Überzeugungstäter

Für was würden Sie Ihr Leben geben?

Von Wolfram Eilenberger |
Wer sein Leben für ein Ideal opfern würde, wird als Fanatiker verdächtigt – zumal Personen wie Ulrike Meinhof oder Mohammed Atta dies eindrücklich zeigen. Doch wie sind Figuren wie Sokrates, Jesus und Gandhi aus dieser Hinsicht aus zu werten? Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist jedenfalls der Ansicht, dass beinahe jeder politische Fortschritt an die Bereitschaft von Menschen gebunden war, ihr Leben für eine moralische Idee zu opfern.
Und, für wen oder was wärest du bereit, dein Leben zu geben? Eine unbequeme, ja ungehörige Frage. Sie wirkt wie aus der Zeit gefallen. "Für meine Kinder", war die Antwort, die ich im Freundeskreis am häufigsten zu hören bekam. Immerhin, es gibt etwas, das den meisten Menschen, die ich kenne, wichtiger ist als ihre eigene Existenz.
Ein Soziobiologe wüsste diesen elterlichen Heroismus freilich direkt auf unsere animalische Natur zurückzuführen. Das Opfer wäre in Wahrheit ein rein egoistisches, da es biologisch nur um die Fortexistenz der eigenen, im Kind ja enthaltenen Gene gehe.
Weitaus schwieriger und moralisch heikler allerdings wird es, sofern sich die Opferbereitschaft auf ganze Nationen, Weltanschauungen oder gar philosophische Ideale bezieht. Wenn der Wille, das eigene Leben zu geben, mit anderen Worten ein im weitesten Sinne politischer ist.
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, eine derartige Haltung sofort dem Verdacht des Fanatismus zu unterziehen. Vom beseelten Idealismus zum todbringenden Terrorismus ist es bekanntlich nur ein Schritt. Historische Gestalten wie Savonarola oder Robespierre, Ulrike Meinhof oder Mohammed Atta zeigen dies eindrücklich. Nichts ist gefährlicher als ein rigoroser Überzeugungstäter.
Wie die Welt, in der wir leben, sein sollte
Sehen Sie, da ist es schon wieder passiert. Bereits nach wenigen Sekunden findet sich der Unterschied eingeebnet, Opfer oder Täter sein zu wollen. Dabei liegt moralisch wie politisch eine Welt zwischen Menschen, die bereit sind, für gewisse Ideale ihr Leben zu geben, und denen, die bereit sind, dafür auch zu töten.
Gibt es, anders gefragt, nicht auch einen todeswilligen Idealismus, der unbestreitbar Heil bringt? Sokrates zum Beispiel? Oder Jesus Christus? Mahatma Gandhi, oder Martin Luther King? Ich sehe vor meinem geistigen Auge einen chinesischen Studenten, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens einem rollenden Panzer entgegenstellt ...
Denkt man erst einmal darüber nach, war so gut wie jeder politische Fortschritt in der Geschichte unserer Art an die Bereitschaft von Menschen gebunden, ihr Leben für eine moralische Idee zu opfern. Und Idee heißt hier: Für eine konkrete Vorstellung dessen, wie die Welt, in der wir leben, sein sollte und durch unser entschlossen Handeln sein könnte.
In den genannten Beispielen, das stellt sie heraus, betrafen diese Ideen nicht nur das eigene Dasein, die eigene Gemeinschaft oder Nation, sondern potentiell alle Menschen. Es sind darüber hinaus Ideen, deren unbedingten Wert jeder verstehen und im Herzen nachempfinden kann.
Das Rätsel, das uns erst zu Menschen macht
Folgen wir dem Philosophen Immanuel Kant, trägt tatsächlich jeder einzelne von uns die Vorstellung solch einer zukünftig besseren, gerechteren, freieren Welt in sich. Kant nennt diese ideale Welt ein "Reich der Zwecke". Seiner Überzeugung nach dient dieses Reich letztlich nur einem einzigen idealen Zweck, nämlich dem des Menschen als eines selbstbestimmten, moralisch handelnden Wesens.
Bis heute vermag kein Soziobiologe und auch sonst kein Wissenschaftler überzeugend zu erklären, woher dieses philosophische Ideal in uns kommt und auch nicht, worin seine unmittelbar motivierende, alle Grenzen sprengende Kraft besteht. Es ist ein bleibendes Rätsel unserer Natur. Es ist das Rätsel, das uns erst zu Menschen macht.
Gewiss, man muss nicht immer gleich den hohen Ton anschlagen, nicht immer gleich die universale Perspektive einnehmen, nicht mit jeder Tat die ganze Welt retten wollen. Aber wenn es darum geht, ob es Werte und Ideen gibt, für die man sein Leben geben würde, sollten wir beim Blick ins Innere auf philosophische Überraschungen gefasst bleiben. Natürlich gibt es diese Ideen. Und das ist auch unbedingt gut so.
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, ist promovierter Philosoph und Chefredakteur des "Philosophie Magazin" sowie Autor zahlreicher Bücher, zuletzt "Kleine Menschen, große Fragen" (Berlin Verlag, 2009) und "Finnen von Sinnen" (Blanvalet, 2010).
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