Überlebende von Terroranschlägen

Der schwierige Weg aus dem Trauma

24:17 Minuten
Cetin Gültekin spricht auf einer Freiluftbühne im Sonnenschein in ein Mikrofon. Auf seinen T-Shirt steht der Name seines ermordeten Bruders Gökhan Gültekin sowie eine Zeichnung dessen Gesichts.
Hinterbliebene zeigen Gesicht: Kundgebung zum rassistischen Terroranschlag von Hanau. Im Bild: Cetin Gültekin, dessen Bruder Gökhan Gültekin bei dem Anschlag im Februar 2020 ermordet wurde. © imago/rheinmainfoto
Von Hans Rubinich |
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Früher waren Terror-Überlebende oft auf sich alleine gestellt. Heute stehen die Opfer mehr im Fokus und erhalten psychische und finanzielle Unterstützung. Doch bis dahin dauert es oft lang: Die Hürden der Beamtenbürokratie schrecken viele ab.
"Mein Name ist Said Etris Hashemi. Ich bin am 1.9.1996 hier in Hanau geboren. Ich bin ein Kind von Einwanderern. Mein Vater ist 1987 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, hat dann kurz darauf, 1993, meine Mutter geheiratet und sich hier in Hanau eine Familie aufgebaut. Wir waren insgesamt fünf: vier Jungs und eine Schwester. Ja – jetzt sind wir vier."
Said Etris Hashemi, Betroffener des Anschlags in Hanau vom 19. Februar 2020. Sein Bruder kam dabei ums Leben.
"Jeder weiß, dass Afghanistan ein Kriegsland ist, dass da Krieg herrscht. Da hat mein Vater irgendwann mal die Entscheidung gefällt, nach Deutschland zu kommen, weil er eine Perspektive, eine Zukunft gesehen hat. Weil er hier eine Familie gründen und sesshaft werden wollte."

"Man versucht, um sein Leben zu kämpfen"

Said Etris Hashemi lebt bei seiner Familie. Und nur ein paar Minuten entfernt von einem der Tatorte, der Arena-Bar. Dort geht er oft mit seinen Freunden hin. Auch an diesem Abend. Sein Bruder kommt mit.
"Wir saßen in der Runde mit den Jungs zusammen. Dann haben wir mehrere Schüsse von draußen gehört. Ich bin dann aufgestanden. Wir hatten Februar. Ich dachte mir, Silvester ist schon vorbei. Das hört sich auf jeden Fall nicht normal an. Das habe ich auch zu den Jungs gesagt und bin dann Richtung Ausgang gelaufen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Und als ich dann Richtung Tür gelaufen bin, habe ich schon gesehen, wie der Täter mit der Waffe in der Hand rein gelaufen ist und mich angeschaut hat. Aber dann ist er erst mal in den Kiosk rein."
Dort schießt er um sich, ermordet drei Menschen. Dann rennt er zurück in die Arena-Bar.
"Dann sind wir nach hinten gerannt. Und dann ist er reingekommen und hat angefangen, auf uns loszuschießen. Wir haben uns hinter einer Säule versteckt. Ich war der Erste an der Säule und alle waren hinten dran.
Man versucht, die ganze Zeit auszuweichen, um sein Leben zu kämpfen. Man merkt es auch nicht, wenn man selbst getroffen wird. Als ich unter der Bar lag, ist alles vorbei gewesen. Da habe ich mein Handy rausgeholt, habe versucht, die Polizei zu verständigen. Die sind beim ersten Mal nicht rangegangen. Beim zweiten Mal auch nicht. Beim dritten Mal habe ich dann eins, eins, zwei, den Notruf gewählt. Da ist dann endlich jemand rangegangen. Und da habe ich gesagt, dass es Schüsse am Kurt-Schumacher-Platz 10 in Hanau-Kesselstadt gab. Und dass wir hier Verletzte und Tote haben."

Das Handy voller Blut

Sein Bruder kommt bei dem Anschlag ums Leben. Das weißt Said Etris Hashemi zu diesem Zeitpunkt nicht.
"Während ich telefoniert habe, habe ich gemerkt, dass meine Zunge langsam taub wurde. Ich habe angefangen zu nuscheln und in dem Moment weiß man ja nicht, was los ist. Und dann hat dann ein Freund zu mir gesagt, dass ich am Hals blute. Als ich mein Handy weggelegt habe, habe ich gesehen, dass mein Handy voller Blut war. Ich habe versucht, nach den anderen zu schauen, ob man noch irgendwie Erste Hilfe leisten oder sonst etwas machen kann – vergeblich."
Neun Menschen kommen bei dem Anschlag ums Leben. Am Ende bringt der Täter seine Mutter und dann sich selbst um.

"Es war wirklich die Hölle auf Erden"

Said Etris Haschemi kommt in die Intensivstation der Universitätsklinik in Frankfurt. Nach und nach realisiert er, was passiert ist. Die Beine kann er kaum bewegen.
"Ich weiß noch, als ich das erste Mal zu gehen angefangen habe. Die Ärzte hatten mir davon abgeraten. Nach sechs Tagen wollte ich wieder laufen. Ich wollte wieder gehen. Es war wirklich die Hölle auf Erden, was ich da auf der Intensivstation durchgemacht habe. Aber zum Glück stehe ich jetzt wieder. Ich kann wieder laufen. Ich kann wieder sprechen."
Arbeiten kann er bis heute nicht. Monatlich bekommt er 280 Euro Krankengeld. Er ist in der Ausbildung, 60 Prozent vom eigentlichen Gehalt werden ausgezahlt.

Welche Hilfen zahlt der Bund?

"Davon kann man natürlich nicht leben", sagt Silke Hoffmann-Bär, Opferbeauftragte der Stadt Hanau. "Ich glaube, das ist auch eine Lücke, bei der man überlegen muss, ob es da nicht Fonds gibt. In Hessen haben wir leider noch keine Fonds für Hinterbliebene von Gewalttaten, um diese Lücke einfach ein Stück weit zu überbrücken."
Silke Hoffmann-Bär betreut die Familie Hashemi von Anfang an. Sie erklärt, wofür der Bund aufkommt:
"Eltern eines getöteten Opfers oder auch Ehepaare bekommen 30.000 Euro. Bei Geschwisterkindern gibt es 15.000 Euro sozusagen als Sofort-Entschädigung. Und die sind relativ schnell gezahlt worden."
Der Bund zahlte Said Etris Hashemi 20.000 Euro aus, da er sowohl Verletzter als auch Bruder war.

"Dieser Schock sitzt tief"

Für die Familie Hashemi spielt nicht nur das Geld eine Rolle, wie Andreas Jäger weiß. Er ist seit kurzem Opferbeauftragter der Stadt Hanau.
"Das war ein großes Thema, da sie nah am Tatort gewohnt haben. Etris, also der Bruder, der ja auch angeschossen wurde, hat mir auch sofort gesagt: 'Andi' - oder damals noch: 'Herr Jäger' -, 'ich kann nicht in mein Kinderzimmer zurück. Da hat mein Bruder mit mir gelegen und geschlafen hat er nebendran. Ich kann einfach nicht in diesen Raum rein.‘"
Die Stadt hilft beim Umzug. Oberbürgermeister Claus Kaminski, Vater von drei Söhnen, hält engen Kontakt zu den Angehörigen, sucht das Gespräch:
"Die Sorge, die Furcht, die Angst ist bis heute präsent. Wenn sie in Hanau in den Abend, in den Nachtstunden hören, wie Polizei oder Krankenwagen unterwegs sind oder wenn sie gar wahrnehmen, dass ein Hubschrauber über der Stadt fliegt, obwohl er 'nur' einen Patienten von unserem Klinikum in die Uniklinik nach Frankfurt verbringt, dann weiß ich jedes Mal, dass bei mir die Frage erscheint: Was ist da los? Müssen wir uns sorgen? Da heißt: Dieser Schock sitzt tief und wird die Bürgerinnen und Bürger von Hanau, so fürchte ich, noch lange nicht verlassen."

"Herzrasen, Panikattacken, kalter Schweiß"

Einer der bekanntesten Terroranschläge in Deutschland liegt über 40 Jahre zurück. Palästinensische Terroristen entführten eine Lufthansa-Maschine. Unter den Passagieren die damals 19-jährige Diana Müll aus Gießen. Sie überlebte, aber ihr Trauma blieb.
"Umgegangen bin ich damit sehr, sehr schwer. Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben irgendwelche psychische Probleme kriege. Das wurde immer schlimmer. Herzrasen, Panikattacken und kalter Schweiß. Du kannst gar nichts mehr anlassen. Ich hatte hier überall Pfützen auf der Haut. Dann kam eine Freundin und hat gesagt: ‚Sag mal Diana, weshalb stehen bei dir alle Schranktüren auf?' Da sagte ich: 'Alle?'. Ja, sagte sie, 'alle, auch die vom Arzneischrank'. Da habe ich gesagt: 'Ich habe immer Angst, dass da einer im Schrank sitzt. Und der kommt da raus.' Und dann hat sie gesagt: 'Hier – jetzt ist Schluss.'"

"Die normale Brutalität"

Deutschland im Herbst 1977. Seit sieben Jahren erschüttern Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) die Republik mit Terrorakten. Es gelingt zwar, die Führungsriege um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin festzunehmen, doch die sogenannte Zweite Generation macht weiter.
Sie entführen den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Ihre Forderung; Die inhaftierten Top-Terroristen sollen freigelassen werden, sonst wird Schleyer erschossen. Die Terroristen in der Lufthansa-Maschine arbeiten mit der RAF zusammen. Sie drohen, die Maschine in die Luft zu sprengen, sollte die Bundesregierung nicht nachgeben.
"Wir hatten nichts zu essen, nichts zu trinken – fünf Tage", erinnert sich Diana Müll. "Du fällst dann irgendwann in ein Delirium. Du sackst einfach weg. Du weißt nicht, wann du geschlafen hast. Und du kriegst auch keinen Sauerstoff. Erst lagen sie, dann hingen sie in ihren Sesseln. Und was dich richtig runterzieht, das ist die permanente Todesangst. Das raubt dir alle Kraft."
Der Anführer der Terroristen nennt sich Mahmud.
"Die normale Brutalität sah so aus, dass er einfach durch den Gang ging. Er kam stolz nach vorne und ist da einfach durchgegangen. Und wenn er dich angeguckt hat, musstest du davon ausgehen, dass er dir den Knauf von der Pistole brutal auf den Kopf haut. Einfach so. Und das haben alle vier gemacht, wenn sie durch sind."

Reporter belagern das Haus

"Ich wollte mich austauschen lassen", erzählt Diana Mülls Mutter. "Ich habe angerufen, und ich habe gesagt: 'Ich lass mich austauschen.' Ich habe von meinen Freunden Geld geliehen, damit ich hinfliegen konnte. Und dann haben die gesagt: 'Nein, das geht nicht.' Und da habe ich mich halt weiter auf die Lufthansa verlassen."
Diana Müll steht im Freien vor einer sichtlich alten Lufthansa-Maschine.
Diana Müll in einer Aufnahme von 2017 vor der "Landshut", dem historischen Flugzeug, das 1977 entführt wurde.© imago/Schuh/Eibner-Pressefoto
In den fünf Tagen der Entführung gibt es keinen Kontakt zu ihrer Tochter. Reporter belagern ihr Haus. Ständig.
"Sie können sich nicht vorstellen, was da bei uns vor der Tür los war. Welche Zeitungen da ankamen. Da kommt keiner rein. Ich will niemanden sehen. Und wenn die Tür nur ein wenig auf war, da haben wir die Füße dazwischen gestellt. Ich hatte mich im Kinderzimmer eingeschlossen. Ich habe gesagt: 'Hier kommt keiner rein. Ich will keinen sehen.'"

Die Pistole an der Schläfe

Am zweiten Tag landet die entführte Maschine in Dubai. In der Maschine spitzt sich die Lage zu. Die Klimaanlage fällt aus. Die Mittagshitze steigt auf 60 Grad. Die Passagiere sind schweißgebadet und halb verdurstet. Mahmud, der Anführer der Terroristen, will weiterfliegen.
"Und dann sollte die Maschine aufgetankt werden. Und da hat der Tower gesagt: 'Wir tanken nicht auf.' Dann haben die Terroristen gedroht, dass sie anfangen, die ersten Passagiere zu erschießen. Wir mussten vor Mahmud hinknien, er hat uns Nummern gegeben und gesagt 'Ich rufe euch gleich zum Erschießen.'"
Diana Müll soll als erste erschossen werden.
"Ich stand in der Tür. Dann hat er mit dem Tower gesprochen. Und gesagt: 'Letzte Chance'. Dann hat er gesagt: 'Gut, dann erschieße ich jetzt Diana, 19, aus Gießen.' Und dann stand er da und hat mir die Pistole an die Schläfe gehalten. Und was auch ganz komisch ist: Seit Jahren habe ich an dieser Stelle keinen Schmerz mehr. Ist das nicht verrückt? Ich kann mir eine Nadel reinstecken. Da passiert nichts. Dann hat er angefangen zu zählen – von zehn auf null. Dann habe ich gedacht: 'Guck raus. Die Sonne scheint.' Und dann habe ich schon die Augen zugemacht. Und dann war er schon bei null. Es ging alles ganz schnell. Dann habe ich gewartet. Und dann hat der Tower geschrien: 'Wir tanken auf' – bei null."

Krankenkasse und Lufthansa - niemand zahlt

Am fünften Tag landet die Maschine in Mogadischu, der Hauptstadt von Somalia. Eine Spezialeinheit des damaligen Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, stürmt in der Nacht das Flugzeug. In einem Schusswechsel sterben drei der vier Terroristen. Alle Passagiere überleben. Nach der Entführung sucht Diana Müll einen Therapeuten auf, um ihr Trauma zu überwinden. Sie wendet sich an ihre Krankenkasse.
"Die haben gesagt, dass sie damit nicht zu tun hätten. Das sei höhere Gewalt. Das Gleiche hat auch die Lufthansa gesagt und keine Kosten übernommen. Dann habe ich einen Job angenommen, nachts in der Diskothek, und dann habe ich das drei Jahre lang abbezahlt."
"In den 60er-, 70er-Jahren war es so, dass man nur Objekt staatlichen Handelns war. Man war kein Subjekt mit eigenen Rechten", erläutert dazu Edgar Franke, Opferbeauftragter der Bundesregierung. "Es dauerte lange, bis man erkannte, dass Menschen, die traumatisiert sind, ganz andere Hilfe brauchen. Das Psychosoziale, wie man das heute nennt, war noch kein Thema. Die Menschen waren überfordert und waren allein gelassen."

Was bei der Entschädigung schief gelaufen ist

September 2020, an einem Tisch in einem Hotel im hessischen Marburg. "Ich habe vor vier Jahren die Opferentschädigungsrente beantragt", sagt Diana Müll. "Deshalb habe ich mich heute mit Herrn Franke getroffen, um ihn mal in Kenntnis zu setzen, wie der Stand im Moment ist."
Edgar Franke ist gekommen und möchte mehr darüber wissen, was damals und bis heute schief gelaufen ist.
"Das Thema Entschädigung ist für mich ein schlimmes Thema", erzählt Diana Müll weiter. "Das muss ich ganz ehrlich sagen. Als ich vier Jahre später sehr krank wurde, musste ich auch die Therapiekosten selbst zahlen. Das ist etwas, was mich heute im Grunde genommen immer noch ein bisschen verbittert. Was mich immer noch entsetzt."
Edgar Franke steht am Redepult des Deutschen Bundestags.
"Die Menschen waren überfordert und waren alleingelassen", sagt SPD-Politiker Edgar Franke.© picture alliance/Flashpic/Jens Krick
Für Edgar Franke zeigt sich in solchen Schilderungen auch, "dass man in der Vergangenheit die Perspektive derjenigen, die Opfer eines terroristischen Anschlags geworden sind, gar nicht hatte. In der Vergangenheit hat man eine Straftat immer aus der Sicht des Täters betrachtet. Gerade auch bei terroristischen Straftaten stand immer der Täter im Vordergrund und eben nicht die oder das Opfer."
Diana Müll wünscht sich, "dass es jetzt langsam vorangeht. Ich freue mich, dass es wirklich Leute gibt, die sich dafür einsetzen und mir auf diesem Wege helfen."
"Wir werden uns anschauen, was man machen kann", verspricht Edgar Franke. "Man muss natürlich auch sagen, dass es damals eine ganz andere Rechtsgrundlage gab. Wir werden tun, was wir tun können und uns mit der nötigen Aufmerksamkeit die Schicksale der Opfer vor 40, 50 Jahren nochmal anschauen."

"Alles ist mir entgegengeflogen"

19. Dezember 2016. Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz.
"Wir hatten nur den Blick quer zur Gehrichtung des Weihnachtsmarktes", erinnert sich Sascha Klösters. "Den LKW selber haben wir nicht gesehen. Wir haben nur gehört, wie es geknallt hat, wie das immer lauter wurde. Man hat überhaupt keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was das ist. Da war das schon bei uns. Es ging alles ganz schnell – etwa zwei Sekunden bei uns und die ganze Bude wurde zerstört."
Zwölf Menschen kommen ums Leben, 60 werden schwer verletzt. Der Attentäter steuerte einen Lastwagen in eine Glühweinbude. Unter den Opfern auch Sascha Klösters und seine Mutter. Er überlebt, sie kommt bei dem Anschlag ums Leben.
"Wir haben nur noch die Schreie gehört von den Leuten, die weggerannt sind. Wir wussten aber nicht, was es war. Wir hatten ja den LKW nicht gesehen. Ich habe ihn auch noch nicht gesehen, als er durch unseren Glühweinstand gefahren ist. Ich habe den LKW erst gesehen, als er neben mir stand. Und in dem Augenblick wusste ich überhaupt nicht mehr, wo die ganzen Leute gewesen sind. Nur noch so eine Wand mit Schutt, Metall, Grünzeug. Alles ist mir entgegengeflogen."

"Man heult, man weint, man schreit"

Astrid Passin aus Berlin und Mutter einer Tochter ist an diesem Abend zu Hause. Ihr Vater besucht mit seiner Lebensgefährtin den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Er überlebt nicht. Astrid Passin verfolgt den Anschlag im Fernsehen. Sie weiß nicht, dass ihr Vater unter den Opfern ist. Am nächsten Morgen ruft die Lebensgefährtin ihres Vaters sie an.
"Ich habe sie erst gar nicht verstanden. Sie hat nur geweint und was geschrien am Telefon. Und irgendwann kam dann der Satz: 'Papi ist tot'. Und da ist erst mal - 'wie jetzt, Papi ist tot?' Und dann hat sie mir gesagt: 'Wir waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz'. Und in dem Moment war ich außer mir und bin zusammengebrochen. Ich konnte dann auch nicht mehr weiterreden. Das war dieser Moment, der so einschlug im Körper, wie man es nicht kennt, wie man es nicht kennen kann. Was eine absolute Ausnahmesituation war. Man weiß nicht, wohin mit sich. Und man ist so unter Spannung. Man heult, man weint, man schreit. Man kann es einfach nicht fassen, dass man betroffen ist."
Astrid Passin kniet auf der Treppe vor der Gedächtniskirche Berlin nieder, um Blumen abzulegen.
Astrid Passin, eine Hinterbliebene des Anschlags vom Breitscheidplatz, bei einer Gedenkveranstaltung im Dezember 2018.© imago/epd/Christian Ditsch
Astrid Passin nimmt sich einen Seelsorger zu Hilfe, mit dem sie sich austauschen und besprechen kann.
Und von Anfang an unterstützt sie die Hinterbliebenen, wird deren Sprecherin. Heute – vier Jahren nach dem Anschlag – ist es für sie eine Lebensaufgabe:
"Das ist jetzt für mich einfach der Punkt, an dem ich sage: Ich kann jetzt einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Für mich fängt jetzt eine neue Zeit an, weil die Arbeit, die ich bisher gemacht habe, passt nicht mehr mit dem zusammen, was ich in mir fühle, was ich machen möchte, nämlich Betroffenen helfen, Hilfestellungen geben und die Verbindung zur Politik aufrecht zu erhalten, mitzuwirken an politischen Prozessen und natürlich auch zu vermitteln. Und durch die eigene Erfahrung glaube ich, dass es ein großer Vorteil ist, dass man sich da nicht erst ein Vertrauen erarbeiten muss, sondern dass es einfach da ist."

"Das gesamte Geschehen ist wieder vor Augen"

Nach dem Anschlag begibt sich Sascha Klösters auf Spurensuche. Immer wieder und auch heute noch, vier Jahre nach dem Anschlag, durchforstet er das Internet nach neuem Material.
"Ich habe mir die Frage gestellt: Habe ich mir das alles eingebildet vom Breitscheidplatz? Und um diesen Abgleich zu bekommen, habe ich dann nach Bildern im Internet recherchiert. Ich habe auch viel Bildmaterial gefunden, um dann für mich so einen kleinen Abschluss zu bekommen oder eine Wahrheit zu finden: 'Ich war wirklich vor Ort.' Und ich habe das auch alles wirklich so erlebt, wie es auf den Bildern auch zu sehen ist. Es ist für mich eine Art der inneren Aufarbeitung. Nichts ist so grausam wie das, was ich vor Ort live erlebt habe. Das heißt, die Bilder sind niemals so grausam wie das, was sich wirklich vor Ort abgespielt hat."
Er entdeckt auch Bilder, die seine Mutter am Tatort zeigen. Sie hat den Anschlag nicht überlebt.
"Auf dem Bild liegt sie auf dem Boden. Wenn man genauer hinsieht, dann sieht man auch, dass das linke Bein fehlt. Es ist schwierig. Als ich das Bild zum ersten Mal gesehen hatte, blieb mir erst mal der Atem weg. Da muss man schlucken. Das ist nicht einfach, denn genau an dieser Stelle wird dann plötzlich wieder alles präsent. Das gesamte Geschehen ist wieder vor Augen."

Der Bund hat die Leistungen rückwirkend erhöht

Roland Weber ist Anwalt und Opferbeauftragter der Stadt Berlin. Seit damals hilft er den Hinterbliebenen des Terroranschlags. Sascha Klösters ist oft bei ihm. Vor kurzem haben sich beide wieder getroffen.
"Ich würde gerne einsteigen mit der sehr interessanten Frage, inwiefern die Hinterbliebenen jetzt auch finanziell abgesichert werden", fragt Sascha Klösters ihn. "Da hat sich in den letzten Jahren eine Menge getan, und jetzt würde mich mal interessieren: Was ist jetzt quasi umgesetzt worden?"
"Die Extremismusleistungen, die Härteleistungen des Bundestages, wurden für die Hinterbliebenen rückwirkend hochgefahren. Von 10.000 auf 30.000 Euro und für die Verletzten von 5.000 auf 15.000 Euro."
"Es soll ja auch nicht mehr bei einer Einmalzahlung bleiben, gerade für die Schwerstverletzten, die nach wie vor auf Hilfe und auf finanzielle Hilfe angewiesen sind. Das ist ein Zeitrahmen von vielen, vielen Jahren. Hat sich da was verbessert?"
"Soweit ich das beurteilen kann, ja. Insbesondere ist der Vergleich mit Frankreich und anderen Staaten spannend, die ja sofort sehr viel höhere Zahlungen erbringen, aber danach oftmals nichts mehr. Ich hatte mich mit der Opferbeauftragten von London unterhalten, die sagte, dort wäre auch nicht alles zum Besten bestellt. Insofern ist das deutsche Modell zwar etwas schwerfälliger und weckt nach außen den Eindruck, dass deutlich weniger geleistet werde. Aber über die Lebenszeit betrachtet und über den oftmals langen Zeitraum, in dem Betroffene Hilfe benötigen, stehen wir unterm Strich nicht schlechter da."

Psychogramm eines Täters

Düsseldorf, 27. Juni 2020. Zum 51. Mal tagt der Parlamentarische Untersuchungsausschuss im Landtag. Seit drei Jahren befragen Abgeordnete aller Parteien Zeugen, Bundesanwälte, Polizeikommissare zum Terroranschlag am Breitscheidplatz.
Der Ausschuss tagt in Düsseldorf, da der Täter in Nordrhein-Westfalen gemeldet war. Sascha Klösters und andere Betroffene besuchen die Sitzungen fast regelmäßig als Zuhörer. Jörg Geerlings (CDU) leitet den Ausschuss. Nach der Sitzung trifft er Sascha Klösters. Er will mehr über den Attentäter wissen.
"Es gab viele Indizien dafür, dass er schon früher verhaftet werden konnte", sagt Klösters. "Aber die Frage war immer: Auf welchem Weg? Das war immer sehr schwierig, den richtigen Moment zu erwischen, um diese Person an Ort und Stelle zu verhaften. Was mich interessieren würde: Ist das jetzt ein einzelnes Behördenversagen? Oder spricht man jetzt in der Summe der Behördenversagen eigentlich von einem Staatsversagen?"
"Man kann natürlich nur bis vor die Stirn gucken, glaubt man. Es gibt aber inzwischen Methoden, die auch angewendet werden, um ein Psychogramm eines potenziellen Täters zu sehen. Da hätte man sehen müssen, dass er alle Voraussetzungen für einen schweren Attentäter hat. Da waren schon mehr Anhaltspunkte. Auch von Zimmergenossen in der Flüchtlingsunterkunft, die gesagt haben: 'Der hat da komische Videos, der erzählt uns den ganzen Tag: 'Wir müssen so und so leben.'"

Die Behörden waren gewarnt

Heute beschäftigt sich der Ausschuss mit VP 01. Das ist der Deckname für einen Vertrauensmann, der für die Polizei arbeitete und den Täter beschattete: Einige Monate vor dem Terror-Anschlag in Berlin warnte VP 01 die Behörden. Der spätere Attentäter hätte ihm anvertraut, er plane mehrere Anschläge im Namen Allahs in Deutschland. Doch die Bundesbehörden schenkten seinen Angaben keinen Glauben. Das Landeskriminalamt in Düsseldorf sah das möglicherweise anders.
"Wir haben heute in der Sitzung von einem Streit gehört, wie verschiedene Behörden die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit einer Person unterschiedlich eingestuft haben", erklärt Geerlings. "Das ist etwas Persönliches. Glaube ich dieser Person konkret? Ist sie vertrauenswürdig und sagt sie zudem auch noch glaubhafte Dinge? Diese zwei Dinge müssen immer unterschieden werden bei einem Zeugen. Da gab es öffentlich unterschiedliche Auffassungen."
Einige Wochen später steht VP 01 vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf. Er wiederholt: Die Bundesbehörden hätten ihm nicht geglaubt und schließlich sogar entschieden, dass er den späteren Attentäter nicht weiter beschatten solle. Die Folge: Die Ermittler verloren den Islamisten daraufhin aus den Augen.
Was der V-Mann vor dem Ausschuss aussagt, entsetzt die Angehörigen. "Das ist der Fakt, der nach wie vor extrem aufwühlt und der für uns noch nicht abgeschlossen ist", sagt Astrid Passin. "Deswegen ist dieser Zeuge von erheblicher Relevanz, weil man von ihm doch Aussagen bekäme, weil man weiß, er war wirklich dran an der Person. Es muss ja einen Grund haben, warum er in dem Moment abgezogen wurde."

Das Beamtendeutsch schreckt ab

Astrid Passin hilft den Angehörigen vor allem, wenn sie sich mit den Behörden auseinandersetzen müssen. Nicht selten würden die Betroffenen allein vom Beamtendeutsch schon abgeschreckt. So gibt es etwa einen "Verschlimmerungsantrag". Das heißt, der Antragsteller möchte, dass der Grad seiner Schwerbehinderung neu bewertet wird.
"Die Behördenschreiben haben immer noch den gleichen Charakter", sagt dazu Astrid Passin. "Das ist wirklich nicht mehr tragbar. Vor einem Jahr war ja im Gespräch, dass es jetzt Fallmanager gibt, also Personen, die sich mit den betroffenen Fällen direkt verbinden und dann auch über eine längere Zeit betreuen. Die müssen aber jetzt ausgebildet werden. Und wenn es zwei für ganz Berlin gibt, ist das ja auch ein bisschen mau."

Gutachter entscheiden im Sinne des Amtes

Astrid Passin kritisiert besonders das Versorgungsamt in Berlin. Gutachter würden im Sinne des Amtes entscheiden. Finanzielle Hilfen für die Hinterbliebenen würden eher gering ausfallen. Eine Betroffene, die seit dem Anschlag im Rollstuhl sitzt, müsse sich sogenannten Bedürftigkeitsprüfungen unterziehen.
"Wenn es so weitergeht wie jetzt, wird es weitere Opfer geben. Suizid ist da ganz weit vorne. Was ich ganz klar sagen muss, dass es so schwerwiegend den Leuten aufs Herz, aufs Gemüt geht, dass sie da nicht mehr rauskönnen. Sie haben Beklemmungen und Angst, dass sie dadurch noch mehr belastet werden und dann irgendwann sagen: 'So, Leute. Jetzt habt ihr es geschafft. Ich kann nicht mehr. Ich gebe auf.'"
Das dürfe nicht passieren, sagt Astrid Passin: "Und da kann ich nur appellieren an die Politik, da muss dringend was verändert werden. Die müssen ganz schnell ihre Hausaufgaben machen."
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