Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Technik: Alexander Brennecke
Sprecher: Markus Hoffmann und Robert Levin
Überwachung am Arbeitsplatz
Die neue Verordnung von Bundesarbeitsminister Heil sieht vor, dass Arbeitgeber ab dem 20. März selbst die Gefährdung durch das Virus einschätzen. © picture alliance / dpa / Finn Winkler
Wenn der Chef mitliest
30:24 Minuten
Seit immer mehr Menschen im Homeoffice arbeiten, ist die Nachfrage nach Überwachungssoftware gestiegen. Damit lassen sich Angestellte bis auf den Klick genau kontrollieren. Aber ist das in Deutschland auch erlaubt?
„Bei Foodora gab es noch ein ganzes Key Performance Indicators (KPI). Da konnte man ganz individuell auf jeden Fahrer gucken, wie schnell er ist, wie viel Zeit er benötigt“, sagt Semih Yalcin, Fahrradkurier und Betriebsrat bei Lieferando. Der normale Fahrer habe die Daten aber nie zu Gesicht bekommen, Yalsin schon: „Da ich halt eine Teamleiter-Position habe, habe ich das gesehen und hatte eine eigene Gruppe, wo ich halt eben Leistungs- und Verhaltenskontrollen durchgeführt habe.“
Er erzählt von einer Excel-Datei, die früher bei Foodora genutzt wurde. Foodora war ein Essenslieferdienst, der 2018 von Lieferando gekauft wurde. Deutschlandfunk Kultur konnte eine dieser Dateien einsehen. In der Datei sind alle Fahrer aufgeführt, die in einem Team fuhren.
Minutiöse Überwachung der Fahrradkuriere
In den linken Spalten der Datei finden sich: Name, Telefon, Vertragsart. Weiter geht es mit: Minimumstunden, der privaten Mailadresse, Feedback aus der Dispo zur Kommunikation mit dem Fahrer, die Zahl der gearbeiteten Stunden, die Zahl der gearbeiteten Schichten, die Erfüllung des Schichtplans, der prozentuale Vergleich der gearbeiteten Stunden zur Vorwoche.
Weitere Spalten tauchen auf. Sie sind je nach Ergebnis von grün nach rot gefärbt, sammeln diese Kennzahlen: Lieferungen pro Stunde, Durchschnittsgeschwindigkeit, Reaktionszeit bis zur Annahme einer Order, Minuten bis zum Kunden, Zeit beim Kunden, Nicht-Erscheinen bei einer Schicht. Genauer, meint Yalcin, könne man einen Fahrer nicht überwachen.
Doch das ist nicht alles. Scrollt man weiter nach rechts, erscheinen die nächsten Spalten: Wie liefen die letzten zehn Minuten einer Schicht? Wie viele Sonntagsschichten hat der Fahrer übernommen? Wie oft war er später als fünf Minuten beim Kunden? Wie viele Abendschichten ist er gefahren? Und dann kommen Score-Werte, die aus den vorher genannten Kennzahlen errechnet werden. Die Fahrer werden in Leistungskategorien eingeteilt. Doch wie genau sich diese Werte zusammensetzen und ob sie überhaupt einen Sinn ergeben, das kann selbst Yalcin nicht sagen.
Nachfrage nach Überwachungssoftware steigt
Überwachung am Arbeitsplatz – das ist ein Thema, das spätestens seit dem Beginn der Pandemie und der zunehmenden Arbeit im Homeoffice neben Fahrradkurieren, LKW-Fahrern oder Call-Center-Mitarbeitern auch Büroangestellte beschäftigt. So schrieb der Chef des amerikanischen Finanzunternehmens Axos Financial im März 2020 seinen Mitarbeitern in einer Mail: „Wir beobachten euch. Wir verfolgen eure Tastaturanschläge. Wir wissen, welche Webseiten ihr besucht. Und alle zehn Minuten machen wir einen Screenshot. Also: Fangt zu arbeiten an – oder lebt mit den Konsequenzen.“
Die Konsequenzen, mit denen Axos seinen Mitarbeitern im Homeoffice drohte, reichten von der Abmahnung bis zur Kündigung. Auch in einer Studie in Deutschland gab ein Fünftel der Arbeitnehmer in kleinen und mittelständischen Unternehmen an, dass es mit einer speziellen Software vom Arbeitgeber überwacht wird. Die globale Nachfrage nach Überwachungssoftware stieg im März 2020 im Vergleich zum März 2019 um 74 Prozent. Wie verändert das die Arbeit? Was bedeutet das für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Und welche rechtlichen Grenzen können gesetzt werden?
Der Österreicher Wolfie Christl ist Datenschützer und Aktivist. „Ich beschäftige mich seit einigen Jahren damit, wie Firmen Daten über uns nutzen, wie sie sie ausbeuten, wie sie sie vielleicht auch gegen uns einsetzen, Hauptsächlich im Bereich der Verbraucher“, erzählt er. „Und jetzt habe ich in den letzten Jahren begonnen, mich auch mit dem Arbeitsplatz zu beschäftigen.“ Seit einigen Jahren leitet er das Cracked Labs, ein unabhängiges Forschungsinstitut und kreatives Labor mit Sitz in Wien.
„Ich habe schon seit einigen Jahren Schulungen gemacht mit Betriebsräten und Betriebsrätinnen über Datenschutz, über den gläsernen Menschen, über Privatsphäre“, erzählt er. Dabei habe Christl sehr viele Geschichten gehört – von technischen Systemen, von Software, die in Betrieben eingesetzt wird, von den Problemen, die die Beschäftigten damit haben und wie sie damit umgehen. „Und das war sicher ein wesentlicher Grund dafür, dass ich beschlossen habe, es braucht einen Überblick: Was gibt es überhaupt für Systeme? Was gibt es für Software? Was wird eingesetzt im Betrieb? Wie werden die Daten gesammelt, wie werden sie ausgewertet?“
Datensammelwut in Unternehmen
Im September 2021 veröffentlicht Christl eine 150-seitige Studie, die sich diesen Fragen widmet. „Grundsätzlich versuchen natürlich Unternehmen, möglichst viele Daten zu erfassen über Arbeitstätigkeit, über betriebliche Abläufe“, sagt er. „Seit Jahrzehnten ist es üblich, dass man über alle Dinge Kennzahlen berechnet. Und dafür ist diese Idee ‚Wir erfassen möglichst viele Daten über alles‘ sehr auf dem Vormarsch.“
Schon zu Beginn der Industrialisierungen kontrollierten Arbeitgeber ihre Mitarbeiter. In England durften Mitarbeiter in machen Fabriken keine Uhren tragen: Über ihre Arbeitszeit entschied der Chef. Im 18. Jahrhundert beginnt in Deutschlands Amtsstuben die Zeiterfassung. Ziel war es, undisziplinierte Beamte zu erziehen.
1801 baute ein Münchner Polizeidirektor diese Idee aus, um auch bei Rundgängen seiner Polizisten immer zu wissen, wo sie sich gerade aufhalten. Damals eine komplizierte Sache, heute eine Angelegenheit für Software. „Alle möglichen Dinge, die wir tun als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, werden in irgendeiner Form in digitalen Protokollen erfasst. Alle möglichen Dinge werden digital protokolliert und können potenziell ausgewertet werden.“
Die Protokolle zeigen dann: Für diese Arbeit hat Mitarbeiter A zehn Minuten gebraucht, Mitarbeiter B aber fünfzehn. „Dann kann ein Vorgesetzter sich überlegen, wie man manche Dinge verändert, wie man vielleicht Arbeit beschleunigt, wie man sie verdichtet, wie man kleine Freiräume, die es vielleicht noch gibt, einengen kann.“
Das allwissende Überwachungsprogramm?
Ein Vorreiter der Überwachung am Arbeitsplatz sind die USA. Dort haben viele der Software-Anbieter, die Christl in seiner Studie aufführt, ihren Sitz.
Für ihre Produkte werben sie mit den erstaunlichsten Fähigkeiten: Die Software Performetric verspricht zum Beispiel, durch eine Auswertung von Daten über Tippverhalten und Mausbewegungen den Grad der mentalen Müdigkeit von Callcenter-Mitarbeitern und -Mitarbeiterinnen zu berechnen. Völlig unklar bleibt, wie valide die Auswertungen überhaupt sind.
Ein weiteres Beispiel: Workday, eine Software vor allem fürs Personalmanagement, die in Deutschland wohl auch Siemens und die Deutsche Bank nutzen. „Workday sagt ganz klar: Unsere Software weiß mehr über Beschäftigte, als die Beschäftigten selbst wissen. Wir erkennen schon vor denen selbst, dass sie Abwanderungsgedanken haben, und dann können wir auch steuern, dass sie dann doch dableiben oder doch gehen. Das ist schon ein bisschen gruselig, was da passiert“, erzählt Peter Wedde. Er ist Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences und wissenschaftlicher Leiter eines Forschungsinstituts für Datenschutz und Arbeitsrecht in Wiesbaden. In den USA, meint er, ist der Datenschutz für Beschäftigte in vielen Staaten deutlich schwächer als in Deutschland.
Software kann mehr, als erlaubt ist
Doch Neuprogrammierungen sind teuer. Deswegen bekommen deutsche Unternehmen, die amerikanische Software kaufen, oft auch Features, deren Legalität in Deutschland ziemlich zweifelhaft ist. „Ich kann mit meinem Auto auch in der Stadt 100 fahren. Ich weiß aber genau, ich darf 50 oder 30 fahren. Wenn ich zu schnell fahre, habe ich irgendwie ein schickes Foto von mir und gehe zu Fuß.“ Genau das gelte auch für die Software, so Wedde. „Auch da darf ich nicht alles machen, was geht.“
Man müsse sich dabei gar nicht nur in Deutschland eher unbekannte Software angucken, sagt Wedde dann. Das Thema Überwachung beträfe auch einen Anbieter, den jeder kenne: Microsoft. Im Herbst 2021 stellt Microsoft seinen neuen Produktivitätsscore vor. Wohl fast jeder Deutscher, der im Büro arbeitet, nutzt Microsoft-Produkte, Office oder Teams zum Beispiel, sagt Wolfie Christl: „Kaum ein Betrieb kommt darum herum. Das heißt, die Unternehmen sind eigentlich Microsoft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“ Microsoft aber habe in den letzten Jahren die ganze Software auf Cloud umgestellt. „Das bedeutet, dass in vielen Fällen diese Verhaltensdaten, Telemetrie, alle möglichen Daten über Aktivitäten am Arbeitsplatz permanent an Microsoft übertragen werden. Und Microsoft bietet dann alle möglichen Funktionen an, wie das ein Betrieb auch auswerten kann.“
Und so hörte sich das bei der erwähnten Veranstaltung von Microsoft an, bei der Vizepräsident Jared Sparato den sogenannten Produktivitätsscore vorstellte.
„Du bist ja wirklich immer mittendrin gewesen bei den modernen Arbeitsinstrumenten, die wir in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Deswegen hast du wohl eine ziemlich einmalige Perspektive darauf, wie man Menschen dabei helfen kann, besser zu arbeiten. Wie machen wir das mit dem Produktivitätsscore?“
„Mit Microsoft 365 und der Cloud entwickeln wir uns einfach ständig weiter. Wir wollen neue Tools liefern, die Ihnen beim Wachsen helfen, die Ihre Bedürfnisse erfüllen und die Sie dabei unterstützen, Ihr Unternehmen digital zu transformieren. Und dafür müssen Sie natürlich erstmal wissen, wie Ihr Unternehmen arbeitet und wie Technologie ein Möglichmacher von mehr Produktivität ist. Heute haben viele Unternehmen Leute oder Teams, die Mitarbeitern helfen sollen, mit Technologie ihre Arbeit besser erledigen zu können. Der Produktivitätsscore gibt ihnen Einblick und Benchmarks und zeigt ihnen Methoden, die sie einsetzen könnten, um die Leute in ihrem Unternehmen produktiver zu machen. Ziemlich aufregende Sache.“
Alle Daten speichern, egal wie aussagekräftig
„Wenn wir uns ansehen, was Microsoft dann anbietet, dann muss man sagen: Das geht schon sehr weit“, erklärt Wolfie Christl. „Es gibt Produkte wie ‚Workplace-Analytics‘ oder den sogenannten ‚Microsoft Produktivitäts-Score‘, die alle möglichen Verhaltensweisen über unser Kommunikationsverhalten, beispielsweise wie wir in Teams Videokonferenzen und Besprechungen machen, welche E-Mails wir mit Outlook verschicken, welche Kalender Einträge wir vornehmen und sogar welche Dateien wir anlegen, bearbeiten, teilen oder ansehen. Und aus all diesen Daten erstellt Microsoft dann alle möglichen Kennzahlen.“ Die Aussagekraft dieser Kennzahlen hält Wolfie Christl allerdings für gering.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob solche Software in Deutschland überhaupt legal eingesetzt werden darf. Peter Wedde, Experte für Datenschutz und Arbeitsrecht, bezweifelt das: „Diese permanente Kontrolle bei so moderner Software mit dem Produktivitätsscore oder irgendwelchen Graphen, das sind auch keine klar definierten Zwecke. Ich glaube, der Zweck ist erst einmal: Wir speichern mal alles und können alles auswertbar machen. Dass man sehen muss, wie schnell tippt einer, erschließt sich mir gar nicht mehr. Da sehe ich einfach keinen Zweck. Deswegen halte ich das auch für unzulässig, weil es ist nicht erforderlich für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses.“
GPS-Ortung von Außendienstmitarbeitern
Doch es ist nicht nur Software aus den USA, die Unternehmen zur Überwachung nutzen können. Besonders gefährdet sind oft Mitarbeiter in der mobilen Arbeit.
„Das ist Lars. Lars ist Geschäftsführer einer Handwerksfirma und ärgert sich täglich darüber, dass er einfach keinen Überblick über die Arbeitszeiten seiner Angestellten hat“, heißt es in einem Video der Firma MSoft aus der niedersächsischen Kleinstadt Dissen. Ihre Software Time4 soll Handwerkern wie zum Beispiel Dachdeckern bei der Zeiterfassung helfen.
„Im Büro herrscht ein ständiger Papier-Wust, und entweder kommen die Stundenzettel viel zu spät bei ihm an, oder er muss ihm ewig hinterherrennen. Damit ist heute Schluss, denkt sich Lars und begibt sich auf die Suche im Internet“, geht die Geschichte im Werbevideo weiter. „Schon nach kurzer Recherche stößt Lars auf den Branchenexperten MSoft. Mit dem Zeiterfassung-System Time4 von MSoft können Lars‘ Mitarbeiter ihre Personal- und Auftragszeiten schnell und einfach dokumentieren. Dafür müssen Sie sich einfach nur die App auf Ihr Smartphone herunterladen, gemeinsam mit den Profis von MSoft einrichten und können direkt loslegen, ihre Stunden einzutragen, Löhne und Auftragszeiten zu erfassen und Aufträge mit Bildern und Wetterdaten zu dokumentieren.“
Soweit, so verständlich. Doch bei einem Blick auf die Webseite von MSoft fällt noch ein Punkt auf, mit dem das Unternehmen für Time4 wirbt: „Ortung. Auf Wunsch werden GPS-Daten automatisch verbunden. Auf einen Blick können Sie so sehen, wo sich Ihre Mitarbeiter gerade befinden.“
Detaillierte Daten über den Arbeitsalltag
Recherchen zeigen: Schon lange werden nicht mehr nur Fahrradkuriere und LKW-Fahrer sehr genau kontrolliert.
„Wir sehen das nicht nur in der Logistik, sondern ganz grundsätzlich im Außendienst, in der mobilen Arbeit. Das beginnt meistens mit der Zeiterfassung, die natürlich notwendig und legitim ist. Das bedeutet, Beschäftigte geben ein, wann sie beginnen zu arbeiten, wann sie aufhören, aber das geht dann oft Schritt für Schritt immer weiter. Der erste Schritt ist dann oft, dass eingegeben werden soll, bei welchem Kunden oder bei welchem Klienten man gerade ist. Für Abrechnungszwecke soll das erfasst werden. Als nächster Schritt soll dann vielleicht auch erfasst werden: Welche Dinge sind genau vor Ort erledigt worden? Das heißt, welche Wartungsschritte sind durchgeführt worden, oder welche Schritte sind im Rahmen eines Besuchs der mobilen Pflege durchgeführt worden? Sobald ich aber im Außendienst weiß, wann die Person an einem Ort ankommt, bei einem Kunden, welche Arbeitsschritte sie dort durchführt und wann sie diesen Ort wieder verlässt, habe ich schon sehr weitreichende Daten, eigentlich über Tätigkeiten und über den Arbeitsalltag und kann dann natürlich Auswertungen machen.“
Gesteuert durch die App
Ein Beispiel, das der Forscher und Aktivist Wolfie Christl in diesem Zusammenhang nennt, ist die Anlagenwartung. In Fabriken werden häufig mobile Apps zu Wartung genutzt, etwa bei großen Automobilzulieferern. „Vor zehn bis 15 Jahren hatten die Beschäftigten dort noch relativ große Freiräume, relativ große Gestaltungsmöglichkeiten“, erzählt er. „Sie haben sich als Experten gefühlt in Bezug auf diese Anlagen.“ Heute gebe eine Smartphone-App jeden Arbeitsschritt vor. „In der Zentrale ist dann immer sichtbar, wer arbeitet gerade bei welcher Anlage. In wöchentlichen Gesprächen mit Vorgesetzten wird dann oft thematisiert, ob man nicht einzelne Arbeitsschritte vielleicht ein paar Minuten oder gar ein paar Sekunden schneller durchführen könnte.“
Schon 1913 hat der amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor, heute bekannt als Gründer des Taylorismus, diese Methode in seinen Principles of Scientific Management beschrieben.
- Man suche zehn oder 15 Leute, die in der speziellen Arbeit, die analysiert werden soll, besonders gewandt sind.
- Man studiere die genaue Reihenfolge der grundlegenden Operationen, ebenso die Werkzeuge, die jeder einzelne benutzt.
- Man messe mit der Stoppuhr die Zeit, welche zu jeder dieser Einzeloperationen nötig ist, und suche dann die schnellste Art und Weise heraus, auf die sie sich ausführen lässt.
- Man schalte alle falschen, zeitraubenden und nutzlosen Bewegungen aus.
- Nach Beseitigung aller unnötigen Bewegungen stelle man die schnellsten und besten Bewegungen, ebenso die besten Arbeitsgeräte tabellarisch in Serien geordnet zusammen.
Auch heute machen sich Chefs – wie in der Anlagenwartung – Gedanken darüber, wie sie die Arbeit ihrer Beschäftigten beschleunigen können. Doch in vielen Bereichen müssen sie sich diese Gedanken gar nicht mehr machen. Das übernehmen Algorithmen, zum Beispiel beim Lieferdienst Lieferando.
„Die meisten meiner Kollegen, zwei Drittel der Flotte, arbeiten mit ihrem eigenen Rad. Die starten von zu Hause, die machen ihre Auslieferung: Restaurant, Kunde, Restaurant, Kunde. Irgendwann nach drei, vier, fünf Stunden ist die Schicht vorbei, und dann fahren sie wieder heim“, erzählt Semih Yalcin. Er sitzt in seinem Büro im Herzen von Köln, nur wenige hundert Meter vom Rudolfplatz entfernt. Auf den Fensterbänken stehen schwere Gesetztestexte, in einer Ecke liegen Lieferando-Lieferboxen.
Yalcin, der Geschichte und Jura in Bonn studiert hat, arbeitet schon seit mehr als fünf Jahren als Fahrradkurier. Heute fährt er nur noch selten, macht seine Stunden als Betriebsrat für Lieferando.
„Während der Schicht ist der einzige Kontakt zum Betrieb vor Ort ihre App, die sie haben, auf ihrem eigenen Handy. Darüber wird man sozusagen durch die Stadt dirigiert“, erzählt er. „Man kriegt immer auf dem Screen – die sogenannte Scoober App – einfach eine Adresse vom Restaurant mit Name und dann mit dem jeweiligen Endkunden. Dann arbeitet man sich anhand dieser Liste ab.“
„Order“ nennen die Fahrer diese Anweisung der App. Theoretisch können sie sie ablehnen. Doch das kann negative Folgen haben, vorzeitig beendete Schichten beispielsweise. Ein weiteres Problem: das Lohnsystem. Zehn Euro Basis-Lohn kriegt jeder Lieferando-Fahrer brutto pro Stunde. Dazu gibt es dann Bonusse: Ab der zweihundertsten Bestellung zum Beispiel kriegt der Fahrer pro Bestellung zwei Euro extra.
App entscheidet über Strecken der Kurierfahrer
Das macht die kurzen Strecken begehrt, die langen sehr unbeliebt. Verteilt werden die Strecken von der App. „Man weiß auch nicht, wie das zustande kommt, diese Entscheidung. Der Arbeitgeber teilt das nicht mit, nach welchen Kriterien dort etwas vergeben wird“, sagt Yalcin.
Vor einigen Jahren hätten sich die Fahrer bei ihrem Chef über die Streckenzuteilung beschweren können. Heute entscheidet die App, den Fahrern bleibt nichts Anderes übrig, als diese Entscheidungen zu akzeptieren, Mails mit Beschwerden verhallen, und die Zugriffe, die sich die App auf den Privattelefonen der Fahrer sichert, sind weitreichend.
„Die greift komplett auf die Telefonfunktion zu, genauso wie auf die Speicherkarte. Standort ist natürlich nachvollziehbar. Dann ist es nur eine Frage der Verhältnismäßigkeit: wie oft. Ich halte es, wie es gerade gemacht wird, wahrscheinlich nicht für gesetzeskonform. Wir unterliegen einem ständigen Tracking.“
Der unbekannte Algorithmus
Über die weiß der Arbeitgeber fast zu jeder Zeit, wo sich seine Mitarbeiter gerade befinden. „Er muss ja wissen, was bringen meine Leute für eine Schnelligkeit sozusagen“, räumt Yalcin ein. „Wie viel Zeit brauchen die denn beim Kunden? All das ist ja auch ein legitimes Interesse. Die Frage ist nur: Wie macht er das? Und wo sozusagen überschreitet er seine Grenzen?“
Die Fluktuation bei Lieferando ist groß. Zudem arbeiten viele als Fahrradkurier nur nebenbei. Die Leidenschaft, sich dann mit der genauen Funktionsweise der App auseinanderzusetzen, ist gering. Doch das wäre wohl auch gar nicht möglich.
„Es ist schon eine Blackbox. Natürlich haben wir als Arbeitnehmervertreter einen Anspruch auf Einsichtnahme in diese Unterlagen. Aber die wird derzeit nicht gewährt“, so Yalcin. „Es ist eine unbegründete Furcht vor uns, als ob wir jetzt das Unternehmen kaputtmachen wollen. Dabei geht es uns vor allem darum, neben den wirtschaftlichen Kennzahlen zum Beispiel auch soziale Kennzahlen mal mit rein zu implementieren, in diesen Algorithmus.“
Überwachung senkt die Arbeitsmoral
Lieferando und andere Kurierdienste sind besonders anfällig für übergriffige Maßnahmen. Wie sieht es sonst mit der Überwachung von Arbeitnehmern in Deutschland aus, vor allem in größeren Unternehmen? „Ich glaube, der Kontrollwahn ist wirklich nur in wenigen Unternehmen da“, meint der Datenschutzexperte Peter Wedde. Er ist häufig Vorsitzender von sogenannten Einigungsstellen, die eingesetzt werden, wenn Betriebsrat und Unternehmen einen Konflikt in Sachen Datenschutz haben. Seine Beobachtung dabei: In der Mehrzahl der Unternehmen werden Beschäftigte nicht überwacht.
„Ich glaube, die meisten Vorgesetzten wie Arbeitgeber, wenn man es mal pauschal sagt, haben gar kein Interesse daran, ihre Beschäftigten minutiös zu kontrollieren“, so Wedde. „Weil die wissen, das geht auf die Arbeitsmoral, das geht auf den Betriebsfrieden und das geht auch auf die Leistung. Da arbeitet man wirklich gut zusammen.“
Tim Wybitul, der als Partner der Großkanzlei Latham & Watkins vor allem Konzerne in Sachen Datenschutz verteidigt, sieht das ähnlich. Seiner Meinung nach ein Grund für die Vorsicht der Unternehmen: die hohen Bußgelder der Europäischen Union bei Verstößen gegen den Datenschutz. „Dieses Thema Bußgelder hat dem Beschäftigten-Datenschutz eine unglaubliche Dynamik gegeben und auch ein unglaubliches Risiko“, sagt er. „Wenn Sie sehen, in der EU verhängen die Datenschutzbehörden mittlerweile dreistellige Millionen Bußgelder. Da denkt auch dann durchaus ein Unternehmenslenker mal an die eigene Haftung.“
Ein weiterer Grund ist das Image des Unternehmens. „Im sogenannten ‚War for Talent‘, also in einem Bewerber-Markt, wo hochqualifizierte Bewerber ohnehin schwer zu finden sind, ist natürlich auch die Frage, krieg ich die, wenn die Bewerber damit rechnen müssen, dass sie sehr, sehr stark in ihre Persönlichkeitsrechte hinein kontrolliert werden?“
Leistungskontrolle ist legitim
Trotzdem ist Wybitul überzeugt davon: Es gibt gute Gründe für viele Arbeitgeber, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kontrollieren. „Ein Arbeitsverhältnis ist ja Geld gegen Arbeit. Und wir wissen alle – also ich nehme mich da gar nicht aus –, wenn ich das gleiche Geld vielleicht für ein bisschen weniger Arbeit kriegen würde oder für gar keine Arbeit: Ob mich dann allein die intrinsische Motivation noch zum Abliefern von Spitzenleistungen bewegen würde? Das weiß ich halt nicht.“
Leistungskontrolle, das ist der eine Bereich, in dem Wybitul Überwachung für legitim hält. Der andere ist die Sicherheit des Unternehmens. Schließlich gebe es „ganz viele Situationen“, wo der Unternehmer „extern den Druck habe“ zu kontrollieren. „Bestes Beispiel, wenn die Staatsanwaltschaft bei einem Unternehmen vor der Tür steht und sagt ‚Wir haben Indizien, dass aus eurem Unternehmen heraus Straftaten begangen worden sind.‘ Da hat man gewissen Druck, manche Kontrollen durchzuführen.“ Dabei gehe es gar nicht darum, den Arbeitnehmern „auf die Finger zu schauen, sondern darum, rechtliche Risiken zu vermeiden oder Nachteile zu verhindern“.
Dauerüberwachung macht krank
Trotzdem gibt es auch in Deutschland immer wieder Unternehmen, die bei diesen Kontrollmaßnahmen Grenzen überschreiten. „Die Unternehmen, wo dann kontrolliert wird, auch über die Maßen, sind eher die Minderheit, sagt Peter Wedde. Da werde dann aber umso extremer überwacht.
„Da gibt es die wildesten Sachen bis hin zu Rauchmelder an der Decke, die eingebaut werden mit Kameras, damit man auch noch sieht, was die Menschen am Arbeitsplatz machen, und dann fliegt das auf. Da gibt es wirklich fast den ganz normalen Wahnsinn. Wenn ich einen Vorgesetzten habe, der versucht, mich minutiös zu kontrollieren, ist das krankmachend, muss man ganz ehrlich sagen. Das führt zu Effekten, dass Leute krank werden, auch dauerhaft krank werden. Und es führt auch dazu, dass die Arbeitsmoral sinkt.“
Unbestimmte rechtliche Regelungen
Oft ist es gar nicht mal so leicht zu erkennen, ob die eingesetzten Überwachungsmaßnahmen dann auch wirklich illegal sind. Denn zum Beschäftigtendatenschutz habe es in Deutschland Ewigkeiten gar keine Regelung gegeben. „Nach den großen Skandalen bei Bahn, Telekom und Lidl hat man dann mal vor über zehn Jahren einen Paragrafen des Bundesdatenschutzgesetzes geschrieben. Paragraf 32, Bundesdatenschutzgesetz. Da stand drin: Es dürfen im Arbeitsverhältnis von Arbeitgebern nur die Daten verarbeitet werden, die für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses erforderlich sind. Wichtig ist ‚erforderlich‘. Diese Regelung steht heute im neuen Bundesdatenschutzgesetz auch noch drin. Ein bisschen ausgebaut, ein bisschen ergänzt, aber das ist immer noch der Kern.“
Es ist ein unbestimmter Rechtbegriff, den Gerichte auslegen müssen. Über die Jahre hat sich dabei das Ultima-Ratio-Prinzip als zentral erwiesen. „Das Bundesarbeitsgericht sagt: Kontrolle mit technischen Einrichtungen muss immer nach dem Ultima-Ratio-Prinzip beurteilt werden. Also wenn es kein milderes Mittel gibt, das ungefähr den gleichen Effekt erzeugt, dann darf überhaupt so eine Kontrolle stattfinden. Wenn es ein milderes Mittel gibt, darf die nicht stattfinden.“
Zudem braucht es einen klar definierten Zweck der Kontrolle – zum Beispiel das Verhindern von Diebstählen. Bei vielen Überwachungsprodukten, die heute zum Einsatz kommen, kann Wedde das nicht erkennen. Sicher, dass das ein Gericht ähnlichsehen würde, ist er sich jedoch nicht. „Was da genau rauskommt, ist ein Glücksspiel“, sagt er. Man kenne zwar die grobe Linie des Bundesarbeitsgerichts und das Ultima-Ratio-Prinzip. „Aber wo genau die Banden sind, die den Weg markieren, weiß man nicht. Das wandelt sich auch. Gerade im Moment ist es so, dass auch das Bundesarbeitsgericht, glaube ich, den technischen Wandel wahrnimmt und damit die Möglichkeiten zugunsten der Arbeitgeber ein Stück erweitert, tatsächlich Kontrollen durchzuführen.“
Beschäftigtendatenschutzgesetz nötig
Umso wichtiger wäre für Wedde ein Beschäftigtendatenschutzgesetz. Das werde seit gut 40 Jahren immer wieder gefordert. „Ich selbst habe die erste Petition, glaube ich, vor 20 Jahren mal mit auf den Weg gebracht.“ Aber: Bis heute gibt es kein Gesetz. 2020 setzte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Beirat zum Beschäftigtendatenschutz unter der Leitung der ehemaligen Justizministerin Herta Däubler-Gmelin ein. Der hatte vor allem zu klären, ob ein Gesetz für den Beschäftigtendatenschutz nötig ist.
Eigentlich sollte der Beirat im Frühjahr 2021 einen Bericht vorlegen. Doch den gibt es bisher nicht. Die Pandemie habe den Arbeitsprozess verzögert, so das Bundesministerium. Immerhin taucht im Koalitionsvertrag der Ampel der Beschäftigtendatenschutz auf: „Wir schaffen Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz, um Rechtsklarheit für Arbeitgeber sowie Beschäftigte zu erreichen und die Persönlichkeitsrechte effektiv zu schützen“, heißt es darin.
Ob daraus wirklich ein eigenes Gesetz für den Beschäftigtendatenschutz wird – das wird sich zeigen müssen. Und: Ob Unternehmen mithilfe von Überwachung wirklich erreichen, dass die Mitarbeiter bessere Leistungen bringen, bleibt fraglich. So fanden britische Anthropologen heraus, dass Überwachung am Arbeitsplatz das Verhalten der Arbeitnehmer zwar durchaus verändere. Doch es mache sie nicht produktiver – nur maschinenähnlicher.