Der Sinn des Unsinns
Die Überwachung der Bevölkerung bleibt vorerst wohl ungeahndet: Warum verhalten sich im NSA-Skandal so viele Politiker so merkwürdig? Sozialwissenschaftler Sebastian Wessels formuliert einen Erklärungsversuch.
"Wir haben da was vor", sagt Michael Hayden während eines Spaziergangs im September 2001 auf die Frage seiner Frau, warum er so nachdenklich sei. Details nennt er nicht. Nur so viel: Wenn es irgendwann an die Öffentlichkeit kommt, gibt es Ärger. Sie fragt, ob es denn richtig sei, es zu tun. "Ich glaube schon", sagt er. Das genügt ihr. Hayden hatte als Chef der NSA dem Präsidenten George W. Bush und seinem Vize Dick Cheney vorgeschlagen, sämtliche Telekommunikation der Bevölkerung zu überwachen. Gleichzeitig äußerte er auch rechtliche Bedenken, die Bush und Cheney auf ihre eigene Art sehr ernst nahmen: das Programm wurde umgesetzt, musste aber geheim bleiben.
Diese Szenen, kürzlich in der ZDF-Dokumentation "Verschwörung gegen die Freiheit" nacherzählt, mögen helfen, die merkwürdigen Sichtweisen von Staatsvertretern auf beiden Seiten des Atlantiks zur NSA-Affäre ein bisschen besser zu verstehen. Etwa die Verwunderung im US-Außenministerium über die Nachricht, dass in Deutschland nun doch wegen des abgehörten Kanzlerinnen-Handys ermittelt werde: Angela Merkel und Barack Obama hätten doch längst miteinander gesprochen.
Das beharrliche Schweigen der Kanzlerin
Als wäre es damit getan. Oder das zutreffende, aber auch sinnlose Statement, mit dem der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag die Glaubwürdigkeit von Edward Snowden in Zweifel zog: An Beweisen habe dieser bis heute nichts geliefert – abgesehen von dem, was seit langem im Internet zu finden sei. Dafür braucht man einen Moment. Und auch das beharrliche Schweigen der Kanzlerin lässt sich nicht einfach damit erklären, dass sie eben weiß, dass sie belauscht wird.
Michael Hayden und seiner Frau kam gar nicht in den Sinn, dass die absehbare öffentliche Empörung über sein Tun eine festere Grundlage haben könnte als seine Überzeugung, dass es richtig sei. Sie vertraut ihrem Mann, der Präsident vertraut seinem Experten und der seinen Leuten. Sie alle sehen überdeutlich, welche Schrecken dort draußen lauern oder irgendwann lauern könnten – sie beschäftigen sich ja den ganzen Tag damit. Und sie wissen, dass die Öffentlichkeit das alles nicht weiß. Ist es da nicht ihre Pflicht, das Unpopuläre zu tun? Und wenn sie schon mal dabei sind, müssen sie das Land nicht auch vor wirtschaftlicher Konkurrenz schützen?
Politiker und Geheimdienstler bilden – wie alle Menschen – soziale Milieus und Gruppen mit gemeinsamen Weltbildern und Wissensbeständen. Für den einzelnen Beteiligten werden diese Weltbilder täglich aufs Neue von Menschen bestätigt, die man persönlich kennt und schätzt. Je dichter die Abschottung einer Gruppe nach außen, desto ungestörter ist die gegenseitige Zustimmung und desto ungetrübter der Glaube an sich selbst. Interner Streit im Kleinen täuscht über die Übereinstimmung im Wesentlichen hinweg. Das Extrem eines solchen Milieus ist eine Sekte, deren Glaube nach außen hin völlig abstrus, den Mitgliedern aber als glasklare Wahrheit erscheint, für die es sich zu sterben lohnt.
Überdosis Wahrheit
So ist es mit dem Selbstverständnis als loyaler Demokrat vereinbar, Aufklärung zu verhindern, rechtsstaatliche Verfahren auszubremsen, die Unwahrheit zu sagen oder auch einfach irgendwelchen Unsinn zu erzählen, wenn einem nichts mehr einfällt. Wenn man der Bevölkerung eine Performance bieten muss, um sie zu schützen, sei es vor Terroristen, dem Groll eines Verbündeten oder einer allgemeinen Staatskrise infolge einer Überdosis Wahrheit, dann performt man eben. Alles für die gute Sache.
Wir können unseren Politikern im Fall NSA also durchaus glauben. Natürlich nicht das, was sie sagen. Auch nicht, dass sie glauben, was sie sagen. Aber dass sie glauben, dass sie es sagen müssen. Darin liegt ihre Ehrlichkeit.
Doch dieses Bauchgefühl, besonders gut durchzublicken, besagt nichts. Ein Staatswesen braucht Kontrollmechanismen. Zum Beispiel die Allgemeingültigkeit des Rechts - und einen Pluralismus, der stets vor Augen führt, dass die eigene Perspektive eben nur die eigene Perspektive ist. Wenn geheime, abgeschottete Gruppen Politik machen, sind beide Sicherungen ausgehebelt. Absurde Auftritte vor der Kamera sind nur die harmloseste Folge davon.
Sebastian Wessels, geboren 1976 in Bremen, studierte Sozialwissenschaften in Hannover und Cardiff (Wales).
Von 2009 bis 2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojekts 'Autonomie - Handlungsspielräume des Selbst' am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und schließt derzeit seine Promotion zu diesem Thema ab.
Von 2009 bis 2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojekts 'Autonomie - Handlungsspielräume des Selbst' am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) und schließt derzeit seine Promotion zu diesem Thema ab.