Ukraine

"Auf der Krim ist kein Völkermord in Sicht"

Ludger Volmer im Gespräch mit Jörg Degenhardt |
Für die Behauptung Russlands, die russischsprachige Bevölkerung werde auf der Krim drangsaliert, gebe es keine Beweise, sagt Grünen-Politiker Ludger Volmer. Außerdem fordert er die Weiterentwicklung des Völkerrechts.
Jörg Degenhardt: Nein, es ist noch nicht vorbei: Die Krise in der Ukraine schwelt weiter trotz jüngster Telefongespräche zwischen Putin und Obama. Die Gefahr eines Krieges ist noch nicht vom Tisch, eine Lösung wird gesucht, mit der alle Beteiligten leben können.
Weltweit wird der Weg dahin genau verfolgt, sagt er doch einiges darüber aus, wie handlungsfähig die internationale Staatengemeinschaft noch ist und was das Völkerrecht taugt, wenn sich einzelne darüber hinwegsetzen können.
Darüber will ich sprechen mit Ludger Volmer, Staatsminister a.D. im Auswärtigen Amt und Dozent am Otto-Suhr-Institut für Außen- und Sicherheitspolitik der Freien Universität Berlin. Guten Morgen, Herr Volmer!
Ludger Volmer: Guten Morgen!
Degenhardt: Sie waren zu Zeiten von Rot-Grün der Stellvertreter von Joschka Fischer. Damals gab es den Krieg auf dem Balkan, 1999 erzwang die NATO gegen den Widerstand Belgrads sogar mit Bomben die Abspaltung des fast nur noch von Albanern bewohnten Kosovos von Serbien. Heute erklärt Putin, was die NATO mit dem Kosovo gedurft hätte, könne man Russland bezogen auf die Krim nicht verweigern. Was sagen Sie zu diesem Vergleich?
Volmer: Wir haben damals schon befürchtet, dass manche den Einmarsch im Kosovo oder die Militäraktion als Präzedenzfall empfinden könnten, um nun ihrerseits Interessen militärisch durchzusetzen. Dennoch: Dieser Vergleich ist völlig falsch, strukturell liegt das Problem ganz anders. Damals, als wir militärisch eingegriffen haben, drohte ein Völkermord. Das war keine Fiktion, sondern der damalige Machthaber in Belgrad, Milosevic, hatte bewiesen in Srebrenica, dass er willens und bereit war, Völkermorde zu begehen.
"Die Analogie ist eine bösartige Verdrehung der Umstände"
Es gab massenhaftes Flüchtlingselend auf dem Kosovo, und gleichwohl gab es intensivste zivile Bemühungen um zu deeskalieren und zu lösen. Es gab den großen Friedenskongress in Rambouillet, und erst, als der scheiterte und keine anderen Mittel mehr verfügbar waren, wurde militärisch eingegriffen. Heute auf der Krim ist kein Völkermord in Sicht, es ist eine Behauptung der Russen, dass die russischsprachige Bevölkerung drangsaliert würde, dafür gibt es nicht nur keine Beweise, sondern viele Gegenstimmen. Und man könnte diese These sogar abklären, indem man eine Menschenrechts-Beobachterkommission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dorthin entsendet, und dann würde man sehr schnell sehen, dass die Analogie, die die Russen hier versuchen zu ziehen, nichts anderes ist als eine bösartige Verdrehung der Umstände, um eine eigene völkerrechtswidrige Aktion zu legitimieren.
Degenhardt: Die Russen haben nun mittlerweile auf der Krim Tatsachen geschaffen, sie haben sich gewissermaßen, sagen einige, fremdes Territorium bereits einverleibt, es werden Konsequenzen diskutiert und gefordert. Die EU ist ganz vorsichtig, was Sanktionen angeht. Aber haben Sie Sorge, dass dieses Beispiel auf der Krim jetzt Schule machen könnte? Ist möglicherweise Moldawien das nächste Land?
Volmer: Ja, wir haben ja schon einige Beispiele davon erlebt, Südossetien, Abchasien. Russland betreibt eine Politik, indem es versucht, das, was es selber als nähere Nachbarschaft definiert hat, nun einzuverleiben in ein Imperium, was früher mal Sowjetunion hieß oder später Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Das Baltikum wird man wohl nicht im Visier haben, weil es ja mittlerweile der NATO angehört, aber Russland ist dabei, seinen Machtbereich zu arrondieren. Ob es genug ist nun mit der Krim, das wird man sehen.
Degenhardt: Es muss doch Konsequenzen geben. Die Staatengemeinschaft kann doch nicht dem Ganzen zusehen. Der UN-Sicherheitsrat tagt zwar, aber es passiert nichts. Das heißt doch: Das oberste Völkerrechtsgremium wird doch im Prinzip nicht mehr ernstgenommen.
"UNO und Sicherheitsrat funktionieren hier nicht"
Volmer: Das ist genau das Problem. Also wir haben eine Konstruktion in der internationalen Sicherheitspolitik, die ist so, in dieser Form entwickelt worden 1945 als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg, mit den fünf Vetomächten im Sicherheitsrat, die zugleich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs waren und dann auch die Atommächte wurden.
Die UNO und der Sicherheitsrat, die funktionieren so halbwegs, wenn es um Konflikte irgendwo in der Peripherie geht, in Drittweltländern, in Afrika oder sonst wo. Aber diese Konstruktion funktioniert eben nicht, wenn eine oder mehrere der beiden Vetomächte betroffen sind, weil die jede Einigung sofort verhindern können. Und wenn es dort keine Basis gibt für Verständigungsprozesse, für einen Verständigungsfrieden, dann ist die UNO quasi außen vor.
Degenhardt: Das heißt, es werden Kriege geführt ohne Mandat der UN - das haben die Amerikaner bereits gemacht gegen Saddam Hussein, die Russen im Kaukasus 2008. Man könnte auch etwas zugespitzt fragen: Hat das Völkerrecht in der bisherigen Form ausgedient?
Volmer: Das Völkerrecht hat nicht ausgedient, aber es hat Lücken. Es muss weiterentwickelt werden. Und da hat auch der Westen sich in der Vergangenheit, insbesondere die USA unter George Bush, nicht gerade positiv verhalten. Der Angriff etwa auf den Irak war in jeder Hinsicht illegal, illegitim, ineffektiv und hat eine sehr positive Diskussion über die Weiterentwicklung des Völkerrechtes eigentlich zerstört, denn nach dem Kosovo-Konflikt war auch die UNO der Meinung, man muss darüber reden, welche Rechte und Pflichten die internationale Gemeinschaft bekommt, um einzugreifen in dem Moment, wenn ein Staat seine Macht missbraucht, um einen Teil seines Volkes zu massakrieren.
Daraus wurde die Figur abgeleitet der sogenannten Schutzverpflichtung, entspricht ungefähr dem Nothilferecht in unserem Bürgerlichen Gesetzbuch. Diese Debatte entwickelte sich nach dem Kosovo, die UNO hat extra den Militärakt der NATO im Kosovo nicht verurteilt, obwohl die Russen dies damals gefordert haben, weil die UNO selber gemerkt hat: Hier gibt es eine Regelungslücke im Völkerrecht.
"Außenpolitik ist mehr, als nur die nationalen Interessen durchzusetzen"
Und diese Debatte wurde zerstört dadurch, dass die USA sich genau auf diese Schutzverantwortung beriefen, als sie Saddam Hussein und den Irak angegriffen haben. Das heißt, der Westen hat selber teilweise die Basis zerstört für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts, und nun kann sich in dieser etwas unklaren Lage Putin mit seiner Rabulistik versuchen zu behaupten.
Degenhardt: Sie sagten, das Völkerrecht müsse weiterentwickelt werden. Geht das überhaupt, wenn dem nationalstaatliche Interessen entgegenstehen wie jetzt zum Beispiel die russischen?
Volmer: Das Hauptproblem besteht darin, dass viele Staaten immer noch meinen, Außenpolitik bestünde darin, die eigenen nationalen Interessen möglichst konsequent zu verfolgen. So kann man aber die Welt, die moderne Welt heutzutage nicht mehr ordnen und nicht mehr steuern.
Wir brauchen eigentlich ein Umdenken in der Außenpolitik, weg vom Begriff des nationalen Interesses hin zum Begriff der internationalen Verantwortung. Man sollte also staatliches Handeln nicht daran messen, ob es geeignet ist, die eigenen nationalen Interessen umzusetzen, sondern einen Beitrag zu leisten im Sinne internationaler Verantwortung zur Lösung internationaler Probleme. Und dann werden... Das Ranking des Images, also des Ansehens wird sich dann ganz massiv ändern in der Welt, dann werden andere Länder höher angesehen als die Muskelprotze und alle die Machos, die sich heute als die Herren der Welt aufspielen.
Degenhardt: Wir brauchen ein Umdenken in der Außenpolitik, sagt Ludger Volmer, zu rot-grünen Zeiten Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Volmer, vielen Dank für das Gespräch!
Volmer: Gern!
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