Juden wurden in den Jilava-Wald getrieben und dort erschossen. 70 Jahre später feiern wir heute die jüdische Kultur und jüdisches Leben hier durch dieses Festival. Dies ist das schönste Zeichen des Überlebens einer herausragenden Zivilisation und Kultur."

Rund 280.000 Juden wurden in Rumänien ermordet, die meisten durch Rumänen selbst. Nach dem Krieg emigrierten 400.000 Juden, so auch Hedi Fried. Wie eine Heldin wird diese Protagonistin des amerikanischen Dokumentarfilms "The Last Survivor" bei der Premiere gefeiert. Porträtiert wurden im Film die Überlebende des Holocaust zusammen mit drei Überlebenden der Völkermörder in Ruanda, Darfur und Kongo. Die alte Dame trat in einem schicken hellgrünen Kostüm und mit einer großen Sonnenbrille auf. Die Zuschauer würdigten vor allem, dass sie nach so vielen Jahren in Schweden immer noch fließend Rumänisch spricht. Sie halfen mit, wenn ihr manchmal nicht das richtige Wort einfiel. In der Diskussion regte Hedi Fried an, Selbstverantwortung zu übernehmen:

"Glaubt nicht, dass die Politiker euer Leben organisieren werden. Sie denken nur an sich selbst, also denkt ihr auch an eure Interessen. Ich habe das Alter von 87 Jahren erreicht und habe niemals gedacht, ich werde so lange leben und Schülern und Lehrern über meine Erfahrungen erzählen, damit die Jugend die damalige Zeit versteht."

In nur einem Monat entstand dieses Festival, gefördert vom Kulturministerium, dem Nationalen Kinozentrum und Privatsponsoren. Als Gäste kamen 10 Filmemacher, die mit den Zuschauern diskutierten. Immer mehr Rumänen zeigen Interesse für jüdische Kultur und Geschichte, sagt Festivaldirektor Paul Ghitiu. Vor dem Krieg waren die 800.000 rumänischen Juden in Rumänien sehr präsent, jetzt nicht mehr, sagt der 49-Jährige.

"Meine Eltern und Großeltern lebten zusammen mit Juden und wussten daher viel über sie, sie waren Nachbarn. Heute weiß die junge Generation fast nichts mehr über diese einst große Gemeinde und glaubt daher an negative Mythen. Daher müssen wir diese Wissenslücke durch Filme füllen, und dazu eignen sich Dokumentarfilme besser als Spielfilme."

Die meisten der 29 Filme, die zur Hälfte vom Jüdischen Filmfestival in Berlin übernommen wurden, zeigten jüdisches Leben in den USA, Israel, Frankreich, Russland und Argentinien. Angesichts der Wirtschaftskrise war der Eintritt kostenlos, so dass die Abendaufführungen sehr gut besucht waren. Bei den Open-Air-Vorstellungen saßen vor allem jüngere Zuschauer im Innenhof eines Kulturzentrums, tranken Bier und schauten sich wohl zum ersten Mal auf der Leinwand einen betenden Juden an.

Iulian Morer, der künstlerische Leiter des Festivals, musste viel improvisieren. Sein kleines Team konnte dennoch alle ausländischen Filme mit rumänischen Untertiteln versorgen und einen 150-Seiten Katalog erstellen, den die Zuschauer kostenlos erhielten. Beim Berliner jüdischen Filmfestival musste man hingegen aus finanziellen Gründen auf Untertitel und Katalog verzichten.
Die erste Aufführung begann um 14 Uhr, die letzte um 22 Uhr, und Iulian Morer pendelte zwischen den zwei Kinos und dem Open-Air-Cafe:

"Es ist sehr heiß in Bukarest, aber die Zuschauer kommen dennoch und bei den Abendaufführungen ist der Saal oft voll. Nachmittags ist die Hitze wirklich ein Problem: Man kann es draußen kaum aushalten."

Im Saal spürte man die Klimaanlage kaum, dennoch zeigte sich das Publikum geduldig und lernwillig. Jeder vierte Rumäne hat laut einer aktuellen Umfrage vom Holocaust noch nie gehört und nur jeder Vierte glaubt, dass die Judenvernichtung auch in Rumänien stattgefunden hat. Vor diesem Hintergrund waren die Dokumentationen mit rumänischen Überlebenden der Shoah sehr wichtig. Aber eine kritische Auseinandersetzung mit den rumänischen Tätern fand bei diesem Festival nicht statt.
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