Überleben im Gedächtnis der anderen

Von Stefanie Oswalt |
Vilém Flusser gilt als erster Vordenker des Internets – noch vor dem Internetzeitalter. Die Gedanken des jüdischen Kommunikations- und Medienphilosoph zur Demokratisierung der Öffentlichkeit durch die modernen Medien sind aktuell wie nie.
Andreas Müller-Pohle: "Für Flusser ist typisch, dass er in der Krise nicht nur etwas Negatives sieht. Er hat die Krise immer als eine Chance gesehen. Er war kein Pessimist. Er war natürlich nicht leichtgläubig, er hat keine Illusionen gehabt über die vor uns liegende Problematik. Aber er hat eine Begeisterungsfähigkeit gehabt als Mensch, die auch in seiner Philosophie zum Ausdruck gebracht, die dazu geführt hat, dass man die Dinge immer von zwei Seiten sehen kann."

Claudia Becker: "Er war eben kein Philosoph, der die Wahrheit gesagt hat, das wäre ihm auch, glaube ich, viel zu langweilig gewesen, ihm ging es darum, dem Anderen Denken beizubringen, zum Denken anzuregen."

Mit Leidenschaft werben Andreas Müller-Pohle und Claudia Becker dafür, Vilém Flusser zwanzig Jahre nach seinem Tod neu- oder wieder zu entdecken. Müller-Pohle begegnete dem Philosophen 1982 und machte als Verleger sein Werk in Deutschland bekannt. Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Becker betreut das Vilém-Flusser-Archiv an der Berliner Universität der Künste. Beide verehren Flusser als Philosophen, der in seinen Theorien die Krisen der gegenwärtigen Welt vorwegnahm.

Andreas Müller-Pohle: "Wenn Sie nach der Aktualität Flussers fragen: nehmen Sie die Weltwirtschaftskrise, nehmen wir die Welt-Klima-Krise. Das sind Krisen, die letztendlich in Apparaten entstehen und von Apparaten zu verantworten sind und deren Problematik auch daher rührt, dass die Apparate keine erkennbaren Lösungsangebote machen."

In seiner so genannten Apparate-Theorie, die Pohle als Kernstück der Flusserischen Philosophie sieht, vergleicht Flusser die Funktionsweise eines Fotoapparates mit der von gesellschaftlichen Gebilden wie etwa Staaten. Sein Appell, vor allem an die Künstler:

Andreas Müller-Pohle: "Sich gegen die Apparate zu engagieren, um Freiheitsgrade zu erkämpfen..."

Schon in den 80er Jahren setzte sich Flusser zudem mit der Entwicklung der digitalen Netze auseinander, erklärt Siegfried Zielinksi, Professor für Medientheorie an der Berliner Universität der Künste und Leiter des Vilém-Flusser Archivs.

Siegfried Zielinksi: "Er war sich sehr wohl bewusst, dass diese ganze Vernetzung eine in sich ambivalente, widersprüchliche Angelegenheit ist und dass das Netz durchaus auch selber so etwas wie eine Macht entfalten kann."

Flusser habe die Netze in ihrer theologischen und religiösen Dimension analysiert, und dabei die Ideen jüdischer Philosophen weitergedacht:

Siegfried Zielinksi: "Flusser kam ja ganz stark von Martin Buber und seinem dialogischen Denken, seiner Dialogphilosophie. Die Idee, dass im Gesicht des anderen, das da auf dem Monitor erscheint, das Antlitz Gottes in einer spezifischen Form erscheint, das heißt, dass das Du vorhanden ist, mit dem ich dann in ein Verhältnis trete, ist hoch aktuell."

Der posthum 1995 erschienenen Band "Jude-Sein" belegt, dass Flusser sein Leben lang über existenzielle, kulturelle, religiöse Aspekte des Judentums reflektiert hat. Viele dieser Gedanken entstanden im Dialog mit seinem in Israel lebenden Cousin David Flusser, einem renommierten Religionswissenschaftler und Christusforscher. Provozierend schreibt Flusser in "Jude-Sein" beispielsweise über das orthodoxe Judentum:

"Das ursprüngliche Judentum (ist) eine Summe konkreter Modelle für ein Verhalten, das dem absurden Leben Bedeutung verleiht. Das ganze Judentum ist eine Herausforderung des Absurden"

In einem Interview aus dem Jahr 1990, das das Flusser-Archiv aus Anlass des 20. Todestags auf DVD zugänglich gemacht hat, bekennt Flusser:

"Je älter ich werde, desto jüdischer werde ich. Dieses Jüdisch-Sein ist mit meiner Vorstellung vom Tod verbunden. Ich glaube, der Grund legende Unterschied zwischen Judentum und Christentum besteht darin, dass für die Christen etwas im Menschen ist: ein Geist, eine Seele oder wie auch immer man es nennen will, das den Tod überlebt. Und bei den Juden ist dies deutlich immaterieller: Die Vorstellung ist, dass wir im Gedächtnis der anderen überleben werden."

1991 kehrte Flusser erstmalig in seine Geburtsstadt Prag zurück. Am 27. November verunglückte er auf dem Rückweg kurz vor der deutschen Grenze tödlich bei einem Autounfall. Sein Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Prag zitiert den Propheten Hosea: "Wer ist weise, dass er dies versteht und klug, dass er dies einsieht?"
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