"Auch in der Familie war Politik völlig tabu"
In einem Überwachungsstaat werden Regime-Gegner beschattet, Spione beobachten vermeintlich Auffällige - ein Land, in dem das lange praktiziert wurde, ist Tunesien. Was ist von diesem alten Überwachungsstaat Tunesien übrig geblieben?
Wie war das Leben in der Diktatur Ben Alis, der 2011 gestürzt wurde? Spielte das Beschattetwerden eine große Rolle? Diese Fragen hat Anne Françoise Weber der Journalistin und Aktivistin Henda Chennaoui gestellt. Chennaoui ist 1983 geboren, Ben Ali kam 1987 an die Macht: "Ich bin in einem Tunesien aufgewachsen, in dem jeder Angst hatte, verfolgt zu werden und Ärger mit der Polizei oder dem Regime zu bekommen. Sogar in der Familie war Politik völlig tabu, das Regime zu kritisieren war tabu, auch in der Schule, der Universität oder auf der Straße. Und als ich älter wurde, habe ich langsam verstanden, dass die Leute wirklich Angst hatten."
Überwachung als Alltag
Henda Chennaoui gehört zur ersten Generation, die das Internet in Tunesien genutzt hat – auch da war alles überwacht, vieles zensiert, die Polizei unter falschen Profilen in sozialen Netzwerken unterwegs. Deswegen schockiert das Datensammeln von Facebook heute keinen in Tunesien. Alle konnten überwacht werden, aber besonders diejenigen, die das Regime kritisiert haben, resümiert Anne Françoise Weber.
Unsere Reporterin hat auch mit Ibtihel Abdellatif, einem Mitglied der Wahrheitskommission gesprochen, die eine besondere Art der Kontrolle beschreibt:
"Bei der administrativen Überwachung mussten Leute, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, sich täglich bei der Polizeistation melden und unterschreiben. Manche mussten morgens und abends kommen, manche zehnmal täglich. Ein Mann aus Bizerte wurde gezwungen, mit seiner Frau zu kommen – sie war hübsch und hatte grüne Augen – und er musste dann immer zusehen, wie sie sexuell missbraucht wurde. Er fühlte, dass er zum Fluch für seine Frau geworden war, weil sie all diese Demütigungen erleiden musste –und hat sich das Leben genommen."
"Der Staat ist wie eine Krake"
Weber erzählt auch von der Philosophieprofessorin Zeineb Ben Said, die noch unter Ben Alis Vorgänger, Staatsgründer Bourguiba, eine Bewährungsstrafe wegen politischen Engagements erhielt.
Sie musste zwar nicht ins Gefängnis, durfte aber nicht mehr als Lehrerin arbeiten: "Der Staat ist wie eine Krake. Man wird frei gelassen, andere sind inhaftiert, aber man wird an den Rand der Gesellschaft gestellt. Ich durfte überhaupt nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten. Das war hart. Nicht nur, weil ich kein Geld verdienen konnte – nur ein paar sehr mutige Leute haben mich für ein paar Stunden in Privatschulen angestellt. Ich hatte keine Krankenversicherung und ich wurde abgehört und verfolgt. Auch die Leute, die zu mir kamen, wurden verfolgt. Man wird in eine Art soziales Ghetto gesteckt, so dass die Leute Angst haben, dich zu besuchen. Nur die enge Familie bleibt solidarisch. Man wird sozial isoliert. Das war sehr sehr hart."
Das Land hat sich verändert
Wie ist das heute? Gibt es diese politische Polizei noch? Muss man weiter Überwachung fürchten? "Nicht in dem Maß, Tunesien ist ein anderes Land geworden", sagt Anne Françoise Weber. "Aber letztes Jahr wurde eine Tunesierin, bei der ich übernachten wollte, zur Polizeistation zitiert: Die Unterbringung von Ausländern müsse angemeldet werden – das war eine reine Einschüchterungsmaßnahme, meine Gastgeberin war gegen Polizeigewalt aktiv."
Die Journalistin und Aktivistin Chennaoui fühlt sich nicht in Gefahr, aber hat von der sozialer Bewegung Fech Nestannew (Worauf warten wir?) erzählt, die Anfang des Jahres gegen die Sparpolitik der tunesischen Regierung protestiert hat: "Wir haben bemerkt, dass das Innenministerium dieses Mal Jugendliche aus den ärmeren Vierteln rausgepickt hat, um der Bevölkerung Angst zu machen. Sie wissen sehr genau, wenn sie bekannte Aktivisten festnehmen, die gut vernetzt sind, wird der Widerstand noch größer – und diese Leute haben keine Angst, die Bewegung geht weiter. Aber wenn sie sich diese jungen Leute vornehmen, die isoliert sind, deren Familien keinen Zugang zu Anwälten oder Menschenrechtsorganisationen haben, ist es viel schwieriger, etwas über sie zu erfahren. Diese Taktik hat wirklich funktioniert und die soziale Bewegung gestoppt."
Aber letztlich findet Henda Chennaoui die soziale Überwachung stärker als die polizeiliche: Wer sich nicht konform verhält, etwas politisch Unkorrektes tut, bekommt es mit der Gesellschaft zu tun. So bekam eine Frauenrechtsaktivistin, mit der sich Chennaoui und Weber im Café einer Kleinstadt getroffen hatten, danach gleich Ärger - ihr Cousin hatte sie im Café gesehen und sich bei ihrem Bruder beschwert.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Text überarbeitet, da in der vorherigen Version einige Gespräche und Vorgänge nicht den richtigen Personen zugeordnet worden waren.