Überlebensstrategien im Universitätsmilieu

Von Bernhard Doppler · 08.09.2013
Mit der Bühnenfassung des vielbeachteten Romans von Christoph Hein schließt das Deutsche Nationaltheater in Weimar programmatisch an Goethes "Faust I" an und thematisiert den Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften.
Ist Christoph Heins 2011 erschienener Roman aus dem Universitätsmilieu "Weiskerns Nachlass", so könnte man sich beim Lesen ärgern, nicht ein Buch voller billiger kulturpessimistischer Klischees? Die Klage über die Studenten heute, die angeblich kein Interesse mehr gegenüber ihrem Studium aufbringen. Der Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaft, während im Gegensatz dazu der Beruf des Steuerberaters immer angesehener wird. Der Sparzwang der Universitäten, der dazu führt, dass Intellektuellen kein ausreichender Lebensunterhalt mehr garantiert wird, und so weiter.

Die Dramatisierung von Heins Roman nimmt solchen Missverständnissen den Wind aus den Segeln. Denn das kulturpessimistische Gejammere ist nicht die Meinung des Autors Hein, sondern die seines Helden, des bald vor der Rente stehenden 59-jährigen Kulturwissenschaftlers Rüdiger Stolzenburg in Torschlusspanik. Er kann auf keine Verbeamtung mehr hoffen, sein Arbeitsschwerpunkt, die Edition des Barockdichters Weiskern, interessiert niemanden, und seine Beziehungen zu Frauen hat er keineswegs so souverän geregelt, wie er es erhofft. Es ist eine durch und durch theatralische Rolle, vor allem wenn sie mit so viel komödiantischer Lust und so viel Einsatz gespielt wird wie von Ingolf Müller-Beck. Der Dozent, der sich vor seinen Studenten und Kollegen in zynische Pose wirft - ein wenig an Woody Allen erinnernd - und als Liebhaber wie Mozarts Don Giovanni zwei misstrauische Frauen gleichzeitig via Telefon zufrieden stellen will.

In Enrico Stolzenburgs Inszenierung - die Namensgleichheit mit dem Helden des Stückes ist zufällig - also Bühne frei für den Wissenschaftler als Komödianten! Es ist eine abstrakte Bühne (Katrin Hieronimus): Bühnenboden und Rückwand eine Tafel, die im Laufe des Stückes bekritzelt wird. Rechts und links lediglich geisteswissenschaftliche Grundausstattung: eine Kaffeemaschine, ein Laptop, ein Overheadprojektor und ein Drucker. Die Geräusche der Geräte und des Telefons sind als Klanginstallation (Kirsten Reese) verstärkt. Fünf Schauspieler - meist sind alle auf der Bühne anwesend - übernehmen wirkungsvoll die vielen Rollen des Romans, sind Stichwortbringer für den zynischen, sich immer wieder bedauernden Stolzenburg. Die Rollen der kindlichen Mädchenbande, die den Helden brutal zusammenschlägt, das ist ein erratisches Leitmotiv, das Heins Roman auch mit einem früheren Werken wie "Der Tangospieler" verbindet, sind Statisten oder Mitglieder eines Jugendtheaters.

Ein Geistesverwandter Goethes
Mit "Weiskerns Nachlass" eröffnet der neue Weimarer Intendant Hasko Weber wohl programmatisch die Saison und schließt damit an die eigentliche Eröffnungspremiere, an das Weimarer Stück schlechthin, an Goethes "Faust I" an. Heinrich Faust und Rüdiger Stolzenburg sind nämlich durchaus Geistesverwandte, die beide mit dem Wissenschaftsbetrieb hadern und fürchten, ihr Leben verpasst zu haben. Während es Faust von der Studierstube in die Welt draußen drängt, flüchtet Stolzenburg im Gegensatz dazu vor der bedrängenden Gegenwart in die Welt der Nachlässe und Archive.

Christoph Hein ist inzwischen ja mit Recht zum Klassiker der deutschen Gegenwartsliteratur arriviert. In "Der fremde Freund (Drachenblut)", "Horns Ende" oder "Tangospieler" hatte er in den achtziger Jahren Überlebensstrategien - oft im Universitätsmilieu spielend - in der DDR vorgeführt. "Weiskerns Nachlass" ist insofern für viele seiner Leser eine Weiterschreibung jener Werke in die Gegenwart.

Aber auch wenn der Funktionswandel und der Bedeutungsverlust von Geisteswissenschaften in den "neuen" Bundesländern deutlicher spürbar sein mögen, die DDR-Sozialisation spielt im Roman kaum mehr eine und in der Weimarer Bühnenfassung fast gar keine Rolle mehr. Die "Stolzenburgs" (inzwischen an die 60 Jahre alte Geisteswissenschaftler, in prekären Verhältnissen arbeitend) sind vermutlich inzwischen eine Mehrheit im Theaterpublikum, und zwar überall in Deutschland. Und eine Theaterkarte kann sich, trotz aller finanzieller Schwierigkeiten, ein solcher "Stolzenburg" noch immer leisten - wenn nötig, vielleicht sogar eine zweite, um eine Freundin ins Theater einzuladen.
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