Uffa Jensen: Wie die Couch nach Kalkutta kam. Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
538 Seiten, 28 Euro
Psychoanalyse als Mode und Manie
06:17 Minuten
Berlin, London, Kalkutta: Uffa Jensen befasst sich in seinem Buch mit den Metropolen, die neben Wien ideengeschichtlich für die Psychoanalyse bedeutend waren. "Wie die Couch nach Kalkutta kam" zeigt dabei bekannte Schauplätze - und kuriose Abwege.
Emotionen sind das Transportmittel einer Theorie, die man neben dem Marxismus als eine der wirksamsten des 20. Jahrhunderts bezeichnen muss. Uffa Jensen geht ihren vielfältigen Verbreitungswegen, Verbreitungsvehikeln und Verbreitungsweisen in Berlin, London und Kalkutta nach.
Denn die Psychoanalyse war zwar eine Wissenschaft, die von Freud in Wien entwickelt worden war. Aber sie war ideengeschichtlich kein Monolith. Jensen spricht von einem globalen "energetischen Denkstil".
Denn die Psychoanalyse war zwar eine Wissenschaft, die von Freud in Wien entwickelt worden war. Aber sie war ideengeschichtlich kein Monolith. Jensen spricht von einem globalen "energetischen Denkstil".
So steht dem westlichen Analytiker mit Mesmerismus, Hypnotismus oder Suggestion zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Behandlungsvorbild samt gepolstertem Sitzmöbel zur Verfügung. Dem Praktiker in Kalkutta, wo sich die erste nichtwestliche psychoanalytische Vereinigung befand, wiederum ist mit dem buddhistischen Nirvana-Begriff ein Zugriff aufs Freuds Todestriebtheorie möglich. Und mit Yoga kann Freuds Technik der freien Assoziation angeeignet werden. Alles zusammen greift aber noch viel weiter zurück.
Und zwar ins antike Energiemodell der Humoralpathologie, die sich bis nach Indien verbreitet hat. Drang und Abfuhr, Spannung und Entladung sowie das damit verbundene Harmonieprinzip entstammen diesem Denken. Jensen schreibt: "Die Psychoanalyse baute auf einer Säftelehre ohne Säfte auf."
Unbewusstes als intellektuell anschlussfähige Theorie
Von Anfang an war das Thema Psychoanalyse aber vor allem von Emotionen geprägt. Einerseits gab es sie in der psychoanalytischen Theoriebildung (wie Penisneid oder Kastrationsangst). Andererseits war da die bewusste Manipulation von Emotionen in der therapeutischen Praxis durch Wiederaufführung von Konflikten (Katharsis) oder eine künstliche Liebesbindung zwischen Therapeut und Patient (Übertragung). Zuletzt waren es aber auch Emotionen, die innerhalb der psychoanalytischen Community selbst brodelten.
Es gab Eifersüchteleien, ödipale Anerkennungskämpfe um Freuds Aufmerksamkeit und handfeste Skandale, wenn etwa der ungarische Freud-Schüler Sándor Ferenczi regelmäßig Affären mit Patientinnen einging.
Emotionen waren es wiederum, die Kritiker auf den Plan riefen. Sie werfen bis heute dem Analytikerwesen ein unlauteres Herumstochern in fremden Herzen vor, während es selbst gepanzert in künstlicher Affektkontrolle quasi unangreifbar bleibt und damit allmächtig.
Mitte der 30er-Jahre war die Psychoanalyse in allen drei Metropolen zu einer Art Mode oder auch Manie geworden. Zuerst musste sie sich gegen den akademischen Betrieb behaupten und deshalb global ausdehnen. Ab 1933 dann wegen der Emigration einer "jüdischen Wissenschaft".
Zuletzt, weil die Theorie vom Unbewussten mit ihrem universalistischen Verständnis vom Menschen intellektuell so anschlussfähig war. Kosmopolitische Projekte wie Marxismus, Feminismus oder Antikolonialismus machten sich das "aufgeklärt-universalistische Selbst der Psychoanalyse" für die eigene Theoriebildung zueigen.
Uffa Jensen beschreibt die Analyse in der Einleitung als travelling culture. Seine Leser reisen mit. An bekannte Schauplätze – und auf kuriose Abwege.